Putins „Ende mit Schrecken“
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wird immer brutaler – immer mehr werden Zivilisten Ziel von Bombenangriffen. Wieso eskaliert der seit Jahren schwelende Konflikt gerade jetzt ? Und inwiefern können die unter russischer Besatzung entstandenen „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk ein Modell für künftige besetzte Gebiete in der Ukraine sein? Ein Gespräch mit Nikolaus von Twickel, Experte für die „Volksrepubliken“ und Redakteur im Zentrum Liberale Moderne — Von Elisabeth Bauer und Yelizaveta Landenberger
Fluter: Welche Motivation steht hinter dem Krieg, der seit fast drei Wochen ukrainische Städte und Kulturgüter zerstört, Zivilisten attackiert und mittlerweile drei Millionen Menschen zu displaced persons werden lässt?
Nikolaus von Twickel: Grundsätzlich kann man Putins Motivation gut mit dem Sprichwort „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ zusammenzufassen, das es ja sowohl im Russischen als auch im Deutschen gibt. Aus Putins Sicht ist die Westorientierung der Ukraine unter dem jetzt zweiten Post-Maidan-Präsidenten Selenskyj ein „Schrecken ohne Ende“: Er sieht, dass ihm die Ukraine entgleitet. Ganz klar, dass die Menschen davon überzeugt werden müssen, indem ihnen weisgemacht wird, dass das nur passiert, weil die Führung in Kiew von Washington kontrolliert werde; dass das Marionetten im weitesten Sinne seien.
Die Russen haben gemerkt, dass sie mit den “nicht-kinetischen Maßnahmen”, also mit Cyberangriffen, Informationskrieg, Propaganda-Kampagnen usw. nicht viel erreichen. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es ohne Gewalt nicht geht, dass sie die Ukraine nicht zurückbekommen. Das Kalkül dieses Angriffs ist: Wenn wir jetzt nicht zuschlagen, wenn wir diese pro-westliche Regierung jetzt nicht absetzen, dann wird es uns in zwei, drei Jahren gar nicht mehr gelingen.
Putin hat im Juli 2020 in seinem viel diskutierten Aufsatz seine These vom „geeinten Volk“ dargelegt, historische Fakten verzerrt und umgekehrt, der Ukraine ihre nationale Souveränität abgesprochen. Haben EU-Regierungen diese Drohungen nicht ernst genommen?
Man hat durchaus verstanden, dass Putins Ansichten sehr gefährlich sind. Man hatte auch während des ersten großen Truppenaufmarsches im Juli letzten Jahres über einen möglichen Großangriff debattiert und gesagt, dass die Folgen so unübersehbar wären, dass selbst wenn Putin seine Hobby-historischen Aufsätze schreibt, er doch wenigstens von seinen Generälen den Rat bekommt, die Ukraine nicht groß anzugreifen. Jetzt wissen wir, dass das nicht stimmte.
So etwas hat es in Europa seit 1941 nicht mehr gegeben. Da wären wir wieder bei: „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“
Hätte vielleicht viel früher gefragt werden sollen, ob die Sprache eines Megalomanen überhaupt mit demokratischen Mitteln beantwortet werden kann?
Ja, das ist wirklich die Frage. Die Diplomatie auf höchster Ebene, die wir bis jetzt kannten und auf der massive Hoffnungen ruhten, ist zerplatzt. Es wird sie in Zukunft erstmal nicht mehr geben. Ich glaube, dass sich ganz viele Überlegungen und Blicke jetzt auf die Entourage von Herrn Putin richten.
Auf der Sitzung des russischen Sicherheitsrats am 21. Februar, wo Auslandsgeheimdienst-Chef Sergej Naryschkin öffentlich gedemütigt wurde, haben wir gesehen, dass das eben selbst im innersten Kreml-Zirkel nicht so gut funktioniert. Es ging um die Anerkennung der „Volksrepubliken“. Lawrow hat sich vor ein paar Jahren noch explizit dagegen ausgesprochen. Aus gutem Grund, weil er gesagt hat, damit verliere Russland den Rest der Ukraine. Aber die Sicherheitsratssitzung hat klar gezeigt, dass selbst Putin Probleme hatte, seinen engsten Zirkel von diesem Schritt zu überzeugen. In den nächsten Tagen und Wochen wird man sehen, ob dieser Zusammenhalt noch weiter funktioniert.
Was ist das ultimative Ziel Putins – eine russische Scheinregierung nach dem Vorbild der „Volksrepubliken“ in Kiew zu installieren? Dienten ihm Donezk und Luhansk als Experimentierfeld?
Die „Volksrepubliken“ sind Militärdiktaturen von stalinistischer Ausprägung, in denen jede abweichende Meinung – nicht nur wenn sie proukrainisch ist, sondern auch wenn sie russisch-nationalistisch ist – hart bestraft wird. Diese Leute sitzen alle irgendwo in Verließen und werden möglicherweise gefoltert.
Das größte Dilemma in der aktuellen Situation: Selbst wenn es den Russen gelingen sollte, das Land militärisch zu erobern – mit einem schrecklichen Blutzoll: Wie soll danach eine politische Machtausübung funktionieren? Welcher vom Kreml geduldete bzw. eingesetzte Anführer kann dort überhaupt noch Politik machen und von einer Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft akzeptiert werden – nach so einem Krieg? Es wird keine prorussische Regierung in der Ukraine geben können, die sich auch nur einen Tag lang am Leben hält, ohne eine massive militärische Präsenz in der Bevölkerung, die allen das Gewehr vor die Brust hält.
Ein bisschen scheint es, als hätte man gehofft, es bleibe bei der bereits bekannten „hybriden“ Form der russischen Kriegsführung. Hat man eine solch brutale, physische Eskalation des Krieges im 21. Jahrhundert für unmöglich gehalten?
Als Selenskyj 2020/21 pro-russische Medien verboten hat, war das natürlich auch ein klares Signal an den Kreml, dass das mit der Propaganda nicht mehr so gut funktioniert. Und es gibt in der Ukraine gute IT-Experten, möglicherweise ist die Ukraine sogar besser gerüstet, russischen Cyberattacken zu widerstehen als wir in Deutschland.
Das Fazit ist, dass die hybriden Kriegsstrategien – die nichtmilitärischen Mittel, mit denen man versucht hat, die unabhängige Ukraine dazu zu bringen, sich zurück nach Moskau zu orientieren, – einfach nicht funktioniert haben. Etwas ähnliches haben wir auch im März 2014 gesehen, als es in Donezk und Luhansk prorussische Demonstrationen gab. Diese Proteste waren nicht stark genug, um die lokale Machtstruktur zu übernehmen – also griff Moskau zu Gewalt und schickte im April bewaffnete Kämpfer.
Putin stellt diesen Angriffskrieg wahlweise als „Befreiung“, „Entmilitarisierung“ oder „Entnazifizierung“ der Ukraine dar – was umso absurder ist, wenn man bedenkt, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jüdisch ist. Welcher (Anti-) Ideologie bedient er sich, worin liegt seine historische Mission?
Dahinter steht ein krankhaft verändertes Verständnis von Staatlichkeit und nationaler Identität der ehemaligen sowjetischen Republiken gegenüber – allen voran der Ukraine, aber auch etwa Belarus. Das lässt sich vielleicht mit der in der späten Sowjetunion vorherrschenden Ideologie erklären. Man sagte: „Wer die Sowjetunion aus den ethnischen Teilrepubliken heraus kritisiert, ist vermutlich Nationalist, diesen Nationalismus muss man bekämpfen.“
Spätestens seit dem Aufsatz vom vergangenen Juli war klar, dass in Putins Kopf die Eigenständigkeit der ukrainischen Nation – eine wie auch immer geartete Eigenständigkeit – nicht existiert. Er findet, dass die ukrainische Nation ein Kunstgebilde ist, das lieber heute als morgen abgeschafft werden muss.
Wie erfolgreich hat sich Selenskyj als Gegenmodell zum Putin-Regime installiert, als Anti-Putin?
Selenskyj ist angetreten als ein Mann des Ausgleichs, als ein Volkstribun. Er hatte aus der Bevölkerung, von seinen Wählern einen massiven Vertrauensvorschuss, auch wenn viele Beobachter natürlich sehr skeptisch gegenüber jemandem waren, der nicht aus der Politik, sondern aus dem Showbusiness kommt. Alle wichtigen Posten in der Präsidialverwaltung hat er direkt von Mitgliedern aus seiner TV-Produktionsfirma besetzten lassen.
Es herrschte die Erwartung, dass jetzt einer kommt, der nicht mehr wie sein Vorgänger, der Oligarch Poroschenko, dogmatisch denkt und lenkt, sondern einer, der pragmatisch ist. Man hoffte, dass es auch in der wichtigen Frage der Minsker Verhandlungen einen Fortschritt geben würde.
Welche Instrumente stehen der internationalen Gemeinschaft aktuell zur Verfügung? Halten Sie einen EU- bzw. NATO-Beitritt der Ukraine, wie er von manchen gefordert wird, in absehbarer Zeit für realistisch?
Was die aktuelle Kriegssituation angeht, ist völlig klar, dass es keine direkte militärische Antwort geben kann. Es sieht im Augenblick schwierig aus, für ein Eingreifen der NATO den nötigen politischen Willen zu finden. Abgesehen davon lässt der Zustand der Streitkräfte von Ländern wie Deutschland das auch nicht realistisch erscheinen, die Eskalationsgefahr wäre schlichtweg zu groß – deswegen bleibt nur die Reaktion im Bereich der Wirtschaftssanktionen.
Wir sehen gerade, dass Putin mit seinem wahnsinnigen Krieg die gesamte öffentliche Meinung in Europa umkrempelt. In den letzten Tagen wurde von vielen gefordert, der Ukraine sofort eine EU-Beitrittsperspektive zu eröffnen: Es bedurfte erst dieses schrecklichen Krieges, um zu so einem Schritt zu gelangen. Ein EU-Beitritt ist eigentlich die logische Konsequenz des Euromaidans – das wurde lange Zeit ignoriert. Sollte die Ukraine in irgendeiner Form überleben, wird der EU-Beitritt möglicherweise kommen. Und natürlich werden auch in Westeuropa die Rufe nach einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine lauter werden. Putin mag ein guter Taktiker sein, aber ein miserabler Stratege. Die US-Russlandexpertin Angela Stent hat einmal gesagt, dass Putin ein Judo-Kämpfer, aber kein Schachspieler ist – kurzfristig nutzt er die Schwächen seiner Gegner geschickt aus, aber langfristig torpediert er genau die Dinge, die er eigentlich verhindern wollte. Niemand hat die Ukraine so stark nach Westen bewegt wie Herr Putin selber.
Vereinfachte mediale Darstellungen von der Ukraine als ein in einen „nationalistischen“ Westen und einen „prorussischen“ Osten gespaltenes Land haben wenig mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit gemeinsam. Der ukrainische Schriftsteller Mykola Riabchuk schreibt in seinem Essay „Die reale und die imaginierte Ukraine“: „Diese ‚zwei Ukraine‘ existieren nicht neben‑, sondern eher ineinander – als zwei Symbole, zwei Möglichkeiten für ihre weitere Entwicklung.“ Auch Putins Idee von „Malorossija“ bedient sich der Vorstellung von einer angeblichen „tiefen Spaltung“ der Ukraine.
Eine Besonderheit der Ukraine ist es, dass hier infolge von Gebietszuwächsen nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bevölkerungsanteil gelebt hat, die nie zu Russland oder der Sowjetunion gehörte und eine viel stärkere innere Opposition dem Sowjetsystem gegenüber hatte. Diese sehr antisowjetisch eingestellten Leute hat man immer schon als Nationalisten verunglimpft.
In der Ukraine kommt dann diese komplizierte Geschichte des Zweiten Weltkriegs hinzu, mit der Kollaboration mit den Nazis und dem 2010 postum zum Nationalhelden erklärten Stepan Bandera. Unter Putin wurde der sowjetische Sieg über Nazideutschland zur einer quasi Staatsreligion hochstilisiert. Das ist einerseits ein historisch komplizierter Komplex – andererseits ist es auch ein Komplex, den Leute wie Putin mit sich herumtragen: Sie werden nicht fertig mit der Tatsache, dass es eine größere Bevölkerungsgruppe gibt, die in einer fundamentalen Abneigung zu dem russischen Imperialismus steht.
Sehen Sie eine Perspektive, dass sich die russische Gesellschaft aus der Propaganda-Scheinwelt emanzipieren kann?
Die Schlüsselfrage lautet, wie lange Putin die russische Öffentlichkeit hinters Licht führen und manipulieren kann. Vielleicht hoffen jetzt einige im Kreml, ein neostalinistisches Regime wie in Donezk und Luhansk in der ganzen Ukraine zu errichten. Ich sehe das skeptisch. 2014/15, als der Krieg im Donbas wütete, sind sehr viele Russen, teilweise Soldaten, teilweise Freiwillige gestorben; die Berichterstattung über ihre Beerdigungen wurde in Russland zensiert.
Die Erfahrung aus dem Tschetschenien-Krieg hat gezeigt, dass Tod eine bedeutsame oppositionelle Bewegung aus der Zivilgesellschaft anstoßen kann. Aktuell sehen wir, dass versucht wird, die öffentliche Berichterstattung mit allen Mitteln zu unterdrücken. Aber viele Tote werden kommen – und die Angehörigen werden das merken.
Aus der deutschen Zivilgesellschaft kommen viele Appelle an die historische Verantwortung der Ukraine gegenüber, etwa von Marieluise Beck: “Wenn Putin jetzt von der Entnazifizierung von der Ukraine spricht, dann ist das eine Ungeheuerlichkeit, denn die Ukraine hat für die Freiheit gekämpft.” Wie heuchlerisch ist die deutsche Demokratie eigentlich?
Putin hat es geschafft einen neuen Konsensus, ein Umdenken in der Außenpolitik zu schaffen – hier in Deutschland und im Rest Europas. Die Frage, ob mehr Waffenlieferungen für die Ukraine Russland vielleicht abgeschreckt hätten, kann ich nicht beantworten. Aber die Schuldzuweisungen vieler Ukrainer sind nicht abwegig.
Längst hat sich eine globale Solidaritätsbewegung für die Ukraine formiert: Gibt es Hoffnung, Putin in seinem Wahn noch zu stoppen?
Die Russen waren in den ersten Tagen des Großangriffs erstaunlich langsam. Die Kreml-Ideologen und Militärführer haben wohl erwartet, dass, sobald sie in die Ukraine eindringen, alles von selbst zusammenbricht – dass sie gar nicht kämpfen müssen. Dass die Ukrainer alle ihre Waffen wegschmeißen. Das haben sie nicht getan und werden sie nicht tun.
Ein weiterer Beleg dafür, dass auch in der engsten Kreml-Führung keine Einigkeit herrscht, sind die US-Geheimdienstinformationen über den bevorstehenden Angriff: Diese Details zeigen, dass Washington Quellen im engsten Umfeld Putins haben muss, die verstehen, dass das, was Putin macht, Wahnsinn ist.
Ich kann es nur wiederholen: Putin tut gerade alles, um auch hierzulande unsere Putinversteher zum Verstummen zu bringen. Frau Krone-Schmalz hat immerhin eingeräumt, dass sie sich „geirrt“ hat, Herr Schröder hat dagegen seit seiner geheimnisvollen Moskau-Reise nichts von sich hören lassen. Je schlimmer die Exzesse, desto schwerer haben es eben Putins Apologeten außerhalb Russlands. Putin erreicht mit seinem Krieg in der internationalen Öffentlichkeit genau das Gegenteil dessen, was er eigentlich vorhatte.
Dieses Interview führten Elisabet Bauer und Yelisaveta Landenberger für das Magazin „Fluter“ am 26. Februar 2022, wo es zuerst in kürzerer Fassung erschienen ist.
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