Offener Brief an die Freunde in der Ukraine

Brief gegen den Krieg – „Wir müssen dem Kreml sagen: Ihr habt die Wahl. Mit einer freien Ukraine oder gegen uns.“

Liebe Freunde, wenn ich aus dem trotz Corona wohl geord­ne­ten Berlin an Euch denke, zieht sich mir das Herz zusammen.

Offen­bar wütet Covid in der Region ohne wirk­same Gegen­wehr. Bei uns zeich­net sich ab, dass schon im Mai /​ Juni all jene geimpft werden, die es wollen. Bei Euch sind Imp­fun­gen eine rare Kost­bar­keit. Viele bei Euch gehen durch schwere Erkran­kun­gen, viele ver­lie­ren ihr Leben. Keine Schule mehr für die Kinder, von Not­fall­plä­nen keine Spur.

Als wäre das nicht genug des Leids, schickt der Kreml ein mäch­ti­ges Heer an Eure Grenzen, tak­ti­sche Atom­waf­fen inbe­grif­fen. Dazu ein furcht­erre­gen­der Auf­marsch vor den Küsten der Ukraine.

Ich kann mich gut erin­nern, in welcher gespann­ten Lähmung Odesa sich befand, als ich im Mai 2014 zum ersten Mal die Stadt besuchte. Die, die „nach Europa“ wollten, wussten, dass der Kreml bereits seine Leute in der Stadt pos­tiert hatte. Sie wussten nur nicht, wo und wer.

Man musste mit einem Angriff rus­si­scher Sol­da­ten aus Trans­nis­trien rechnen und einem Zan­gen­griff vom Schwar­zen Meer dazu. Odesa hätte bei so einem Sze­na­rio keine Chance – wir alle wussten das.

Sieben Jahre später droht sich dieses Schau­spiel zu wie­der­ho­len. Putin lässt Euch nicht in Ruhe. Je weiter die Ukraine sich ent­wi­ckelt, je ent­schie­de­ner der Weg gen Westen wird, desto stärker droht er.

Ihr wisst, was „Asym­me­trie“ bedeu­tet. Es heißt, ihr werdet alleine kämpfen müssen, falls Putin wirk­lich angrei­fen lässt. Wie viele junge Men­schen werden ihr Leben ver­lie­ren – auch bei den rus­si­schen Sol­da­ten, die nicht gefragt werden, ob sie wirk­lich gegen Euch kämpfen wollen. Umso wich­ti­ger ist jetzt eine klare poli­ti­sche Haltung des Westens.

Was mögen Macron und Merkel Eurem Prä­si­den­ten gesagt haben, der kein unbe­schrie­be­nes Blatt mehr ist wie vor zwei Jahren, als wir uns alle fragten, ob er an den Drähten von Kolo­moisky oder gar Moskaus hängt. Er hat alles ver­sucht, um dem Land endlich Frieden zu bringen. Aber Friede in der Ukraine steht nicht auf dem Spiel­plan des Kremls. Zu groß ist die Gefahr, dass auch rus­si­sche Bürger nach Frei­heit und einem Leben in Würde ver­lan­gen könnten. Genau des­we­gen sollte Nawalny sterben.

Welch ein Segen, dass in Washing­ton kein Skru­pel­lo­ser wie Trump mehr regiert. Biden ver­spricht an Eurer Seite zu sein, aber seine Kriegs­schiffe ließ er umkeh­ren. Wird Putin das als Geste des guten Willens anneh­men? Oder wird es gehen wie 1992 vor Dubrov­nik, als die 6. Flotte von der Küste abge­zo­gen wurde, was die ser­bi­schen Tschet­niks als Ein­la­dung zum Angriff verstanden?

Was wird Europa tun, das gespal­ten ist in jene, die sich für die Unab­hän­gig­keit der Ukraine ein­set­zen und jene, die zu Euren Lasten Geschäfte mit dem Kreml machen wollen?

Was ist es für ein Zeichen, dass die deut­sche Prä­si­den­tin der EU-Kom­mis­sion eine Ein­la­dung zum Unab­hän­gig­keits­tag Eurer Regie­rung ablehnt, in einer Zeit, in der alle Prä­si­den­ten und Regie­rungs­chefs  nach Kiew reisen sollten, um an Eurer Seite zu stehen?

Die stetig sich wie­der­ho­len­den Parolen des Kremls haben sich in vielen Köpfen auch bei uns in Deutsch­land fest­ge­setzt. Der „Kon­flikt“, den es im Donbas gebe, statt Krieg zu nennen, was Krieg gegen Euch ist. Dass Russ­land sich wehren müsse gegen die Ein­krei­sung der Nato. Ein­ge­kreist werdet gerade Ihr – und zwar durch rus­si­sche Truppen. Ange­grif­fen wurde nicht Russ­land durch die Nato, sondern Geor­gien, als es den Weg nach Westen ein­schlug, so auch Ihr.

Es gibt zu viele, die meinen, es sei allein Euer Problem, wenn Russ­land Euch bedrängt: „Schade, aber die Ukraine gehört nun mal zum Macht­be­reich Russ­lands. Dass der Kreml die Krim bean­sprucht und die Ukraine nicht einfach ziehen lassen will – das muss man verstehen“.

Als die alten Impe­rien Europas im Gefolge des 2. Welt­krie­ges ihre Kolo­nien in die Frei­heit ent­las­sen mussten, fanden wir das lange über­fäl­lig. Dass aber Kolo­nien nicht nur in Indien oder Afrika lagen, dass das Zaren­reich seine Kolo­nien durch Aus­wei­tung seiner Grenzen eroberte und immer noch bean­sprucht – das ist noch immer kaum präsent.

Wie lange schon sagt Ihr uns, dass Euer Kampf auch für uns geführt wird: Für ein Leben im Rechts­staat, für ein Leben in Viel­falt, für ein Leben in einer offenen, moder­nen Gesellschaft.

Nicht alle in unseren Ländern wollen diese Moderne, sie ist anstren­gend, sie raubt den Männern ihre Vor­herr­schaft, sie belohnt die Erfolg­rei­chen, sie fordert uns durch das Tempo des Neuen.

Der Kreml kennt unsere Schwä­chen und ist bemüht, unser libe­ra­les Fun­da­ment zu unter­mi­nie­ren. Wenn er Euch zurück­er­obert, wird es kein Halten mehr geben. Belarus ist zurück­ge­zwun­gen unter die Herr­schaft Moskaus, der ser­bi­sche Prä­si­dent, der unga­ri­sche Prä­si­dent, le Pen, die AfD – sie alle fühlen sich der auto­ri­tä­ren Inter­na­tio­nale näher als dem freien Westen.

Was braucht Ihr jetzt? Was kann Euch helfen? Die EU könnte ein starker poli­ti­scher Player sein mit ihren 500 Mil­lio­nen Men­schen. Die USA sind trotz aller Schwä­chen eine Weltmacht.

Ihr werdet zurecht nicht ver­ste­hen, wenn wir uns nicht zu einem festen „Finger weg von der Ukraine“ durch­rin­gen können. Wenn wir ein hartes Sank­ti­ons­re­gime ver­mei­den aus kurz­sich­ti­gem Eigennutz.

Ich bin gegen den Krieg – Ihr könnt es mir glauben. Aber was tun gegen­über dem Aggres­sor? Der Kreml ist schlau. Er beob­ach­tet uns gut. Er wird ver­ste­hen, wenn Europa und Amerika zusam­men­ste­hen und deut­lich ver­tre­ten: Bis hierher und nicht weiter.

Bis hierher und Ihr müsst ohne unsere Kredite und Inves­ti­tio­nen aus­kom­men. Bis hierher und Eure Assets werden ein­ge­fro­ren. Bis hierher und Euer inter­na­tio­na­ler Zah­lungs­ver­kehr wird ein­ge­schränkt werden.

Wir müssen dem Kreml sagen: Ihr habt die Wahl. Mit einer freien Ukraine oder gegen uns.

Liebe Freunde, ich wünsche mir, dass wir fest an Eurer Seite stehen. Ich hoffe, Euch bald wohl­be­hal­ten und ohne das Damo­kles­schwert des Krieges wiederzusehen.

Marie­luise Beck
Berlin, 20.04.2021

Dieser Brief ist auf Ukrai­nisch bei der Zeitung „Novoye Vremya“ erschienen.

Textende

Porträt Beck

Marie­luise Beck ist eine über Par­tei­gren­zen hinaus geach­tete Außen­po­li­ti­ke­rin mit dem Schwer­punkt Ost- und Südosteuropa.

 

 

 

 

 

 

 

 

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