„Die größte Gefahr in der Gefan­gen­schaft besteht darin, einen Teil seiner selbst zu verlieren“

Maksym Butkevych
Foto: ZMINA

Der ukrai­ni­sche Men­schen­rechts­ak­ti­vist Maksym But­ke­vych spricht in einem Inter­view mit dem ZMINA-Men­schen­rechts­zen­trum über den Dienst an vor­ders­ter Front, seine Gefan­gen­schaft und seine Genesung.

Datum: 15. Novem­ber 2024 

Inter­view: Liud­myla Tiah­ny­ryadno (ZMINA)

Über­set­zung: Jürgen Kräft­ner, Euro­päi­sches Bürger:innen Forum, Ukraine. Redak­tion: Yeli­za­veta Landenberger

Das gesamte Team des ZMINA-Men­schen­rechts­zen­trums hat auf dieses Gespräch gewar­tet, nachdem wir die erfreu­li­che Mit­tei­lung erhal­ten hatten, dass der Men­schen­rechts­ak­ti­vist, Mit­be­grün­der unserer Orga­ni­sa­tion, Jour­na­list und Kriegs­ge­fan­gene Maksym But­ke­vych wieder auf freiem Fuß ist. Er kam am 18. Oktober dieses Jahres beim ins­ge­samt 58. Kriegs­ge­fan­ge­nen­aus­tausch zwi­schen der Ukraine und Russ­land nach über zwei Jahren Haft frei.

ZMINA traf Maksym an einem Bahnhof zwi­schen zwei Phasen seiner Reha­bi­li­ta­tion, um mit ihm über seine Kriegs­teil­nahme an vor­ders­ter Front und seine Haft zu spre­chen – und auch darüber, wie die Reha­bi­li­ta­tion der Sol­da­ten nach ihrer Rück­kehr aus der Kriegs­ge­fan­gen­schaft funk­tio­niert und auf welche Schwie­rig­kei­ten sie dabei treffen, sich im zivilen Leben wieder zurechtzufinden.

Kein Schutz der Men­schen­rechte in der Ukraine bei einem Sieg Russlands

Maksym, du enga­gierst dich seit über 20 Jahren für die Ver­tei­di­gung der Men­schen­rechte und bist den ukrai­ni­schen Streit­kräf­ten bei­getre­ten, als die umfas­sende Inva­sion begann. Was hat dich als Men­schen­rechts­ak­ti­vist dazu bewogen, dein Arbeits­feld zu wech­seln und der Armee beizutreten?

Das ist eine sehr wich­tige Frage. Ich habe fest­ge­stellt, dass in der Zeit, in der ich weg war, in den Medien viel über mich gesagt und geschrie­ben wurde. Und in einigen Texten stand, dass ich Pazi­fist sei. Aber ich bin kein Pazi­fist. Zugleich bin ich wahr­lich kein Befür­wor­ter von Gewalt als Methode, und der Mili­tär­dienst beinhal­tet auf die eine oder andere Weise das Töten von Men­schen. Und das ist für mich defi­ni­tiv ein Problem und ein mora­li­sches und ethi­sches Dilemma.

Die Situa­tion, in der wir uns am 24. Februar 2022 befan­den, stellte uns vor die Wahl: ent­we­der unsere Frei­heit zer­stö­ren zu lassen oder zu kämpfen. Andern­falls wären wir gezwun­gen gewesen, unsere eigene Akti­vi­tät auf­zu­ge­ben, gezwun­gen, gehor­sam zu sein, zu essen, zu trinken, zu schla­fen, Angst zu haben und zu tun, was uns gesagt wird. Das wäre unsere Aus­sicht gewesen. Also mussten wir Wider­stand leisten, um unsere Frei­heit zu bewah­ren. Für mich ist das etwas von Natur aus Mensch­li­ches. Das ist es, was einen Men­schen wirk­lich mensch­lich macht – die Frei­heit, das Bewusst­sein der eigenen Frei­heit und der Sinn, den diese Frei­heit mit sich bringt.

Ich habe sehr wohl ver­stan­den, dass es im Falle eines Sieges der Russen keinen Schutz der Men­schen­rechte auf dem Ter­ri­to­rium der Ukraine mehr geben würde. Das wäre unmög­lich. Wir haben sehr lange für die Rechte gekämpft, die wir heute haben. Einiges ist uns gelun­gen, aber wenn die Russen auf dieses Ter­ri­to­rium kämen, würde alles zer­stört werden. Am Ende wären, ganz ego­is­tisch gespro­chen, viele Jahre meines Lebens, ja das Wich­tigste, was ich in den letzten Jahren getan habe, alle meine Errun­gen­schaf­ten, alles was wir erreicht haben, zer­stört worden.

Wie bist du in der Armee gelan­det, genauer im 210. sepa­ra­ten Son­der­ba­tail­lon „Ber­lingo“?

Ich habe als Student den Dienst an der uni­ver­si­tä­ren Mili­tär­ab­tei­lung absol­viert und wurde Offi­zier. In der Armee werden solche Absol­ven­ten „Jacken“ genannt, was bedeu­tet, dass sie zwar einen Offi­ziers­rang, aber keine Dienst‑, geschweige denn Kampf­erfah­rung haben.

Am Abend des 24. Februar suchte ich das Ein­be­ru­fungs­büro auf, um einer Einheit der Ter­ri­to­ri­al­ver­tei­di­gung bei­zu­tre­ten. Sie fragten mich nach meinem mili­tä­ri­schen Rang, und ich sagte, dass ich die Mili­tär­ab­tei­lung als Leut­nant zwar abge­schlos­sen hatte, mich aber an nichts erin­nern könne und auch kei­ner­lei Fähig­kei­ten besit­zen würde. Aber ich war bereit, eine Schau­fel in die Hand zu nehmen und wo nötig zu graben.

Unmit­tel­bar danach began­nen die Kämpfe in der Nähe von Kyjiw, die Russen waren bereits in den Außen­be­zir­ken. Ich hatte im Voraus einen Ruck­sack gepackt, ein paar Dinge und eine Rei­se­bi­bel gekauft, die ich bei mir tragen konnte, und war bereit zu dienen.

Übri­gens war während meines Auf­ent­halts in der Straf­ko­lo­nie mein Glaube eine der Säulen, die mir Halt gaben. Ich hatte früher nicht darüber gespro­chen, es war in erster Linie meine innere Ange­le­gen­heit. Ich akzep­tiere es nicht, wenn man ver­sucht, etwas auf­zu­drän­gen – auch nicht im reli­giö­sen Bereich. Gleich­zei­tig darf man Pre­di­gen nicht mit Auf­drän­gen ver­wech­seln. Viele Men­schen, auch meine Freunde und Freun­din­nen, kannten meine Ein­stel­lung zu Glau­bens­fra­gen nicht. Jetzt denke ich öfter darüber nach, denn es hat sich etwas ver­än­dert, sowohl bei mir als auch in der Welt.

Als wir gefan­gen genom­men wurden, war das eine Über­ra­schung für uns

Hast du das Gefühl, dass eine höhere Macht dir gehol­fen hat, die Gefan­gen­schaft zu über­le­ben? Oder war es deine innere Stärke?

Ich habe dieses Gefühl. Aber meines Erach­tens sind sowohl der Glaube als auch die innere Stärke mit­ein­an­der ver­knüpft. Ich habe ein Gefühl für den Sinn. Er ist untrenn­bar mit dem Sinn des Lebens, mit dem Sinn der Erlö­sung ver­bun­den. Ich habe das Gefühl – um es einfach aus­zu­drü­cken – dass alles aus einem bestimm­ten Grund geschieht.

Bei einem der Verhöre ver­such­ten sie, meine Face­book- und E‑Mail-Pass­wör­ter her­aus­zu­krie­gen. Zu diesem Zeit­punkt wusste ich nicht, dass mein Face­book-Konto zum Glück von meinen Freun­den deak­ti­viert worden war. Aber ich hatte ohnehin eine Zwei-Faktor-Authen­ti­fi­zie­rung, also sagte ich ihnen, dass sie sich nicht bei meinem Face­book-Konto anmel­den können, weil sie mein Telefon ver­lo­ren hatten. Ich fügte noch hinzu, dass das Pass­wort viel­leicht schon geän­dert worden war und ich ihnen das alte Pass­wort geben würde, und sie würden denken, dass ich sie täusche. Und dann würden sie ver­su­chen, das echte aus mir her­aus­zu­be­kom­men, und ich würde es nicht wissen. Sie fragten: „Wer hat es geän­dert?“ Ich ant­wor­tete: „Meine Freunde, denen ich die Pass­wör­ter hin­ter­las­sen habe.“

Ich habe die Pass­wör­ter meinen Freun­den gegeben, für den Fall, dass ich zum Bei­spiel „200“ [Anmer­kung der Redak­tion: „200“ und „300“ sind Aus­drü­cke des sowje­ti­schen Mili­tär­jar­gons, die wei­ter­hin sowohl in der Ukraine als auch in Russ­land ver­wen­det werden. Sie stehen für im Kampf getötet (200) bezie­hungs­weise ver­wun­det (300)] werde, damit sie auf meine Seite gehen und darüber schrei­ben können, meine Mailbox öffnen und eine auto­ma­ti­sche Antwort auf Mails ver­fas­sen können – so etwas wie „leider kann der Emp­fän­ger Ihren Brief nicht lesen, da er gestor­ben ist“. Es ist immer traurig, wenn jemand die Bei­träge von einer Person kom­men­tiert, die nicht mehr auf dieser Welt ist. Der Ermitt­ler schaute mich mit großen Augen an und fragte mich, ob ich im Voraus daran gedacht hätte, dass ich „200“ werden könnte. Ich sagte ihm, dass Krieg sei und wir in den Krieg gezogen sind. In der Tat gab es Situa­tio­nen, in denen ich „200“ hätte sein können. Und ich habe natür­lich darüber nach­ge­dacht. Wie jeder, der an die vor­derste Front beor­dert wird.

Du hast also die Mög­lich­keit gesehen, dass du im Krieg sterben könntest?

Ich glaube, dass jeder, der auf die „Null“-Linie geht, inner­lich – bewusst oder unbe­wusst – über­legt, was pas­siert, wenn er „300“ oder „200“ wird. Aber ich habe fast nie­man­den gesehen, der darüber nach­ge­dacht hat, was pas­siert, wenn er gefan­gen genom­men wird. Darauf waren wir nicht vor­be­rei­tet. Als wir dann gefan­gen genom­men wurden, war das eine Über­ra­schung für uns.

Wir erschaf­fen uns selbst, indem wir ver­schie­dene Ent­schei­dun­gen im Leben treffen. Die Ent­schei­dun­gen, die wir jetzt treffen, bestim­men, wer wir später sein werden. Später habe ich mit den Jungs im Gefäng­nis, sowohl in der Haft­an­stalt als auch in der Kolonie, viele Male darüber gespro­chen, was pas­siert ist und warum es pas­siert ist. Ich war für 20 Männer ver­ant­wort­lich. Ich war Zug­füh­rer im 210. sepa­ra­ten Spe­zi­al­ba­tail­lon „Ber­lingo“ der ukrai­ni­schen Land­streit­kräfte. Aber in der Gefan­gen­schaft sagten mir meine Mit­ge­fan­ge­nen regel­mä­ßig: Wir wissen nicht, was für ein Kom­man­dant du warst – ich weiß es selbst nicht, um ehrlich zu sein, nur meine Jungs können es mir sagen – aber du hättest besser eine Aufgabe bekom­men sollen, bei der du mit Infor­ma­tio­nen arbei­test oder Leuten hilfst. Quasi, dass das etwas ist, was ich offen­sicht­lich kann, und es wäre für uns alle nütz­li­cher gewesen als mein Auf­ent­halt in der Haft­an­stalt in Luhansk. Und über­haupt ist alles nütz­li­cher als in der Haft­an­stalt in Luhansk zu sitzen.

Obwohl ich sagen muss, dass ich diese Zeit nicht als ver­geu­det betrachte. Manch­mal waren die Jungs so depri­miert und sie dachten, ihre Zeit in der Gefan­gen­schaft sei ver­geu­det, einfach aus ihrem Leben gestri­chen. Aber ich hatte dieses Gefühl nicht. Und als ich durch­ging, was ich seit Beginn der Inva­sion falsch gemacht hatte, welche Ent­schei­dun­gen falsch waren, kam ich zu dem Schluss, dass es keine fal­schen Ent­schei­dun­gen gab. Es gibt Dinge, die ich in meinem Leben bereue, aber nicht bei dieser Reihe von Hand­lun­gen. Ich habe hier alles richtig gemacht.

Wie hast du erkannt, dass deine Zeit in der Gefan­gen­schaft für dich nicht umsonst war?

Das ist defi­ni­tiv eine Zeit des Ver­lusts. Es ist eine Zeit des Mangels und der Ent­beh­rung von etwas sehr Mensch­li­chem und sehr Per­sön­li­chem. Die größte Gefahr in der Gefan­gen­schaft besteht darin, einen Teil seiner selbst zu ver­lie­ren. Ich habe für mich ver­sucht zu ver­ste­hen, was ich daraus lernen kann, was mir später helfen könnte, ob ich anderen besser helfen kann.

In der Gefan­gen­schaft habe ich mehr über Men­schen, die Welt und natür­lich über Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen gelernt. Ich habe zum Bei­spiel zwei­ein­halb Jahre lang Feld­for­schung betrie­ben. Ich hatte mich vorher nie auf das Straf­voll­zugs­sys­tem und die Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen darin spe­zia­li­siert, aber in Gefan­gen­schaft lernte ich es sehr gut kennen und ver­stand die grund­le­gen­den Dinge tiefer und umfassender.

Ich hatte auch die Mög­lich­keit, meine Gedan­ken und Über­zeu­gun­gen zu ordnen, zu ver­ste­hen, wie sie zusam­men­hän­gen, wie fun­diert meine Posi­tio­nen sind; meine Ein­stel­lung zu bestimm­ten Dingen, ob ich genü­gend Gründe habe, zu denken, was ich denke und zu sagen, was ich sage. Und, was noch wich­ti­ger ist, welche Prio­ri­tä­ten ich bei meinen Akti­vi­tä­ten, in meinem Leben setzen sollte.

In der Gefan­gen­schaft habe ich ständig über die­je­ni­gen nach­ge­dacht, für die ich im zivilen Leben nie richtig Zeit hatte

Als Men­schen­recht­ler wurdest du von grund­le­gen­den Werten im Zusam­men­hang mit Men­schen­rech­ten geprägt. Haben sich diese im Gefäng­nis in irgend­ei­ner Weise verändert?

Ich glaube, meine Werte sind nur noch stärker gewor­den. In unserem Alltag sind wir ständig in einen Strom von Ereig­nis­sen, Infor­ma­tio­nen und Akti­vi­tä­ten ein­ge­bun­den, und manch­mal haben wir einfach keine Zeit, gewisse Dinge aus einer anderen Per­spek­tive zu betrach­ten – einer umfas­sen­de­ren oder höheren Perspektive.

Und in der Gefan­gen­schaft habe ich sehr schnell, buch­stäb­lich in den ersten Tagen, gedacht, dass ich jetzt die Gele­gen­heit dazu hätte. Ich ver­suchte, inner­lich einige Dinge zu tun, für die ich jah­re­lang keine Zeit gehabt hatte. In der Gefan­gen­schaft habe ich ständig über die­je­ni­gen nach­ge­dacht, für die ich im zivilen Leben nie richtig Zeit hatte. Und nicht nur das. Ich habe vor allem auch gebetet. Zudem war das wahr­schein­lich das Einzige, was ich für viele wun­der­bare Men­schen tun konnte.

Als ich nach andert­halb Jahren Gefan­gen­schaft die Mög­lich­keit erhielt, zu lesen, fing ich an, viele Bücher zu lesen, wie ich es früher getan hatte. Neben rus­si­schen und ukrai­ni­schen Büchern fielen mir in dieser Zeit auch ein paar eng­lisch­spra­chige in die Hände, und mit diesen Büchern und der Zusam­men­stel­lung von Texten in meinem Kopf ver­suchte ich, die Sprache so weit wie möglich zu behal­ten. Ich trug alle Bücher, die ich las, in mein Notiz­buch ein.

Was genau hast du gelesen? An welche Bücher erin­nerst du dich am besten?

Als ich in der Straf­ko­lo­nie war, gab es eine Biblio­thek, und man konnte dort die über­ra­schends­ten Dinge finden. Ich war begeis­tert von dem Buch „Theo­re­ti­sche und ange­wandte Lin­gu­is­tik“ von Pro­fes­sor Zveg­int­sev, das 1968 ver­öf­fent­licht wurde. Ich habe es andert­halb Mal gelesen. Ich ent­deckte viele ver­schie­dene Bücher – über Etho­lo­gie, Phi­lo­so­phie, Theo­lo­gie und Bel­le­tris­tik. Ich habe zum Bei­spiel Tschechow gelesen, den ich schon lange nicht mehr gelesen hatte. Ich habe vieles von dem, was ich früher einmal gelesen hatte, wieder gelesen, aber jetzt auf eine neue Art. Auch Bücher in ukrai­ni­scher Sprache, sowohl ukrai­ni­sche Werke als auch Über­set­zun­gen wich­ti­ger aus­län­di­scher Autoren, waren in dieser Biblio­thek zu finden – bis sie im Früh­jahr und Früh­som­mer dieses Jahres end­gül­tig ent­fernt wurden.

In der Unter­su­chungs­haft­an­stalt damals war das erste Buch, das diesen Namen ver­diente, das Neue Tes­ta­ment mit Psalmen, das durch einen selt­sa­men Zufall in unsere Zelle kam und das ich bestimmt 15 Mal las. Übri­gens haben wir manch­mal laut gelesen, weil nicht alle in der Zelle lesen konnten. Ein Kriegs­ge­fan­ge­ner war ver­wun­det und hatte fast sein Augen­licht ver­lo­ren, und ein anderer Gefan­ge­ner konnte es auf­grund seines Alters nicht mehr tun. Im All­ge­mei­nen habe ich während meiner Gefan­gen­schaft mehr als ein Dutzend Bücher gelesen, min­des­tens 50, glaube ich. Als ich in der Kolonie arbei­tete, waren die 40 Minuten vor der Nacht­ruhe meine goldene Zeit. Ich legte mich auf meine „Palme“ – ein Bett in der oberen, zweiten Reihe der Kojen – und las 40 Minuten lang, bevor das Licht ausging.

Im Gefäng­nis und in der Straf­ko­lo­nie haben wir auch Eng­lisch geübt. Ich habe es zum Mal in meinem Leben unter­rich­tet. Und einer meiner „Schüler“ machte recht gute Fort­schritte. Er bestand darauf, dass ich mir diese Methode paten­tie­ren lasse, denn im Gefäng­nis lernten wir die Sprache ohne Texte, ohne Stift, ohne Papier, nur durch das Aus­wen­dig­ler­nen von Wörtern nach einem bestimm­ten System und unter Ver­wen­dung der zur Ver­fü­gung ste­hen­den Hilfsmittel.

Wir hatten zum Bei­spiel einen Ziga­ret­ten­fil­ter, ein abge­brann­tes Streich­holz, ein Stück einer Ziga­ret­ten­schach­tel, und so habe ich die Struk­tur eines Satzes erklärt – wo das Hilfs­verb steht, usw. Wir lernten Eng­lisch anhand von Lied­tex­ten. Plötz­lich stellte ich fest, dass ich mich an völlig uner­war­tete Lied­texte erin­nerte, wenn auch nur an sehr wenige davon. Es zeigte sich, dass der Text eines berühm­ten eng­li­schen Liedes, an den ich mich erin­nerte, perfekt zum Lernen des Present Con­ti­nuous geeig­net war.

Maksym Butkevych
Foto: ZMINA

Kommen wir zurück zu deinem Dienst. An welche Aufgabe oder Schlacht kannst du dich am besten erinnern?

Es gab zwei Phasen meiner Betei­li­gung an Kämpfen: die erste in Rich­tung Irpin-Worsel in der Region Schy­to­myr, nahe der Schy­to­myr-Auto­bahn, und die zweite in der Ost­ukraine. Meine Einheit hatte die Aufgabe, die Natio­nal­garde in einem bestimm­ten Gebiet in der Region Kyjiw zu ver­stär­ken. Wir fuhren mit unseren Fahr­zeu­gen an den Kon­troll­punkt heran und sahen, dass es sich nicht um einen Kon­troll­punkt han­delte, sondern um die unmit­tel­bare Kampf­zone, wo ein paar hundert Meter ent­fernt Russen standen. So lan­de­ten wir an der Front in der Region Kyjiw.

Damals wurden am Ende der Straße, an der wir standen, eine Apo­theke, eine Filiale der Nowa Poschta [Anmer­kung der Redak­tion: der größte ukrai­ni­sche Paket­dienst­leis­ter] und Wohn­häu­ser durch rus­si­sches Pan­zer­feuer zer­stört. Dort lag die Leiche eines Zivi­lis­ten, der vor dem Beschuss weg­lau­fen wollte und es nicht geschafft hatte; sein Bein lag geson­dert herum. Nur wenige Minuten nach unserer Ankunft, noch bevor wir die Gra­nat­wer­fer aus­ge­packt hatten, fuhr ein Pan­zer­wa­gen mit hoher Geschwin­dig­keit von der rus­si­schen Seite heran, stellte sich uns gegen­über auf und begann, uns mit einem groß­ka­li­bri­gen Maschi­nen­ge­wehr zu beschie­ßen. Ich erin­nere mich sehr gut an diese Episode – den ersten direk­ten Kontakt. Ich erin­nere mich auch daran, wie wir bei der Befrei­ung unserer Sied­lun­gen in Mycha­j­liwka-Rubeschiwka ein­mar­schier­ten. Die Ein­hei­mi­schen begrüß­ten uns mit Tränen in den Augen, brach­ten uns Blumen, ein paar Dosen Toma­ten­saft – was immer sie nach einem Monat Besat­zung noch hatten. Kurzum, es war sehr ein­drück­lich. Man konnte spüren, wie die Men­schen auf uns gewar­tet hatten.

Das zweite Erleb­nis stand im Zusam­men­hang mit einer Reise in den Osten. Wir erhiel­ten den Befehl, unsere Ein­hei­ten zu ver­stär­ken, die die Ver­tei­di­gung im Donbas hielten. Das war eine ganz andere Erfah­rung, denn hier befan­den wir uns in der Steppe, wo einige unserer Waffen einfach unwirk­sam waren. Was zum Bei­spiel im urbanen Stra­ßen­kampf unser Vorteil war, wurde dort völlig nutzlos. Wir spiel­ten die Rolle von kon­ven­tio­nel­len Boden­trup­pen und führten die uns zuge­wie­se­nen Auf­ga­ben aus.

Uns wurde klar, dass wir fast voll­stän­dig vom Feind umzin­gelt waren

Kannst du uns sagen, wann und unter welchen Umstän­den du gefan­gen genom­men wurdest?

Wir erhiel­ten den Gefechts­be­fehl, uns in das Dorf Myrna Dolyna im Gebiet Luhansk zu begeben. In der Nähe des Dorfes gibt es Wälder und ein ziem­lich unweg­sa­mes Gelände – das heißt: keine Steppe, sondern Schluch­ten. Bei unserer Ankunft gerie­ten wir am Abend sofort unter schwe­ren Mör­ser­be­schuss. Das Feuer dauerte die ganze Nacht.

Am Morgen sah das Dorf ganz anders aus als noch am Abend. Es war nicht mehr viel davon übrig. Es gab eine Pause, und wir erhiel­ten den Befehl, Beob­ach­tungs­pos­ten entlang der Straße, die von Lys­sytschansk im Norden nach Solote im Süden führte, einzunehmen.

Es war eine stra­te­gisch wich­tige Straße für uns. Unsere Aufgabe war es, sie zu beob­ach­ten, und wenn es feind­li­che Kräfte gab, mussten wir sie melden. Ohne Befehl durften wir jedoch nicht in den Kampf ein­grei­fen. Während uns der Befehl über­mit­telt wurde, begann ein wei­te­rer Mör­ser­an­griff, und unter diesen Umstän­den begaben wir uns zu unserer Beobachtungsposition.

Irgend­wann began­nen die Pro­bleme mit der Kom­mu­ni­ka­tion. Die Funk­ge­räte, die wir hatten, waren nicht gut genug, es gab nicht genug davon, und offen­sicht­lich funk­tio­nierte die elek­tro­ni­sche Funk­stö­rung des Feindes. Außer­dem ging uns auf dem Weg zum Beob­ach­tungs­pos­ten schnell das Wasser aus, und es war ein heißer Juni. Inner­halb weniger Stunden ver­lo­ren wir jeg­li­che Kom­mu­ni­ka­tion. Selbst die Funk­ge­räte, die uns zur Ver­fü­gung gestellt wurden, hatten keinen Empfang mehr. Am Morgen bemerk­ten wir, dass eine große Anzahl von Leuten und feind­li­chen Fahr­zeu­gen in die benach­barte Sied­lung ein­ge­drun­gen war.

Als wir uns bereits in Rich­tung Myrna Dolyna beweg­ten, wurde uns klar, dass wir fast voll­stän­dig vom Feind umzin­gelt waren. Es war wie eine Art Flasche, in die wir durch den Hals ein­dran­gen, und um diese Flasche herum befand sich bereits ein vom Feind kon­trol­lier­tes Gebiet. Uns war bewusst, dass das nichts Gutes verhieß, aber wir hatten unsere Befehle und mussten sie aus­füh­ren. Später, beim Beob­ach­tungs­pos­ten, als wir die Mar­kie­run­gen auf den Fahr­zeu­gen sahen, wurde uns klar, dass es sich um den Feind han­delte. Zu diesem Zeit­punkt konnten wir den Befehl nicht mehr aus­füh­ren. Wir konnten nicht über feind­li­che Kräfte und Aus­rüs­tung berich­ten – es gab keine Kom­mu­ni­ka­tion, es gab keinen Befehl, in den Kampf ein­zu­grei­fen, und es machte keinen Sinn, wenn man bedenkt, wie wenige wir waren und wie viele Feinde es gab. Und es war offen­sicht­lich, dass wir uns zurück­zie­hen mussten.

Und dann meldete sich einer der Sol­da­ten der benach­bar­ten Einheit, der uns zum Beob­ach­tungs­pos­ten gebracht hatte. Er sagte, das ganze Gebiet sei umstellt, aber die Umzin­ge­lung sei noch nicht voll­stän­dig. Deshalb sollten wir ver­su­chen, anhand seiner Ori­en­tie­rungs­punkte zu gehen. Also gingen wir. Um ehrlich zu sein, hatten wir das Gefühl, dass etwas schief gehen würde, aber wir hatten keine Zeit, darüber nach­zu­den­ken – und wir hatten keine andere Wahl. Wir hatten mehrere Tage kaum geschla­fen, fast einen Tag lang kein Wasser gehabt, waren müde, und in meiner Einheit gab es Leute mit gesund­heit­li­chen Pro­ble­men. Und dieser Soldat feuerte eine Leucht­ra­kete ab, was sehr seltsam war, da wir fast ein­ge­kes­selt waren. Wir mussten über das Feld zu dem Wald­gür­tel rennen, aus dem das Leucht­si­gnal kam. Als wir ein paar Dutzend Meter ent­fernt waren, sagte er uns, dass es ihm leid tue, aber er sei seit gestern Abend in Gefan­gen­schaft, und wir seien jetzt im Visier der Russen – und wenn wir unsere Waffen nicht nie­der­leg­ten, würden sie uns einfach töten.

Was hast du in diesem Moment gefühlt?

Um uns herum war ein offenes Feld. Es gab keine Mög­lich­keit, sich zu ducken, sich zu ver­ste­cken oder weg­zu­lau­fen. Wir hatten keinen Kampf­auf­trag mehr, wir haben nie­man­den gedeckt und nichts ver­tei­digt. Da waren acht Männer, für die ich ver­ant­wort­lich war. Also gab ich den Befehl, unsere Waffen niederzulegen.

Der Kerl, der uns raus­ge­holt hat, saß mit uns in der glei­chen Zelle. Er wurde unter phy­si­schem Druck und mit Gewalt dazu gezwun­gen. Aber was noch wich­ti­ger war: Er glaubte, dass er uns das Leben geret­tet hatte, indem er uns zum Auf­ge­ben zwang – so sagten es ihm die Russen. Viel­leicht stimmte das ja, ich kann das nur schwer beurteilen.

Wie haben die Russen dich behandelt?

Sie nahmen uns sofort unsere Doku­mente, Tele­fone und einige Wert­sa­chen ab. Sie nahmen zum Bei­spiel meine kabel­lo­sen Kopf­hö­rer, von einem anderen die Uhr, von einem wei­te­ren noch etwas anderes ab. Einer der rus­si­schen Sol­da­ten fragte, wem die Kopf­hö­rer gehören. Ich ant­wor­tete, dass sie mir gehören. Er fragte, ob ich sie ihm geben würde.

Wenn man auf den Knien sitzt, die Hände gefes­selt sind und ein Maschi­nen­ge­wehr auf einen gerich­tet ist, gibt man grund­sätz­lich alles. Aber ich sagte nein. Er war sehr über­rascht, sogar ein wenig ver­wirrt. Ich sagte ihm, es sei ein Geschenk von einer mir nahe­ste­hen­den Person, und „Geschenke ver­schenkt man nicht“. Und er stimmte zu, aber er konnte nicht ver­ste­hen, was er jetzt tun sollte.

Offen­sicht­lich wollten sie ver­mei­den, dass her­aus­kommt, dass sie Dinge von Gefan­ge­nen stehlen. Ich sagte ihm, dass er es wahr­schein­lich als „Trophäe“ oder etwas Schö­ne­res bezeich­nen müsse, als es in Wirk­lich­keit war. Später, an einem anderen Ort, nahm ein anderer Soldat das, was übrig war, zum Bei­spiel eine neue, wenn auch billige chi­ne­si­sche tak­ti­sche Uhr. Er machte sich nicht die Mühe, zu argu­men­tie­ren – er nahm einfach alles mit. Einem anderen Sol­da­ten, der noch seine kugel­si­chere Weste hatte, wurde sie weg­ge­nom­men, mit der Auf­for­de­rung, den Vor­ge­setz­ten nichts davon zu erzäh­len. Wie wir ver­stan­den, hatten sie zu der Zeit noch schlech­tere. Sie zogen uns auch unsere teuren Schuhe aus – wir ver­brach­ten die nächs­ten Monate in Socken.

Wussten die Russen, wer du bist und was du im zivilen Leben gemacht hast? Hatten deine Men­schen­rechts- und jour­na­lis­ti­schen Akti­vi­tä­ten irgend­ei­nen Ein­fluss auf deine Zeit in der Gefangenschaft?

Nach ein paar Tagen im Gefan­ge­nen­la­ger begann man, mir beson­dere Auf­merk­sam­keit zu schen­ken. Aber während der gesam­ten Gefan­gen­schaft war die Haltung mir gegen­über ganz normal. Auf dem Weg zum Über­ga­be­ort fragten mich die Russen, wer von uns Offi­zier sei, und ich ant­wor­tete. Sie wollten ein Video davon machen, wie ich über unsere Vor­ge­setz­ten schimpfte. Ich habe mich gewei­gert, das zu tun. Ich sagte ihnen, dass sie mich natür­lich dazu zwingen könnten, aber es würde sicht­bar und klar sein, dass es unter phy­si­schem Zwang gesche­hen war.

Maksym Butkevych
Foto: Hro­madske Radio

Er zwang uns mit gefes­sel­ten Händen auf die Knie

Wohin wurdest du zuerst gebracht, als du gefan­gen genom­men wurdest?

Am Ende des Tages wurden wir in ein bau­fäl­li­ges Gebäude gebracht, wo wir die Nacht auf dem Beton­bo­den ver­brach­ten. Irgend­wann erschien ein rang­ho­her Offi­zier mit einer Sturm­haube, und alle gehorch­ten ihm. Er zwang uns mit gefes­sel­ten Händen auf die Knie und sprach mit uns, pro­vo­zierte die Jungs zu emo­tio­na­len Reak­tio­nen und beschimpfte uns, um seine angeb­li­che „Über­le­gen­heit“ zu demonstrieren.

Er fragte, wer von uns Frauen im Ausland habe, zum Bei­spiel in Polen, Deutsch­land oder der Türkei. Dann begann er, den Jungs detail­liert seine sexuell-patho­lo­gi­schen Fan­ta­sien darüber zu erzäh­len, was die dor­ti­gen Männer gerade mit ihren Frauen machten, ein­schließ­lich Details. Er beschrieb Bilder von erzwun­ge­nem Gruppen‑, Oral- und Analsex. Es war klar, dass dieser Mann sexuell-patho­lo­gi­sche Pro­bleme hatte. Er drohte uns, dass wir zu zehn bis 15 Jahren Haft ver­ur­teilt und in eine Kolonie für „sexu­elle Ver­gnü­gun­gen“ geschickt würden – und dass wir danach ohne unsere Vor­der­zähne in Kyjiw ankom­men würden. Mit einer Erklä­rung, weshalb ohne Vorderzähne.

Dann brach­ten sie uns Armee­ra­tio­nen und banden uns die Hände erst los, als wir mit vor­ge­hal­te­ner Waffe einer nach dem anderen zu einem durch­sich­ti­gen, oben abge­schnit­te­nen Plas­tik­fass gingen, das in der Ecke stand, um uns zu erleichtern.

Es ist erwäh­nens­wert, dass wir später ruhiger behan­delt wurden, ohne Ernied­ri­gung. Um ehrlich zu sein, habe ich ver­sucht, nicht zu pro­vo­zie­ren. Ich ent­schied mich sofort für fol­gen­des Ver­hal­ten: Ich habe nichts zu ver­ber­gen, aber ich sollte auch nicht so tun, als wäre ich jemand beson­de­res. Ich habe ver­sucht, die ris­kan­ten und pro­vo­ka­ti­ven Gesprä­che zu über­neh­men, damit die Jungs nicht darin ver­wi­ckelt würden.

Hast du oder haben deine Sol­da­ten Gewalt durch das rus­si­sche Militär erlebt?

Als später neue uni­for­mierte Sol­da­ten ein­tra­fen, brach­ten sie uns einen nach dem anderen in benach­barte Räume und befrag­ten uns über unseren Dienst und nahmen Videos von uns auf. Es war so etwas wie ein Verhör. Als einer der Sol­da­ten zum Verhör gebracht wurde, sagte er, dass er sich nicht an die Kampf­na­men seiner Kom­man­deure erin­nern könne. Also wurde er mehr­mals mit einem Stock geschla­gen. Ich sagte den Jungs sofort, dass wir, da wir keine gehei­men Infor­ma­tio­nen hätten, beim Verhör alles sagen müssten, um uns zu retten.

Sie schüch­ter­ten mich mit einer Grube im Hin­ter­hof ein. Sie sagten, sie könnten mich dorthin bringen und mir die­je­ni­gen zeigen, die „nicht wüssten, wie man sich benimmt“.

Es gab einen inter­es­san­ten Moment, als sie ein Video mit mir auf­nah­men. Einer von ihnen sagte zum anderen: „Sieh mal, er ist wirk­lich ein Jour­na­list, denn er hat gesagt, was er wollte, und nicht, was wir brau­chen.“ Später las uns der bereits erwähnte Offi­zier mit der Sturm­haube Auszüge aus Putins Bot­schaft vom, ich glaube, 22. Februar 2022 vor, in der er über die Ukraine spricht, und die­je­ni­gen von uns, auf die der Offi­zier zeigte, mussten diese Auszüge wort­wört­lich auf­sa­gen. Wenn jemand einen Fehler machte oder stot­terte, wurde ich mit einem Stock geschla­gen. Denn ich war der einzige Offi­zier, der Kom­man­dant, und mich per­sön­lich konnte dieser „Kenner der Putin­schen Geschichte“ nicht aus­ste­hen. Ich dachte, es sei besser, wenn ich von ihnen geschla­gen würde als meine Leute.

Dann wurden wir an einen anderen Ort gebracht und auf den Beton­bo­den gewor­fen. Dort nahmen sie uns die Augen­bin­den ab, banden uns die Hände los, und wir sahen, dass wir in einer Zelle waren. Dann brach­ten sie alte zer­ris­sene Matrat­zen und Hand­tü­cher. Auf einigen von ihnen war der Stempel des Luhans­ker Gefäng­nis­ses. So fanden wir heraus, wo wir waren. Ins­ge­samt ver­brachte ich ein Jahr und drei Monate in dieser Haft­an­stalt, bis Sep­tem­ber 2023.

Am 6. März 2023 ver­ur­teilte dich das Besat­zungs­ge­richt in der Region Luhansk zu 13 Jahren Gefäng­nis und beschul­digte dich der „grau­sa­men Behand­lung von Zivi­lis­ten und der Anwen­dung ver­bo­te­ner Metho­den im bewaff­ne­ten Kon­flikt“. Wie kam es zu dieser Anschuldigung?

Im Gefäng­nis von Luhansk wurden wir von Ange­hö­ri­gen ver­schie­de­ner Struk­tu­ren verhört: sowohl von Per­so­nen in Mili­tär­uni­form als auch in Zivil­klei­dung. Wir wurden über die Bewe­gun­gen unserer Einheit aus­ge­fragt, wo wir uns auf­hiel­ten und wie viele wir waren. Am 16. Juli wurde ich von zwei Per­so­nen verhört – von einem Mann in Zivil­klei­dung und einem anderen in einer Art inof­fi­zi­el­ler Tarn­uni­form. Einer der Ermitt­ler inter­es­sierte sich für die Akti­vi­tä­ten der Soros-Stif­tung in der Ukraine und wollte, dass ich einigen nament­lich nicht genann­ten „ange­se­he­nen inter­na­tio­na­len Medien“ ein Inter­view gebe, um darüber zu berich­ten. Ich sagte ihm, dass ich kein Inter­view geben wolle, aber wenn man mich dazu zwingen würde, könnte ich ihm sagen, was ich wüsste: dass der ukrai­ni­sche Zweig der Stif­tung Pro­jekte in den Berei­chen Dezen­tra­li­sie­rung, Kom­mu­nal­ver­wal­tung, Rechts­hilfe und wis­sen­schaft­li­che Ver­öf­fent­li­chun­gen unterstützt.

Ihm gefiel das ganze Gespräch nicht son­der­lich, und da hörte ich es zum ersten Mal: „Wir werden dich ins Gefäng­nis stecken.“ Dieses Ver­spre­chen wurde einen Monat später, am 13. August, konkret. Ich wurde zum Verhör gebracht, wo sich Uni­for­mierte mit ver­deck­ten Gesich­tern zu mir setzten, so dass ich nur den Boden sehen konnte. Es war unan­ge­nehm, sie brach­ten mich auf ver­schie­dene Weise aus dem Gleich­ge­wicht, schüch­ter­ten mich ein. Dann sagten sie mir, dass es drei Mög­lich­kei­ten gäbe: Die erste wäre, alles zu unter­schrei­ben, was sie mir gaben, ohne es zu lesen, und es wäre das Geständ­nis eines Kriegs­ver­bre­chens. Ich würde ver­ur­teilt und dann aus­ge­tauscht werden. Die zweite wäre, die Unter­schrift zu ver­wei­gern, und ich würde zu einer Tat­re­kon­struk­tion gebracht werden, wo ich angeb­lich ver­su­chen würde zu fliehen und getötet würde; und die dritte Mög­lich­keit wäre, ohne jeg­li­chen Aus­tausch für wer weiß wie lange im Gefäng­nis zu bleiben, oder besser gesagt, so lange, wie sie es wollten. Wenn ich also nicht koope­rie­ren und nichts unter­schrei­ben würde, wäre ich weder phy­sisch noch psy­chisch heil her­aus­kom­men. Sie sagten, dass man schon mit 45 Jahren sein Leben beenden könne. Wenn ich mich dafür ent­schei­den sollte, würden sie mich in den Hin­ter­hof bringen, mir eine Ziga­rette geben, ein Tele­fo­nat nach Hause und mich dann erschießen.

Einer der Ver­neh­mungs­be­am­ten fragte mich, ob ich leben wolle, und ich sagte ja, so Gott will. Er stieß sich an meiner Antwort und sagte: „Nun, wir sind keine Chris­ten, das betrifft uns nicht.“ Dann druck­ten sie den Ver­neh­mungs­be­richt aus, und hatten ver­wech­selt, wo ich „das Ver­bre­chen began­gen“ hatte. Später fand ich heraus, dass es darum ging, dass ich einen Gra­nat­wer­fer auf ein Wohn­haus abge­feu­ert haben soll, in dem sich Men­schen auf­hiel­ten, und dass dadurch zwei Frauen ver­letzt wurden. Auf jeden Fall, so sagten sie, sei es egal, was in den Doku­men­ten stehe, sie könnten mich auch ohne meine Zeu­gen­aus­sage ver­ur­tei­len. Sie sagten mir, wenn ich die Papiere schnell unter­schreibe, würden sie an den Staats­an­walt und dann an das Gericht geschickt, und ich könne im Oktober nach Hause gehen – ich würde aus­ge­tauscht werden.

Später, als sie meinen Fall abschlos­sen, brach­ten sie mich nach Sje­wjer­odo­nezk zu dem Haus, auf das ich angeb­lich geschos­sen hatte. Sie sagten mir, ich solle die Hand heben, auf ein bestimm­tes Fenster zeigen, machten ein Foto von mir; sagten mir, ich solle auf den Geschoss­kra­ter zeigen und mir die Adresse merken. Als ich fragte, worum es ging, sagten sie, das würde ich später her­aus­fin­den. Das Einzige, worauf ich damals bestand, soweit das in dieser Situa­tion über­haupt möglich war, war, dass ich gegen nie­man­den aus­sa­gen würde, nur gegen mich selbst, und dass der Fall ohne Leichen ablau­fen sollte.

Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich nicht die ganze Strafe absit­zen musste

Wie hast du auf die Ver­ur­tei­lung zu 13 Jahren Gefäng­nis reagiert?

Ich hatte das erwar­tet. Die Jungs in der Zelle und ich haben darüber nach­ge­dacht, wie viele Jahre ich bekom­men würde. Sie waren eher opti­mis­tisch. Ich rech­nete mit zwölf bis 15 Jahren, und das gleiche haben sie mir auch gegeben. Aber ich hoffte, dass es bald einen Aus­tausch geben würde, und dass ich aus­ge­tauscht würde. Ich wusste also auf jeden Fall, dass ich nicht so lange im Gefäng­nis sein würde. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich nicht die ganze Strafe absit­zen musste.

Bei einer der soge­nann­ten Ermitt­lungs­maß­nah­men sagte ein Beamter des Ermitt­lungs­ko­mi­tees der Rus­si­schen Föde­ra­tion, dass die ukrai­ni­sche Seite Russen wegen „ille­ga­len Über­schrei­tens der Staats­grenze durch eine orga­ni­sierte Gruppe von bewaff­ne­ten Per­so­nen mit dem Ziel, einen Teil des Ter­ri­to­ri­ums zuguns­ten eines anderen Staates abzu­tren­nen“ zu langen Haft­stra­fen ver­ur­teilt. Dafür und für Kriegs­ver­bre­chen würden lange Haft­stra­fen ver­hängt. Und deshalb, so sagten sie, müssten sie uns zu ähnlich langen Haft­stra­fen ver­ur­tei­len, damit ihre Armee­an­ge­hö­ri­gen aus­ge­tauscht werden könnten.

Maksym Butkevych
Foto: ZMINA

Kennst du das Schick­sal deiner Mit­strei­ter, mit denen du gefan­gen genom­men wurdest?

Zwei von ihnen wurden Ende 2022 aus­ge­tauscht, und einer ist leider später bei der Ver­tei­di­gung unseres Landes und unserer Frei­heit ums Leben gekom­men. Zwei weitere wurden dieses Jahr aus­ge­tauscht. Die übrigen befin­den sich wei­ter­hin in Gefan­gen­schaft. Keiner von ihnen ist ver­ur­teilt worden. Sie haben den Status von Kriegsgefangenen.

Was hat deiner Erfah­rung nach dazu bei­getra­gen, dass du die Gefan­gen­schaft über­lebt hast und nach Hause zurück­keh­ren konntest?

Ich hatte keine Zweifel daran, dass man an mich dachte, dass man alles tat, um mich zu befreien, und für mich betete. Ich habe ständig ver­sucht, meinen Geist zu beschäf­ti­gen. Ich ver­suchte, meine bis­he­ri­gen Erfah­run­gen zusam­men­zu­fas­sen, einige innere Zusam­men­hänge zwi­schen dem, woran ich glaube, wovon ich über­zeugt bin, und dem, was ich tue, herzustellen.

Ich ana­ly­sierte mein Leben und ver­suchte, es zu ver­ste­hen. Ich habe darüber nach­ge­dacht, wie ich die Dinge besser machen kann, habe an meinen Fehlern gear­bei­tet, habe den Dingen, die in meinem Leben wirk­lich wichtig sind, Prio­ri­tät ein­ge­räumt, habe ver­sucht, Eng­lisch und Ukrai­nisch nicht zu ver­ges­sen, habe Kolum­nen oder Reden in meinem Kopf geschrie­ben, sie mir selbst vor­ge­le­sen, Gedan­ken for­mu­liert und mich an Men­schen erin­nert, die ich in meinem Leben getrof­fen habe.

Du befin­dest dich derzeit in der Reha­bi­li­ta­ti­ons­phase nach der Gefan­gen­schaft. Wie ver­läuft die Reha­bi­li­ta­tion, aus welchen Teilen besteht sie und wie effek­tiv ist sie?

Das ist ein inter­es­san­ter Prozess. Um ehrlich zu sein, dachte ich, es würde schnel­ler und for­ma­ler ablau­fen. Der Reha­bi­li­ta­ti­ons­pro­zess kann in vier Arten von Akti­vi­tä­ten unter­teilt werden: die erste ist die medi­zi­ni­sche Reha­bi­li­ta­tion: die Unter­su­chung, die Dia­gnose  und das Ver­ständ­nis dessen, was eine Person aus der Gefan­gen­schaft in Bezug auf die Gesund­heit mit­ge­nom­men hat; die zweite ist psy­cho­lo­gisch: Psy­cho­lo­gen arbei­ten mit dir und ver­su­chen, dich in einen freie­ren Kontext zurück­zu­füh­ren; die dritte ist admi­nis­tra­tiv: sie steht im Zusam­men­hang mit der Wie­der­be­schaf­fung gestoh­le­ner Doku­mente und allen mög­li­chen admi­nis­tra­ti­ven Dingen; und die vierte ist natür­lich die Zusam­men­ar­beit mit den Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den und die Fest­stel­lung der Umstände der Gefan­gen­schaft. Sie ver­su­chen, diese vier Berei­che in einen relativ kurzen Zeit­rah­men zu pressen, so dass der Plan ziem­lich voll ist.

Ich ver­su­che her­aus­zu­fin­den, wo ich am nütz­lichs­ten sein werde

Was willst du nach der Reha­bi­li­ta­tion tun?

Ich habe noch Zeit, darüber nach­zu­den­ken. Nach der Gefan­gen­schaft und der Behand­lung hat man Anspruch auf 30 Tage Urlaub, um sich zu erholen. In dieser Zeit werde ich darüber nach­den­ken, was ich dem­nächst errei­chen möchte, oder besser gesagt, wie ich es besser und effi­zi­en­ter errei­chen kann. Ich ver­su­che her­aus­zu­fin­den, wo und in welchem Status ich am nütz­lichs­ten sein werde.

Ich werde die Ver­tei­di­gung der Men­schen­rechte nicht auf­ge­ben. Sie wird mich noch lange Zeit beglei­ten, wahr­schein­lich für den Rest meines Lebens. Sie ist wirk­lich ein fester Bestand­teil meines Lebens, also werde ich sie auf jeden Fall wei­ter­füh­ren. Natür­lich werde ich die Themen Zwangs­mi­gra­tion, Flücht­linge, Bin­nen­ver­trie­bene, Dis­kri­mi­nie­rung, Frem­den­feind­lich­keit und Hass nicht auf­ge­ben. Jetzt ist mir klar, dass der Analyse von Pro­pa­ganda und der Arbeit mit Infor­ma­tio­nen, kri­ti­schem Denken und der Wahr­neh­mung der Rea­li­tät mehr Auf­merk­sam­keit geschenkt werden sollte. Meine Prio­ri­tät in naher Zukunft wird jedoch die Befrei­ung unserer Sol­da­ten und Zivi­lis­ten aus der Gefan­gen­schaft sein.

Nach­satz von ZMINA

Maksym But­ke­vych ist seit fast 20 Jahren in der Men­schen­rechts­ar­beit tätig. Er war Koor­di­na­tor des No Borders Project, Mit­be­grün­der des Men­schen­rechts­zen­trums ZMINA und von Hro­madske Radio. Seit vielen Jahren gehört er zu den Orga­ni­sa­to­ren und Mode­ra­to­ren der Vor­füh­run­gen und Ver­an­stal­tun­gen des inter­na­tio­na­len Doku­men­tar­film­fes­ti­vals für Men­schen­rechte Docu­days UA.

Der Men­schen­rechts­ak­ti­vist hat vor Jour­na­lis­ten, Akti­vis­ten und Regie­rungs­ver­tre­tern in der Ukraine und anderen Ländern Vor­träge über Men­schen­rechte, Hate Speech und Flücht­linge gehal­ten. Er arbei­tete im Büro des Hohen Flücht­lings­kom­mis­sars der Ver­ein­ten Natio­nen in der Ukraine.

Nach dem Aus­bruch des Krieges schloss sich But­ke­vych im März 2022 den ukrai­ni­schen Streit­kräf­ten an und wurde im Juni des­sel­ben Jahres von Russ­land gefan­gen genommen.

Es wurde ein Straf­ver­fah­ren gegen Maksym But­ke­vych ein­ge­lei­tet. Am 6. März 2023 ver­ur­teilte ein ille­ga­les „Gericht“ im vor­über­ge­hend besetz­ten Teil der Region Luhansk den Men­schen­rechts­ak­ti­vis­ten und Mili­tär­of­fi­zier zu 13 Jahren Gefäng­nis, weil er in Sje­wjer­odo­nezk mit einem Gra­nat­wer­fer in den Eingang eines Wohn­hau­ses geschos­sen und dabei angeb­lich zwei Frauen ver­letzt haben soll.

Das Beru­fungs­ge­richt in Moskau bestä­tigte das Urteil, ent­schied jedoch, dass ein Teil der Zeit, in der er tat­säch­lich in Haft war – ab dem 19. August 2022 – auf seine Strafe ange­rech­net werden sollte.

Im März 2024 bestä­tigte der Oberste Gerichts­hof der Rus­si­schen Föde­ra­tion die 13-jährige Haft­strafe für den gefan­ge­nen Men­schen­rechts­ak­ti­vis­ten und Sol­da­ten. Bei der Gerichts­ver­hand­lung sagte er, er sei unter Andro­hung von Folter gezwun­gen worden, sich selbst zu belas­ten. Die rus­si­schen Richter wei­ger­ten sich, Beweise in die Pro­zess­akte auf­zu­neh­men, die belegen, dass But­ke­vych weder an dem im „Fall“ ange­ge­be­nen Tag noch an irgend­ei­nem anderen Tag des Krieges am Ort des angeb­li­chen Ver­bre­chens oder über­haupt in Sje­wjer­odo­nezk war. Die Aussage des Men­schen­rechts­ak­ti­vis­ten, dass er sich auf­grund von Ver­spre­chun­gen eines schnel­len Aus­tauschs und der Andro­hung von Folter selbst belas­tet habe, wurde nicht berücksichtigt.

Der Prozess gegen Maksym But­ke­vych wurde von ukrai­ni­schen Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen, Amnesty Inter­na­tio­nal, Human Rights Watch, Memo­rial,  PACE-Mit­glie­dern und anderen Orga­ni­sa­tio­nen verurteilt.

Die rus­si­sche Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion Memo­rial erkannte Maksym But­ke­vych als poli­ti­schen Gefan­ge­nen an.

Im Novem­ber 2022 wurde Maksym But­ke­vych mit dem tsche­chi­schen Preis für „Geschich­ten des Unrechts“ (Cena Příběhů bez­práví) geehrt: Sein Vater Olek­sandr nahm die Aus­zeich­nung in Prag für seinen Sohn ent­ge­gen. Im Jahr 2023 wurde Maksym But­ke­vych mit dem Anne Frank Award für Men­schen­würde und Tole­ranz der nie­der­län­di­schen Bot­schaft in den Ver­ei­nig­ten Staaten und mit dem natio­na­len Men­schen­rechts­preis der ukrai­ni­schen Platt­form Human Rights Agenda ausgezeichnet.

 

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