Warum Deutsch­land die EU-Kan­di­da­tur der Ukraine unter­stüt­zen sollte

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Die Ver­lei­hung des Kan­di­da­ten­sta­tus bedeu­tet nicht gleich Bei­tritt: Sie ist vor allem eine Aner­ken­nung der Fort­schritte, die die Ukraine bei den Refor­men gemacht hat und eine große sym­bo­li­sche Geste an ein Volk, das Europa vor einer Inva­sion schützt.

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In der Ukraine gibt es zwei Fronten: Die äußere, mili­tä­ri­sche und die innere, reform­ori­en­tierte. Beide sind extrem wichtig. Denn um der äußeren Bedro­hung erfolg­reich zu begeg­nen, braucht man eine starke Wirt­schaft und starke Insti­tu­tio­nen, ein Ende der Kor­rup­tion und funk­tio­nie­rende Rechts­staat­lich­keit. Zu diesem Zweck muss die Ukraine die Refor­men abschlie­ßen, die sie 2014 nach der Revo­lu­tion der Würde und der Unter­zeich­nung des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens mit der EU ein­ge­lei­tet hat.

Die Ukraine hat bereits erheb­li­che Fort­schritte bei der Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung gemacht. Das unab­hän­gige, natio­nale Anti­kor­rup­ti­ons­büro (NABU), die Anti­kor­rup­ti­ons­staat­an­walt­schaft (SAP) und der Anti­kor­rup­ti­ons­ge­richts­hof haben bereits Dut­zende von Urtei­len in Fällen von Kor­rup­tion auf höchs­ter Ebene gefällt – Dut­zende von kor­rup­ten Abge­ord­ne­ten, hohen Beamten und Rich­tern sitzen bereits hinter Gittern. Offene Regis­ter und elek­tro­ni­sche Erklä­run­gen haben es prak­tisch unmög­lich gemacht, ille­gale Vor­teile zu ver­ber­gen. Das elek­tro­ni­sche Beschaf­fungs­sys­tem von Pro­zorro hat dem Staats­haus­halt bereits Ein­spa­run­gen in Mil­li­ar­den­höhe gebracht. Diese Erfah­rung wird von anderen Ländern stu­diert und übernommen.

Unmit­tel­bar vor dem Krieg gab es einen Durch­bruch bei der Jus­tiz­re­form – fast der gesamte Oberste Jus­tiz­rat, das wich­tigste und pro­ble­ma­tischste Gremium im Jus­tiz­we­sen, trat zurück, weil er den Inte­gri­täts­test, den das kürz­lich ver­ab­schie­dete Gesetz vorsah, nicht ablie­fern wollte. Nun wählt der unab­hän­gige Ethik­rat trotz des Krieges wei­ter­hin die neue Führung der ukrai­ni­schen Justiz. Die Bedeu­tung dieser Reform für die Umge­stal­tung des Landes ist außer­or­dent­lich groß. Sie wurde sogar direkt von Putin in seiner Rede vor Beginn des Über­falls im Februar als Bei­spiel dafür genannt, wie „falsch“ die Ukraine ist und wie sehr sie sich von der „rus­si­schen Welt“ gelöst hat, in die er uns alle zurück­drän­gen will.

Visa­li­be­ra­li­sie­rung als Reformmittel

Dies hätte jedoch ohne einen wich­ti­gen Prozess kaum erreicht werden können: die Visa­li­be­ra­li­sie­rung mit der EU in den Jahren 2014 und 2015. Was hat das mit dem Reform­pro­zess zu tun? Ganz einfach: Die über­wie­gende Mehr­heit der Anti­kor­rup­ti­ons­re­for­men war im Akti­ons­plan zur Visa­li­be­ra­li­sie­rung zwi­schen der EU und der Ukraine fest­ge­schrie­ben. Aus poli­ti­schen Gründen war der dama­lige Prä­si­dent Petro Poro­schenko sehr an einem visa­freien Rei­se­ver­kehr mit der EU inter­es­siert. Seine Regie­rung, die nicht immer sehr reform­freu­dig war, hatte keine andere Wahl, als die mehr als 140 ent­hal­te­nen Anfor­de­run­gen für die Ein­rich­tung dieser Insti­tu­tio­nen in der Ukraine zu erfüllen.

Zwei­fels­ohne sind Prä­si­dent Selen­skyj und viele Mit­glie­der seiner Regie­rung sowie Mil­lio­nen anderer Ukrai­ner mili­tä­ri­sche Helden. Aber es ist kein Geheim­nis, dass es in der Ukraine immer noch Kräfte gibt, die keinen Wandel wollen. Sie benut­zen den Krieg als Vorwand, um jetzt nichts zu ändern. Und dann benut­zen sie den Sieg in diesem Krieg, als wäre er der Beweis dafür, dass ohnehin alles in Ordnung ist. Infol­ge­des­sen besteht die Gefahr, dass die Ukraine jahr­zehn­te­lang eine „ver­ge­bene Mög­lich­keit“ bleibt und der Westen in dieser Zeit eine dau­er­hafte Quelle der Insta­bi­li­tät an seiner Grenze erhält.

Statt­des­sen ist es jetzt, da das Zeit­fens­ter für Ver­än­de­run­gen offen ist, von ent­schei­den­der Bedeu­tung, dass die Refor­mer in der Regie­rung und der Zivil­ge­sell­schaft, die bereits einige grund­le­gende Ver­än­de­run­gen erreicht haben, ein wirk­sa­mes Instru­ment für die finale Trans­for­ma­tion der Ukraine in ein euro­päi­sches Land erhal­ten. Und dieses Instru­ment ist der Status eines EU-Bei­tritts­kan­di­da­ten, den die Ukraine im Juni auf dem EU-Gipfel erhal­ten kann. Alle for­ma­len Hin­der­nisse dafür sind besei­tigt worden. Die Ukraine hat trotz des Krieges bereits Tau­sende von Seiten der not­wen­di­gen Doku­mente in Rekord­zeit ein­ge­reicht. Alles, was jetzt noch fehlt, ist eine poli­ti­sche Ent­schei­dung der Regie­run­gen der Mit­glied­staa­ten, allen voran Deutschlands.

Keine Garan­tie, aber eine Geste

Es ist wichtig zu wissen, dass der Kan­di­da­ten­sta­tus der Ukraine nicht auto­ma­tisch die Mit­glied­schaft in der EU garan­tiert. Er ist ledig­lich eine Aner­ken­nung der Fort­schritte, die die Ukraine bei den Refor­men im Rahmen des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens bereits gemacht hat, und eine große sym­bo­li­sche Geste an das ukrai­ni­sche Volk, das Europa nun vor einer Inva­sion schützt. Vor allem aber ist sie not­wen­dig, um die Bei­tritts­ver­hand­lun­gen zu begin­nen, einen lang­fris­ti­gen Prozess, in dem akri­bisch an Refor­men gear­bei­tet wird, die der Ukraine Rechts­staat­lich­keit und der EU einen großen, ver­trau­ens­wür­di­gen Partner in Wirt­schaft und Sicher­heit bringen werden.

Leider gibt es unter den EU-Regie­run­gen immer noch einige Skep­ti­ker, die die Ukraine nicht als Bei­tritts­kan­di­da­ten sehen wollen – ent­we­der aus Igno­ranz oder wegen leeren Träu­me­reien von neuen Gas­pro­jek­ten mit Putin. Gleich­zei­tig ist die Unter­stüt­zung der EU-Bevöl­ke­rung für die Ukraine und ihren Inte­gra­ti­ons­pro­zess über­wäl­ti­gend: In Deutsch­land emp­fin­den 79 Prozent Sym­pa­thie für die Ukrai­ner, 71 Prozent sehen die Ukraine als Teil der euro­päi­schen Familie und 61 Prozent sind der Meinung, dass die Ukraine der EU bei­tre­ten sollte, wenn sie dazu bereit ist. Und der mit den Bei­tritts­ver­hand­lun­gen ver­bun­dene Kan­di­da­ten­sta­tus ist ein per­fek­tes Instru­ment, um die Ukraine auf die weitere Inte­gra­tion vor­zu­be­rei­ten. Auch die Befür­wor­tung einer Inte­gra­tion in die EU ist in der Ukraine mit 91 Prozent so hoch wie noch nie.

Es wäre kata­stro­phal, eine solche Gele­gen­heit jetzt zu ver­pas­sen und gleich­zei­tig den Ukrai­nern zu zeigen, dass trotz der langen Reise und der großen Opfer, die die Ukraine für die Ver­tei­di­gung der euro­päi­schen Werte bringt, niemand in Europa auf sie wartet – ja, nicht einmal darüber reden will.

In den Händen der deut­schen Regie­rung und anderer EU-Staats- und Regie­rungs­chefs liegt eine his­to­ri­sche Ent­schei­dung. Nicht nur für die Ukraine, sondern für ganz Europa und die gesamte zivi­li­sierte Welt. Es ist jetzt äußerst wichtig, echte Füh­rungs­stärke zu zeigen.

Textende

Portrait von Mikhailo Zhernakov

Mikhailo Zher­na­kov ist Direk­tor der DeJuRe-Stif­tung, einer Orga­ni­sa­tion zur För­de­rung der Rechts­staat­lich­keit in der Ukraine.

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