„Die größte Gefahr in der Gefangenschaft besteht darin, einen Teil seiner selbst zu verlieren“
Der ukrainische Menschenrechtsaktivist Maksym Butkevych spricht in einem Interview mit dem ZMINA-Menschenrechtszentrum über den Dienst an vorderster Front, seine Gefangenschaft und seine Genesung.
Datum: 15. November 2024
Interview: Liudmyla Tiahnyryadno (ZMINA)
Übersetzung: Jürgen Kräftner, Europäisches Bürger:innen Forum, Ukraine. Redaktion: Yelizaveta Landenberger
Das gesamte Team des ZMINA-Menschenrechtszentrums hat auf dieses Gespräch gewartet, nachdem wir die erfreuliche Mitteilung erhalten hatten, dass der Menschenrechtsaktivist, Mitbegründer unserer Organisation, Journalist und Kriegsgefangene Maksym Butkevych wieder auf freiem Fuß ist. Er kam am 18. Oktober dieses Jahres beim insgesamt 58. Kriegsgefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland nach über zwei Jahren Haft frei.
ZMINA traf Maksym an einem Bahnhof zwischen zwei Phasen seiner Rehabilitation, um mit ihm über seine Kriegsteilnahme an vorderster Front und seine Haft zu sprechen – und auch darüber, wie die Rehabilitation der Soldaten nach ihrer Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft funktioniert und auf welche Schwierigkeiten sie dabei treffen, sich im zivilen Leben wieder zurechtzufinden.
Kein Schutz der Menschenrechte in der Ukraine bei einem Sieg Russlands
Maksym, du engagierst dich seit über 20 Jahren für die Verteidigung der Menschenrechte und bist den ukrainischen Streitkräften beigetreten, als die umfassende Invasion begann. Was hat dich als Menschenrechtsaktivist dazu bewogen, dein Arbeitsfeld zu wechseln und der Armee beizutreten?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Ich habe festgestellt, dass in der Zeit, in der ich weg war, in den Medien viel über mich gesagt und geschrieben wurde. Und in einigen Texten stand, dass ich Pazifist sei. Aber ich bin kein Pazifist. Zugleich bin ich wahrlich kein Befürworter von Gewalt als Methode, und der Militärdienst beinhaltet auf die eine oder andere Weise das Töten von Menschen. Und das ist für mich definitiv ein Problem und ein moralisches und ethisches Dilemma.
Die Situation, in der wir uns am 24. Februar 2022 befanden, stellte uns vor die Wahl: entweder unsere Freiheit zerstören zu lassen oder zu kämpfen. Andernfalls wären wir gezwungen gewesen, unsere eigene Aktivität aufzugeben, gezwungen, gehorsam zu sein, zu essen, zu trinken, zu schlafen, Angst zu haben und zu tun, was uns gesagt wird. Das wäre unsere Aussicht gewesen. Also mussten wir Widerstand leisten, um unsere Freiheit zu bewahren. Für mich ist das etwas von Natur aus Menschliches. Das ist es, was einen Menschen wirklich menschlich macht – die Freiheit, das Bewusstsein der eigenen Freiheit und der Sinn, den diese Freiheit mit sich bringt.
Ich habe sehr wohl verstanden, dass es im Falle eines Sieges der Russen keinen Schutz der Menschenrechte auf dem Territorium der Ukraine mehr geben würde. Das wäre unmöglich. Wir haben sehr lange für die Rechte gekämpft, die wir heute haben. Einiges ist uns gelungen, aber wenn die Russen auf dieses Territorium kämen, würde alles zerstört werden. Am Ende wären, ganz egoistisch gesprochen, viele Jahre meines Lebens, ja das Wichtigste, was ich in den letzten Jahren getan habe, alle meine Errungenschaften, alles was wir erreicht haben, zerstört worden.
Wie bist du in der Armee gelandet, genauer im 210. separaten Sonderbataillon „Berlingo“?
Ich habe als Student den Dienst an der universitären Militärabteilung absolviert und wurde Offizier. In der Armee werden solche Absolventen „Jacken“ genannt, was bedeutet, dass sie zwar einen Offiziersrang, aber keine Dienst‑, geschweige denn Kampferfahrung haben.
Am Abend des 24. Februar suchte ich das Einberufungsbüro auf, um einer Einheit der Territorialverteidigung beizutreten. Sie fragten mich nach meinem militärischen Rang, und ich sagte, dass ich die Militärabteilung als Leutnant zwar abgeschlossen hatte, mich aber an nichts erinnern könne und auch keinerlei Fähigkeiten besitzen würde. Aber ich war bereit, eine Schaufel in die Hand zu nehmen und wo nötig zu graben.
Unmittelbar danach begannen die Kämpfe in der Nähe von Kyjiw, die Russen waren bereits in den Außenbezirken. Ich hatte im Voraus einen Rucksack gepackt, ein paar Dinge und eine Reisebibel gekauft, die ich bei mir tragen konnte, und war bereit zu dienen.
Übrigens war während meines Aufenthalts in der Strafkolonie mein Glaube eine der Säulen, die mir Halt gaben. Ich hatte früher nicht darüber gesprochen, es war in erster Linie meine innere Angelegenheit. Ich akzeptiere es nicht, wenn man versucht, etwas aufzudrängen – auch nicht im religiösen Bereich. Gleichzeitig darf man Predigen nicht mit Aufdrängen verwechseln. Viele Menschen, auch meine Freunde und Freundinnen, kannten meine Einstellung zu Glaubensfragen nicht. Jetzt denke ich öfter darüber nach, denn es hat sich etwas verändert, sowohl bei mir als auch in der Welt.
Als wir gefangen genommen wurden, war das eine Überraschung für uns
Hast du das Gefühl, dass eine höhere Macht dir geholfen hat, die Gefangenschaft zu überleben? Oder war es deine innere Stärke?
Ich habe dieses Gefühl. Aber meines Erachtens sind sowohl der Glaube als auch die innere Stärke miteinander verknüpft. Ich habe ein Gefühl für den Sinn. Er ist untrennbar mit dem Sinn des Lebens, mit dem Sinn der Erlösung verbunden. Ich habe das Gefühl – um es einfach auszudrücken – dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht.
Bei einem der Verhöre versuchten sie, meine Facebook- und E‑Mail-Passwörter herauszukriegen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass mein Facebook-Konto zum Glück von meinen Freunden deaktiviert worden war. Aber ich hatte ohnehin eine Zwei-Faktor-Authentifizierung, also sagte ich ihnen, dass sie sich nicht bei meinem Facebook-Konto anmelden können, weil sie mein Telefon verloren hatten. Ich fügte noch hinzu, dass das Passwort vielleicht schon geändert worden war und ich ihnen das alte Passwort geben würde, und sie würden denken, dass ich sie täusche. Und dann würden sie versuchen, das echte aus mir herauszubekommen, und ich würde es nicht wissen. Sie fragten: „Wer hat es geändert?“ Ich antwortete: „Meine Freunde, denen ich die Passwörter hinterlassen habe.“
Ich habe die Passwörter meinen Freunden gegeben, für den Fall, dass ich zum Beispiel „200“ [Anmerkung der Redaktion: „200“ und „300“ sind Ausdrücke des sowjetischen Militärjargons, die weiterhin sowohl in der Ukraine als auch in Russland verwendet werden. Sie stehen für im Kampf getötet (200) beziehungsweise verwundet (300)] werde, damit sie auf meine Seite gehen und darüber schreiben können, meine Mailbox öffnen und eine automatische Antwort auf Mails verfassen können – so etwas wie „leider kann der Empfänger Ihren Brief nicht lesen, da er gestorben ist“. Es ist immer traurig, wenn jemand die Beiträge von einer Person kommentiert, die nicht mehr auf dieser Welt ist. Der Ermittler schaute mich mit großen Augen an und fragte mich, ob ich im Voraus daran gedacht hätte, dass ich „200“ werden könnte. Ich sagte ihm, dass Krieg sei und wir in den Krieg gezogen sind. In der Tat gab es Situationen, in denen ich „200“ hätte sein können. Und ich habe natürlich darüber nachgedacht. Wie jeder, der an die vorderste Front beordert wird.
Du hast also die Möglichkeit gesehen, dass du im Krieg sterben könntest?
Ich glaube, dass jeder, der auf die „Null“-Linie geht, innerlich – bewusst oder unbewusst – überlegt, was passiert, wenn er „300“ oder „200“ wird. Aber ich habe fast niemanden gesehen, der darüber nachgedacht hat, was passiert, wenn er gefangen genommen wird. Darauf waren wir nicht vorbereitet. Als wir dann gefangen genommen wurden, war das eine Überraschung für uns.
Wir erschaffen uns selbst, indem wir verschiedene Entscheidungen im Leben treffen. Die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, bestimmen, wer wir später sein werden. Später habe ich mit den Jungs im Gefängnis, sowohl in der Haftanstalt als auch in der Kolonie, viele Male darüber gesprochen, was passiert ist und warum es passiert ist. Ich war für 20 Männer verantwortlich. Ich war Zugführer im 210. separaten Spezialbataillon „Berlingo“ der ukrainischen Landstreitkräfte. Aber in der Gefangenschaft sagten mir meine Mitgefangenen regelmäßig: Wir wissen nicht, was für ein Kommandant du warst – ich weiß es selbst nicht, um ehrlich zu sein, nur meine Jungs können es mir sagen – aber du hättest besser eine Aufgabe bekommen sollen, bei der du mit Informationen arbeitest oder Leuten hilfst. Quasi, dass das etwas ist, was ich offensichtlich kann, und es wäre für uns alle nützlicher gewesen als mein Aufenthalt in der Haftanstalt in Luhansk. Und überhaupt ist alles nützlicher als in der Haftanstalt in Luhansk zu sitzen.
Obwohl ich sagen muss, dass ich diese Zeit nicht als vergeudet betrachte. Manchmal waren die Jungs so deprimiert und sie dachten, ihre Zeit in der Gefangenschaft sei vergeudet, einfach aus ihrem Leben gestrichen. Aber ich hatte dieses Gefühl nicht. Und als ich durchging, was ich seit Beginn der Invasion falsch gemacht hatte, welche Entscheidungen falsch waren, kam ich zu dem Schluss, dass es keine falschen Entscheidungen gab. Es gibt Dinge, die ich in meinem Leben bereue, aber nicht bei dieser Reihe von Handlungen. Ich habe hier alles richtig gemacht.
Wie hast du erkannt, dass deine Zeit in der Gefangenschaft für dich nicht umsonst war?
Das ist definitiv eine Zeit des Verlusts. Es ist eine Zeit des Mangels und der Entbehrung von etwas sehr Menschlichem und sehr Persönlichem. Die größte Gefahr in der Gefangenschaft besteht darin, einen Teil seiner selbst zu verlieren. Ich habe für mich versucht zu verstehen, was ich daraus lernen kann, was mir später helfen könnte, ob ich anderen besser helfen kann.
In der Gefangenschaft habe ich mehr über Menschen, die Welt und natürlich über Menschenrechtsverletzungen gelernt. Ich habe zum Beispiel zweieinhalb Jahre lang Feldforschung betrieben. Ich hatte mich vorher nie auf das Strafvollzugssystem und die Menschenrechtsverletzungen darin spezialisiert, aber in Gefangenschaft lernte ich es sehr gut kennen und verstand die grundlegenden Dinge tiefer und umfassender.
Ich hatte auch die Möglichkeit, meine Gedanken und Überzeugungen zu ordnen, zu verstehen, wie sie zusammenhängen, wie fundiert meine Positionen sind; meine Einstellung zu bestimmten Dingen, ob ich genügend Gründe habe, zu denken, was ich denke und zu sagen, was ich sage. Und, was noch wichtiger ist, welche Prioritäten ich bei meinen Aktivitäten, in meinem Leben setzen sollte.
In der Gefangenschaft habe ich ständig über diejenigen nachgedacht, für die ich im zivilen Leben nie richtig Zeit hatte
Als Menschenrechtler wurdest du von grundlegenden Werten im Zusammenhang mit Menschenrechten geprägt. Haben sich diese im Gefängnis in irgendeiner Weise verändert?
Ich glaube, meine Werte sind nur noch stärker geworden. In unserem Alltag sind wir ständig in einen Strom von Ereignissen, Informationen und Aktivitäten eingebunden, und manchmal haben wir einfach keine Zeit, gewisse Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten – einer umfassenderen oder höheren Perspektive.
Und in der Gefangenschaft habe ich sehr schnell, buchstäblich in den ersten Tagen, gedacht, dass ich jetzt die Gelegenheit dazu hätte. Ich versuchte, innerlich einige Dinge zu tun, für die ich jahrelang keine Zeit gehabt hatte. In der Gefangenschaft habe ich ständig über diejenigen nachgedacht, für die ich im zivilen Leben nie richtig Zeit hatte. Und nicht nur das. Ich habe vor allem auch gebetet. Zudem war das wahrscheinlich das Einzige, was ich für viele wunderbare Menschen tun konnte.
Als ich nach anderthalb Jahren Gefangenschaft die Möglichkeit erhielt, zu lesen, fing ich an, viele Bücher zu lesen, wie ich es früher getan hatte. Neben russischen und ukrainischen Büchern fielen mir in dieser Zeit auch ein paar englischsprachige in die Hände, und mit diesen Büchern und der Zusammenstellung von Texten in meinem Kopf versuchte ich, die Sprache so weit wie möglich zu behalten. Ich trug alle Bücher, die ich las, in mein Notizbuch ein.
Was genau hast du gelesen? An welche Bücher erinnerst du dich am besten?
Als ich in der Strafkolonie war, gab es eine Bibliothek, und man konnte dort die überraschendsten Dinge finden. Ich war begeistert von dem Buch „Theoretische und angewandte Linguistik“ von Professor Zvegintsev, das 1968 veröffentlicht wurde. Ich habe es anderthalb Mal gelesen. Ich entdeckte viele verschiedene Bücher – über Ethologie, Philosophie, Theologie und Belletristik. Ich habe zum Beispiel Tschechow gelesen, den ich schon lange nicht mehr gelesen hatte. Ich habe vieles von dem, was ich früher einmal gelesen hatte, wieder gelesen, aber jetzt auf eine neue Art. Auch Bücher in ukrainischer Sprache, sowohl ukrainische Werke als auch Übersetzungen wichtiger ausländischer Autoren, waren in dieser Bibliothek zu finden – bis sie im Frühjahr und Frühsommer dieses Jahres endgültig entfernt wurden.
In der Untersuchungshaftanstalt damals war das erste Buch, das diesen Namen verdiente, das Neue Testament mit Psalmen, das durch einen seltsamen Zufall in unsere Zelle kam und das ich bestimmt 15 Mal las. Übrigens haben wir manchmal laut gelesen, weil nicht alle in der Zelle lesen konnten. Ein Kriegsgefangener war verwundet und hatte fast sein Augenlicht verloren, und ein anderer Gefangener konnte es aufgrund seines Alters nicht mehr tun. Im Allgemeinen habe ich während meiner Gefangenschaft mehr als ein Dutzend Bücher gelesen, mindestens 50, glaube ich. Als ich in der Kolonie arbeitete, waren die 40 Minuten vor der Nachtruhe meine goldene Zeit. Ich legte mich auf meine „Palme“ – ein Bett in der oberen, zweiten Reihe der Kojen – und las 40 Minuten lang, bevor das Licht ausging.
Im Gefängnis und in der Strafkolonie haben wir auch Englisch geübt. Ich habe es zum Mal in meinem Leben unterrichtet. Und einer meiner „Schüler“ machte recht gute Fortschritte. Er bestand darauf, dass ich mir diese Methode patentieren lasse, denn im Gefängnis lernten wir die Sprache ohne Texte, ohne Stift, ohne Papier, nur durch das Auswendiglernen von Wörtern nach einem bestimmten System und unter Verwendung der zur Verfügung stehenden Hilfsmittel.
Wir hatten zum Beispiel einen Zigarettenfilter, ein abgebranntes Streichholz, ein Stück einer Zigarettenschachtel, und so habe ich die Struktur eines Satzes erklärt – wo das Hilfsverb steht, usw. Wir lernten Englisch anhand von Liedtexten. Plötzlich stellte ich fest, dass ich mich an völlig unerwartete Liedtexte erinnerte, wenn auch nur an sehr wenige davon. Es zeigte sich, dass der Text eines berühmten englischen Liedes, an den ich mich erinnerte, perfekt zum Lernen des Present Continuous geeignet war.
Kommen wir zurück zu deinem Dienst. An welche Aufgabe oder Schlacht kannst du dich am besten erinnern?
Es gab zwei Phasen meiner Beteiligung an Kämpfen: die erste in Richtung Irpin-Worsel in der Region Schytomyr, nahe der Schytomyr-Autobahn, und die zweite in der Ostukraine. Meine Einheit hatte die Aufgabe, die Nationalgarde in einem bestimmten Gebiet in der Region Kyjiw zu verstärken. Wir fuhren mit unseren Fahrzeugen an den Kontrollpunkt heran und sahen, dass es sich nicht um einen Kontrollpunkt handelte, sondern um die unmittelbare Kampfzone, wo ein paar hundert Meter entfernt Russen standen. So landeten wir an der Front in der Region Kyjiw.
Damals wurden am Ende der Straße, an der wir standen, eine Apotheke, eine Filiale der Nowa Poschta [Anmerkung der Redaktion: der größte ukrainische Paketdienstleister] und Wohnhäuser durch russisches Panzerfeuer zerstört. Dort lag die Leiche eines Zivilisten, der vor dem Beschuss weglaufen wollte und es nicht geschafft hatte; sein Bein lag gesondert herum. Nur wenige Minuten nach unserer Ankunft, noch bevor wir die Granatwerfer ausgepackt hatten, fuhr ein Panzerwagen mit hoher Geschwindigkeit von der russischen Seite heran, stellte sich uns gegenüber auf und begann, uns mit einem großkalibrigen Maschinengewehr zu beschießen. Ich erinnere mich sehr gut an diese Episode – den ersten direkten Kontakt. Ich erinnere mich auch daran, wie wir bei der Befreiung unserer Siedlungen in Mychajliwka-Rubeschiwka einmarschierten. Die Einheimischen begrüßten uns mit Tränen in den Augen, brachten uns Blumen, ein paar Dosen Tomatensaft – was immer sie nach einem Monat Besatzung noch hatten. Kurzum, es war sehr eindrücklich. Man konnte spüren, wie die Menschen auf uns gewartet hatten.
Das zweite Erlebnis stand im Zusammenhang mit einer Reise in den Osten. Wir erhielten den Befehl, unsere Einheiten zu verstärken, die die Verteidigung im Donbas hielten. Das war eine ganz andere Erfahrung, denn hier befanden wir uns in der Steppe, wo einige unserer Waffen einfach unwirksam waren. Was zum Beispiel im urbanen Straßenkampf unser Vorteil war, wurde dort völlig nutzlos. Wir spielten die Rolle von konventionellen Bodentruppen und führten die uns zugewiesenen Aufgaben aus.
Uns wurde klar, dass wir fast vollständig vom Feind umzingelt waren
Kannst du uns sagen, wann und unter welchen Umständen du gefangen genommen wurdest?
Wir erhielten den Gefechtsbefehl, uns in das Dorf Myrna Dolyna im Gebiet Luhansk zu begeben. In der Nähe des Dorfes gibt es Wälder und ein ziemlich unwegsames Gelände – das heißt: keine Steppe, sondern Schluchten. Bei unserer Ankunft gerieten wir am Abend sofort unter schweren Mörserbeschuss. Das Feuer dauerte die ganze Nacht.
Am Morgen sah das Dorf ganz anders aus als noch am Abend. Es war nicht mehr viel davon übrig. Es gab eine Pause, und wir erhielten den Befehl, Beobachtungsposten entlang der Straße, die von Lyssytschansk im Norden nach Solote im Süden führte, einzunehmen.
Es war eine strategisch wichtige Straße für uns. Unsere Aufgabe war es, sie zu beobachten, und wenn es feindliche Kräfte gab, mussten wir sie melden. Ohne Befehl durften wir jedoch nicht in den Kampf eingreifen. Während uns der Befehl übermittelt wurde, begann ein weiterer Mörserangriff, und unter diesen Umständen begaben wir uns zu unserer Beobachtungsposition.
Irgendwann begannen die Probleme mit der Kommunikation. Die Funkgeräte, die wir hatten, waren nicht gut genug, es gab nicht genug davon, und offensichtlich funktionierte die elektronische Funkstörung des Feindes. Außerdem ging uns auf dem Weg zum Beobachtungsposten schnell das Wasser aus, und es war ein heißer Juni. Innerhalb weniger Stunden verloren wir jegliche Kommunikation. Selbst die Funkgeräte, die uns zur Verfügung gestellt wurden, hatten keinen Empfang mehr. Am Morgen bemerkten wir, dass eine große Anzahl von Leuten und feindlichen Fahrzeugen in die benachbarte Siedlung eingedrungen war.
Als wir uns bereits in Richtung Myrna Dolyna bewegten, wurde uns klar, dass wir fast vollständig vom Feind umzingelt waren. Es war wie eine Art Flasche, in die wir durch den Hals eindrangen, und um diese Flasche herum befand sich bereits ein vom Feind kontrolliertes Gebiet. Uns war bewusst, dass das nichts Gutes verhieß, aber wir hatten unsere Befehle und mussten sie ausführen. Später, beim Beobachtungsposten, als wir die Markierungen auf den Fahrzeugen sahen, wurde uns klar, dass es sich um den Feind handelte. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir den Befehl nicht mehr ausführen. Wir konnten nicht über feindliche Kräfte und Ausrüstung berichten – es gab keine Kommunikation, es gab keinen Befehl, in den Kampf einzugreifen, und es machte keinen Sinn, wenn man bedenkt, wie wenige wir waren und wie viele Feinde es gab. Und es war offensichtlich, dass wir uns zurückziehen mussten.
Und dann meldete sich einer der Soldaten der benachbarten Einheit, der uns zum Beobachtungsposten gebracht hatte. Er sagte, das ganze Gebiet sei umstellt, aber die Umzingelung sei noch nicht vollständig. Deshalb sollten wir versuchen, anhand seiner Orientierungspunkte zu gehen. Also gingen wir. Um ehrlich zu sein, hatten wir das Gefühl, dass etwas schief gehen würde, aber wir hatten keine Zeit, darüber nachzudenken – und wir hatten keine andere Wahl. Wir hatten mehrere Tage kaum geschlafen, fast einen Tag lang kein Wasser gehabt, waren müde, und in meiner Einheit gab es Leute mit gesundheitlichen Problemen. Und dieser Soldat feuerte eine Leuchtrakete ab, was sehr seltsam war, da wir fast eingekesselt waren. Wir mussten über das Feld zu dem Waldgürtel rennen, aus dem das Leuchtsignal kam. Als wir ein paar Dutzend Meter entfernt waren, sagte er uns, dass es ihm leid tue, aber er sei seit gestern Abend in Gefangenschaft, und wir seien jetzt im Visier der Russen – und wenn wir unsere Waffen nicht niederlegten, würden sie uns einfach töten.
Was hast du in diesem Moment gefühlt?
Um uns herum war ein offenes Feld. Es gab keine Möglichkeit, sich zu ducken, sich zu verstecken oder wegzulaufen. Wir hatten keinen Kampfauftrag mehr, wir haben niemanden gedeckt und nichts verteidigt. Da waren acht Männer, für die ich verantwortlich war. Also gab ich den Befehl, unsere Waffen niederzulegen.
Der Kerl, der uns rausgeholt hat, saß mit uns in der gleichen Zelle. Er wurde unter physischem Druck und mit Gewalt dazu gezwungen. Aber was noch wichtiger war: Er glaubte, dass er uns das Leben gerettet hatte, indem er uns zum Aufgeben zwang – so sagten es ihm die Russen. Vielleicht stimmte das ja, ich kann das nur schwer beurteilen.
Wie haben die Russen dich behandelt?
Sie nahmen uns sofort unsere Dokumente, Telefone und einige Wertsachen ab. Sie nahmen zum Beispiel meine kabellosen Kopfhörer, von einem anderen die Uhr, von einem weiteren noch etwas anderes ab. Einer der russischen Soldaten fragte, wem die Kopfhörer gehören. Ich antwortete, dass sie mir gehören. Er fragte, ob ich sie ihm geben würde.
Wenn man auf den Knien sitzt, die Hände gefesselt sind und ein Maschinengewehr auf einen gerichtet ist, gibt man grundsätzlich alles. Aber ich sagte nein. Er war sehr überrascht, sogar ein wenig verwirrt. Ich sagte ihm, es sei ein Geschenk von einer mir nahestehenden Person, und „Geschenke verschenkt man nicht“. Und er stimmte zu, aber er konnte nicht verstehen, was er jetzt tun sollte.
Offensichtlich wollten sie vermeiden, dass herauskommt, dass sie Dinge von Gefangenen stehlen. Ich sagte ihm, dass er es wahrscheinlich als „Trophäe“ oder etwas Schöneres bezeichnen müsse, als es in Wirklichkeit war. Später, an einem anderen Ort, nahm ein anderer Soldat das, was übrig war, zum Beispiel eine neue, wenn auch billige chinesische taktische Uhr. Er machte sich nicht die Mühe, zu argumentieren – er nahm einfach alles mit. Einem anderen Soldaten, der noch seine kugelsichere Weste hatte, wurde sie weggenommen, mit der Aufforderung, den Vorgesetzten nichts davon zu erzählen. Wie wir verstanden, hatten sie zu der Zeit noch schlechtere. Sie zogen uns auch unsere teuren Schuhe aus – wir verbrachten die nächsten Monate in Socken.
Wussten die Russen, wer du bist und was du im zivilen Leben gemacht hast? Hatten deine Menschenrechts- und journalistischen Aktivitäten irgendeinen Einfluss auf deine Zeit in der Gefangenschaft?
Nach ein paar Tagen im Gefangenenlager begann man, mir besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Aber während der gesamten Gefangenschaft war die Haltung mir gegenüber ganz normal. Auf dem Weg zum Übergabeort fragten mich die Russen, wer von uns Offizier sei, und ich antwortete. Sie wollten ein Video davon machen, wie ich über unsere Vorgesetzten schimpfte. Ich habe mich geweigert, das zu tun. Ich sagte ihnen, dass sie mich natürlich dazu zwingen könnten, aber es würde sichtbar und klar sein, dass es unter physischem Zwang geschehen war.
Er zwang uns mit gefesselten Händen auf die Knie
Wohin wurdest du zuerst gebracht, als du gefangen genommen wurdest?
Am Ende des Tages wurden wir in ein baufälliges Gebäude gebracht, wo wir die Nacht auf dem Betonboden verbrachten. Irgendwann erschien ein ranghoher Offizier mit einer Sturmhaube, und alle gehorchten ihm. Er zwang uns mit gefesselten Händen auf die Knie und sprach mit uns, provozierte die Jungs zu emotionalen Reaktionen und beschimpfte uns, um seine angebliche „Überlegenheit“ zu demonstrieren.
Er fragte, wer von uns Frauen im Ausland habe, zum Beispiel in Polen, Deutschland oder der Türkei. Dann begann er, den Jungs detailliert seine sexuell-pathologischen Fantasien darüber zu erzählen, was die dortigen Männer gerade mit ihren Frauen machten, einschließlich Details. Er beschrieb Bilder von erzwungenem Gruppen‑, Oral- und Analsex. Es war klar, dass dieser Mann sexuell-pathologische Probleme hatte. Er drohte uns, dass wir zu zehn bis 15 Jahren Haft verurteilt und in eine Kolonie für „sexuelle Vergnügungen“ geschickt würden – und dass wir danach ohne unsere Vorderzähne in Kyjiw ankommen würden. Mit einer Erklärung, weshalb ohne Vorderzähne.
Dann brachten sie uns Armeerationen und banden uns die Hände erst los, als wir mit vorgehaltener Waffe einer nach dem anderen zu einem durchsichtigen, oben abgeschnittenen Plastikfass gingen, das in der Ecke stand, um uns zu erleichtern.
Es ist erwähnenswert, dass wir später ruhiger behandelt wurden, ohne Erniedrigung. Um ehrlich zu sein, habe ich versucht, nicht zu provozieren. Ich entschied mich sofort für folgendes Verhalten: Ich habe nichts zu verbergen, aber ich sollte auch nicht so tun, als wäre ich jemand besonderes. Ich habe versucht, die riskanten und provokativen Gespräche zu übernehmen, damit die Jungs nicht darin verwickelt würden.
Hast du oder haben deine Soldaten Gewalt durch das russische Militär erlebt?
Als später neue uniformierte Soldaten eintrafen, brachten sie uns einen nach dem anderen in benachbarte Räume und befragten uns über unseren Dienst und nahmen Videos von uns auf. Es war so etwas wie ein Verhör. Als einer der Soldaten zum Verhör gebracht wurde, sagte er, dass er sich nicht an die Kampfnamen seiner Kommandeure erinnern könne. Also wurde er mehrmals mit einem Stock geschlagen. Ich sagte den Jungs sofort, dass wir, da wir keine geheimen Informationen hätten, beim Verhör alles sagen müssten, um uns zu retten.
Sie schüchterten mich mit einer Grube im Hinterhof ein. Sie sagten, sie könnten mich dorthin bringen und mir diejenigen zeigen, die „nicht wüssten, wie man sich benimmt“.
Es gab einen interessanten Moment, als sie ein Video mit mir aufnahmen. Einer von ihnen sagte zum anderen: „Sieh mal, er ist wirklich ein Journalist, denn er hat gesagt, was er wollte, und nicht, was wir brauchen.“ Später las uns der bereits erwähnte Offizier mit der Sturmhaube Auszüge aus Putins Botschaft vom, ich glaube, 22. Februar 2022 vor, in der er über die Ukraine spricht, und diejenigen von uns, auf die der Offizier zeigte, mussten diese Auszüge wortwörtlich aufsagen. Wenn jemand einen Fehler machte oder stotterte, wurde ich mit einem Stock geschlagen. Denn ich war der einzige Offizier, der Kommandant, und mich persönlich konnte dieser „Kenner der Putinschen Geschichte“ nicht ausstehen. Ich dachte, es sei besser, wenn ich von ihnen geschlagen würde als meine Leute.
Dann wurden wir an einen anderen Ort gebracht und auf den Betonboden geworfen. Dort nahmen sie uns die Augenbinden ab, banden uns die Hände los, und wir sahen, dass wir in einer Zelle waren. Dann brachten sie alte zerrissene Matratzen und Handtücher. Auf einigen von ihnen war der Stempel des Luhansker Gefängnisses. So fanden wir heraus, wo wir waren. Insgesamt verbrachte ich ein Jahr und drei Monate in dieser Haftanstalt, bis September 2023.
Am 6. März 2023 verurteilte dich das Besatzungsgericht in der Region Luhansk zu 13 Jahren Gefängnis und beschuldigte dich der „grausamen Behandlung von Zivilisten und der Anwendung verbotener Methoden im bewaffneten Konflikt“. Wie kam es zu dieser Anschuldigung?
Im Gefängnis von Luhansk wurden wir von Angehörigen verschiedener Strukturen verhört: sowohl von Personen in Militäruniform als auch in Zivilkleidung. Wir wurden über die Bewegungen unserer Einheit ausgefragt, wo wir uns aufhielten und wie viele wir waren. Am 16. Juli wurde ich von zwei Personen verhört – von einem Mann in Zivilkleidung und einem anderen in einer Art inoffizieller Tarnuniform. Einer der Ermittler interessierte sich für die Aktivitäten der Soros-Stiftung in der Ukraine und wollte, dass ich einigen namentlich nicht genannten „angesehenen internationalen Medien“ ein Interview gebe, um darüber zu berichten. Ich sagte ihm, dass ich kein Interview geben wolle, aber wenn man mich dazu zwingen würde, könnte ich ihm sagen, was ich wüsste: dass der ukrainische Zweig der Stiftung Projekte in den Bereichen Dezentralisierung, Kommunalverwaltung, Rechtshilfe und wissenschaftliche Veröffentlichungen unterstützt.
Ihm gefiel das ganze Gespräch nicht sonderlich, und da hörte ich es zum ersten Mal: „Wir werden dich ins Gefängnis stecken.“ Dieses Versprechen wurde einen Monat später, am 13. August, konkret. Ich wurde zum Verhör gebracht, wo sich Uniformierte mit verdeckten Gesichtern zu mir setzten, so dass ich nur den Boden sehen konnte. Es war unangenehm, sie brachten mich auf verschiedene Weise aus dem Gleichgewicht, schüchterten mich ein. Dann sagten sie mir, dass es drei Möglichkeiten gäbe: Die erste wäre, alles zu unterschreiben, was sie mir gaben, ohne es zu lesen, und es wäre das Geständnis eines Kriegsverbrechens. Ich würde verurteilt und dann ausgetauscht werden. Die zweite wäre, die Unterschrift zu verweigern, und ich würde zu einer Tatrekonstruktion gebracht werden, wo ich angeblich versuchen würde zu fliehen und getötet würde; und die dritte Möglichkeit wäre, ohne jeglichen Austausch für wer weiß wie lange im Gefängnis zu bleiben, oder besser gesagt, so lange, wie sie es wollten. Wenn ich also nicht kooperieren und nichts unterschreiben würde, wäre ich weder physisch noch psychisch heil herauskommen. Sie sagten, dass man schon mit 45 Jahren sein Leben beenden könne. Wenn ich mich dafür entscheiden sollte, würden sie mich in den Hinterhof bringen, mir eine Zigarette geben, ein Telefonat nach Hause und mich dann erschießen.
Einer der Vernehmungsbeamten fragte mich, ob ich leben wolle, und ich sagte ja, so Gott will. Er stieß sich an meiner Antwort und sagte: „Nun, wir sind keine Christen, das betrifft uns nicht.“ Dann druckten sie den Vernehmungsbericht aus, und hatten verwechselt, wo ich „das Verbrechen begangen“ hatte. Später fand ich heraus, dass es darum ging, dass ich einen Granatwerfer auf ein Wohnhaus abgefeuert haben soll, in dem sich Menschen aufhielten, und dass dadurch zwei Frauen verletzt wurden. Auf jeden Fall, so sagten sie, sei es egal, was in den Dokumenten stehe, sie könnten mich auch ohne meine Zeugenaussage verurteilen. Sie sagten mir, wenn ich die Papiere schnell unterschreibe, würden sie an den Staatsanwalt und dann an das Gericht geschickt, und ich könne im Oktober nach Hause gehen – ich würde ausgetauscht werden.
Später, als sie meinen Fall abschlossen, brachten sie mich nach Sjewjerodonezk zu dem Haus, auf das ich angeblich geschossen hatte. Sie sagten mir, ich solle die Hand heben, auf ein bestimmtes Fenster zeigen, machten ein Foto von mir; sagten mir, ich solle auf den Geschosskrater zeigen und mir die Adresse merken. Als ich fragte, worum es ging, sagten sie, das würde ich später herausfinden. Das Einzige, worauf ich damals bestand, soweit das in dieser Situation überhaupt möglich war, war, dass ich gegen niemanden aussagen würde, nur gegen mich selbst, und dass der Fall ohne Leichen ablaufen sollte.
Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich nicht die ganze Strafe absitzen musste
Wie hast du auf die Verurteilung zu 13 Jahren Gefängnis reagiert?
Ich hatte das erwartet. Die Jungs in der Zelle und ich haben darüber nachgedacht, wie viele Jahre ich bekommen würde. Sie waren eher optimistisch. Ich rechnete mit zwölf bis 15 Jahren, und das gleiche haben sie mir auch gegeben. Aber ich hoffte, dass es bald einen Austausch geben würde, und dass ich ausgetauscht würde. Ich wusste also auf jeden Fall, dass ich nicht so lange im Gefängnis sein würde. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich nicht die ganze Strafe absitzen musste.
Bei einer der sogenannten Ermittlungsmaßnahmen sagte ein Beamter des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, dass die ukrainische Seite Russen wegen „illegalen Überschreitens der Staatsgrenze durch eine organisierte Gruppe von bewaffneten Personen mit dem Ziel, einen Teil des Territoriums zugunsten eines anderen Staates abzutrennen“ zu langen Haftstrafen verurteilt. Dafür und für Kriegsverbrechen würden lange Haftstrafen verhängt. Und deshalb, so sagten sie, müssten sie uns zu ähnlich langen Haftstrafen verurteilen, damit ihre Armeeangehörigen ausgetauscht werden könnten.
Kennst du das Schicksal deiner Mitstreiter, mit denen du gefangen genommen wurdest?
Zwei von ihnen wurden Ende 2022 ausgetauscht, und einer ist leider später bei der Verteidigung unseres Landes und unserer Freiheit ums Leben gekommen. Zwei weitere wurden dieses Jahr ausgetauscht. Die übrigen befinden sich weiterhin in Gefangenschaft. Keiner von ihnen ist verurteilt worden. Sie haben den Status von Kriegsgefangenen.
Was hat deiner Erfahrung nach dazu beigetragen, dass du die Gefangenschaft überlebt hast und nach Hause zurückkehren konntest?
Ich hatte keine Zweifel daran, dass man an mich dachte, dass man alles tat, um mich zu befreien, und für mich betete. Ich habe ständig versucht, meinen Geist zu beschäftigen. Ich versuchte, meine bisherigen Erfahrungen zusammenzufassen, einige innere Zusammenhänge zwischen dem, woran ich glaube, wovon ich überzeugt bin, und dem, was ich tue, herzustellen.
Ich analysierte mein Leben und versuchte, es zu verstehen. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich die Dinge besser machen kann, habe an meinen Fehlern gearbeitet, habe den Dingen, die in meinem Leben wirklich wichtig sind, Priorität eingeräumt, habe versucht, Englisch und Ukrainisch nicht zu vergessen, habe Kolumnen oder Reden in meinem Kopf geschrieben, sie mir selbst vorgelesen, Gedanken formuliert und mich an Menschen erinnert, die ich in meinem Leben getroffen habe.
Du befindest dich derzeit in der Rehabilitationsphase nach der Gefangenschaft. Wie verläuft die Rehabilitation, aus welchen Teilen besteht sie und wie effektiv ist sie?
Das ist ein interessanter Prozess. Um ehrlich zu sein, dachte ich, es würde schneller und formaler ablaufen. Der Rehabilitationsprozess kann in vier Arten von Aktivitäten unterteilt werden: die erste ist die medizinische Rehabilitation: die Untersuchung, die Diagnose und das Verständnis dessen, was eine Person aus der Gefangenschaft in Bezug auf die Gesundheit mitgenommen hat; die zweite ist psychologisch: Psychologen arbeiten mit dir und versuchen, dich in einen freieren Kontext zurückzuführen; die dritte ist administrativ: sie steht im Zusammenhang mit der Wiederbeschaffung gestohlener Dokumente und allen möglichen administrativen Dingen; und die vierte ist natürlich die Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden und die Feststellung der Umstände der Gefangenschaft. Sie versuchen, diese vier Bereiche in einen relativ kurzen Zeitrahmen zu pressen, so dass der Plan ziemlich voll ist.
Ich versuche herauszufinden, wo ich am nützlichsten sein werde
Was willst du nach der Rehabilitation tun?
Ich habe noch Zeit, darüber nachzudenken. Nach der Gefangenschaft und der Behandlung hat man Anspruch auf 30 Tage Urlaub, um sich zu erholen. In dieser Zeit werde ich darüber nachdenken, was ich demnächst erreichen möchte, oder besser gesagt, wie ich es besser und effizienter erreichen kann. Ich versuche herauszufinden, wo und in welchem Status ich am nützlichsten sein werde.
Ich werde die Verteidigung der Menschenrechte nicht aufgeben. Sie wird mich noch lange Zeit begleiten, wahrscheinlich für den Rest meines Lebens. Sie ist wirklich ein fester Bestandteil meines Lebens, also werde ich sie auf jeden Fall weiterführen. Natürlich werde ich die Themen Zwangsmigration, Flüchtlinge, Binnenvertriebene, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Hass nicht aufgeben. Jetzt ist mir klar, dass der Analyse von Propaganda und der Arbeit mit Informationen, kritischem Denken und der Wahrnehmung der Realität mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Meine Priorität in naher Zukunft wird jedoch die Befreiung unserer Soldaten und Zivilisten aus der Gefangenschaft sein.
Nachsatz von ZMINA
Maksym Butkevych ist seit fast 20 Jahren in der Menschenrechtsarbeit tätig. Er war Koordinator des No Borders Project, Mitbegründer des Menschenrechtszentrums ZMINA und von Hromadske Radio. Seit vielen Jahren gehört er zu den Organisatoren und Moderatoren der Vorführungen und Veranstaltungen des internationalen Dokumentarfilmfestivals für Menschenrechte Docudays UA.
Der Menschenrechtsaktivist hat vor Journalisten, Aktivisten und Regierungsvertretern in der Ukraine und anderen Ländern Vorträge über Menschenrechte, Hate Speech und Flüchtlinge gehalten. Er arbeitete im Büro des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in der Ukraine.
Nach dem Ausbruch des Krieges schloss sich Butkevych im März 2022 den ukrainischen Streitkräften an und wurde im Juni desselben Jahres von Russland gefangen genommen.
Es wurde ein Strafverfahren gegen Maksym Butkevych eingeleitet. Am 6. März 2023 verurteilte ein illegales „Gericht“ im vorübergehend besetzten Teil der Region Luhansk den Menschenrechtsaktivisten und Militäroffizier zu 13 Jahren Gefängnis, weil er in Sjewjerodonezk mit einem Granatwerfer in den Eingang eines Wohnhauses geschossen und dabei angeblich zwei Frauen verletzt haben soll.
Das Berufungsgericht in Moskau bestätigte das Urteil, entschied jedoch, dass ein Teil der Zeit, in der er tatsächlich in Haft war – ab dem 19. August 2022 – auf seine Strafe angerechnet werden sollte.
Im März 2024 bestätigte der Oberste Gerichtshof der Russischen Föderation die 13-jährige Haftstrafe für den gefangenen Menschenrechtsaktivisten und Soldaten. Bei der Gerichtsverhandlung sagte er, er sei unter Androhung von Folter gezwungen worden, sich selbst zu belasten. Die russischen Richter weigerten sich, Beweise in die Prozessakte aufzunehmen, die belegen, dass Butkevych weder an dem im „Fall“ angegebenen Tag noch an irgendeinem anderen Tag des Krieges am Ort des angeblichen Verbrechens oder überhaupt in Sjewjerodonezk war. Die Aussage des Menschenrechtsaktivisten, dass er sich aufgrund von Versprechungen eines schnellen Austauschs und der Androhung von Folter selbst belastet habe, wurde nicht berücksichtigt.
Der Prozess gegen Maksym Butkevych wurde von ukrainischen Menschenrechtsorganisationen, Amnesty International, Human Rights Watch, Memorial, PACE-Mitgliedern und anderen Organisationen verurteilt.
Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial erkannte Maksym Butkevych als politischen Gefangenen an.
Im November 2022 wurde Maksym Butkevych mit dem tschechischen Preis für „Geschichten des Unrechts“ (Cena Příběhů bezpráví) geehrt: Sein Vater Oleksandr nahm die Auszeichnung in Prag für seinen Sohn entgegen. Im Jahr 2023 wurde Maksym Butkevych mit dem Anne Frank Award für Menschenwürde und Toleranz der niederländischen Botschaft in den Vereinigten Staaten und mit dem nationalen Menschenrechtspreis der ukrainischen Plattform Human Rights Agenda ausgezeichnet.
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