Nataliya Gumenyuk – Die verlorene Insel 1.2
Im Frühjahr brachte die Journalistin Nataliya Gumenyuk das Buch Zahublenyi Ostriv (Die verlorene Insel) heraus, in dem sie Geschichten von Menschen auf der Krim niedergeschrieben hat. Nun wird das Buch ins Deutsche übersetzt. Wir dürfen vorab das erste Kapitel veröffentlichen. Darin gibt Nataliya Gumenyuk ihre Eindrücke von einer Reise auf die Krim wieder, die sie im März 2014 unternommen und die sie nach Bachtschyssaraj – Balaklawa – Sewastopol – Jalta – Simferopol geführt hat.
Die Übersetzung ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von Simon Muschick, Dario Planert und Johann Zajaczkowski.
Was bildest du dir ein, mein Schatz?
Willst um den Finger wickeln?
Die Mädchen wolln dich aber nicht,
siehst aus wie ein Karnickel!
Auf dem Basar war ich vor Kurzem,
da zeigten sie ein Märchen.
‘ne Alte hat‘n Gaul geknutscht,
Fedja hieß das Pferdchen.
Russland und die Ukraine –
ein dichter Beerenstrauch,
der Grenzmann schützt die Heimat
heuer vor der Heimat auch.
Eine Frau mit einem angehefteten Georgsbändchen tanzt und singt unterdessen diese Zeilen. Die musikalische Begleitung besorgt ein Großväterchen mit Akkordeon. Eine (sagen wir) „spontane“ Feier findet hier statt. Auf dem Nachimow-Platz in Sewastopol hat sich eine Gruppe von etwa 30 Personen, darunter vorwiegend Rentner, eingefunden. Viele tragen Fahnen mit Portraits von Putin und Medwedjew.
„Wir, die Sewastopoler, sind russische Menschen, heute sind wir das allerglücklichste Volk, und ich wünschte, alle Menschen auf dem gesamten Erdball wären so glücklich wie wir heute. 23 Jahre lang hatten hier die Besatzer das Sagen, nun kehren wir endlich heim. Wenn es von uns verlangt wird, stehen wird bereit, um Tag und Nacht zu marschieren. In dieser Stadt herrschte immer russische Ordnung, Ukrainisch haben wir nie gelernt, und die Älteren konnten die Packungsbeilage ihrer Medikamente nicht lesen. Wie ist so etwas möglich? All die Jahre mussten wir ein Wörterbuch in die Hand nehmen, um uns nicht zu vergiften und an unseren Medikamenten zu sterben“, ereifert sich eine Frau gehobenen Alters in Matrosenshirt und Marinekappe. Noch eben hatte sie mit dem Großväterchen in Kapitänsmütze getanzt.
„Wir haben so sehr auf diesen Moment gewartet. Alles passiert zur rechten Zeit! Was willst du da machen?!“, ergänzt dieser mit einem breiten Grinsen. „Begreif doch, Kindchen: Kyjiw wurde von Banditen erobert. Hätte man ihre Machenschaften in Kyjiw sofort im Keim erstickt, wäre das alles hier nicht passiert. Wir alle hier wären nicht zu Russland gekommen. Während wir hier in Untätigkeit verharrt hätten, hätten sie uns die Nationalgarde an den Hals gehetzt. Hätte, hätte – wenn wir nicht rechtzeitig gehandelt hätten.“
Der Mann ist an die achtzig Jahre alt. Er bezeichnet sich selbst als Sewastopoler mit russischen Wurzeln, auch wenn er seine gesamte Kindheit mit ukrainischen Halbstarken in Sibirien verbracht habe.
„Wie könnte ich den Ukrainern Vorwürfe machen? Die ukrainische Sowjetrepublik war die mächtigste Republik in der gesamten Sowjetunion. Und ihre Kornkammer. Wenn Donezk und Luhansk doch nur einen Anführer wie unseren Aksjonow [1] hätten und eine Bürgerwehr auf die Beine stellen könnten, dann könnten sie eine Schwarzmeer-Republik gründen. Doch die Fürsprecher des Volkes wurden verhaftet. Ich weiß, dort hat ihnen die Unterstützung gefehlt, und hier steht die gesamte Schwarzmeerflotte hinter uns.“
„Die Ukrainer sind ja auch ein gutes Völkchen, das schon“, fährt die Frau mit der Marinekappe fort. „Aber dann kam diese Bande daher und
sorgte für Ärger. 2008 habe ich im Urlaub in den Karpaten eine Familie aus der Nähe von Kyjiw getroffen. Großartige Menschen! Wir konnten uns in jeder Sprache unterhalten. Und so friedfertig! Es gibt keinen Grund, uns in eine bestimmte Ecke zu drängen.“
Während der Videoaufnahme erwähne ich nicht, dass ich aus Kyjiw komme oder dass ich bei Hromadske arbeite. Doch ich gebe auch nicht vor, von der Krim zu sein. Und so kommt die Gruppe auf die Beziehung zwischen der Krim und der Festlandukraine zu sprechen – auf dass man sie „drüben“ hören möge.
„Turtschynow [2] hat selbst gesagt, dass er die Russen auf die Knie zwingen, ihnen den Prozess machen und sie bestrafen wird!“, beteuert eine strenge Frau mit Brille. Im Gegensatz zu den anderen Gesprächspartnern hat sie kein einziges freundliches Wort übrig.
„Wird Ihnen das im Fernsehen erzählt?“
„Natürlich! Ganz selbstgefällig saß der da, runzelte die Stirn und blähte seine Backen auf. Was glauben Sie denn, warum die Leute sich jetzt erheben? 23 Jahre lebten die einfach so vor sich hin, beschwerten sich nicht und hielten die Klappe. Die hatten Angst – bis jetzt.“ Wie so viele kommt sie auf die „Sprachenfrage“ zu sprechen:
„Ich will Ihnen mal etwas klarmachen. Wir haben Spielzeug gekauft, das war nur auf Chinesisch, Englisch und Ukrainisch beschriftet. Da weißt du nicht, ob die Kreide gegen Kakerlaken ist oder ob die Kinder damit auf der Tafel schreiben können!“
Mir ist, als hätte ich die Geschichte von der Insektizid-Kreide bereits irgendwo gehört. Nun hängt sich ein junger Mann in Militäruniform das Akkordeon um. Eine solche Uniform wird mir bald darauf im besetzten Donezk erneut begegnen.
Eine andere Frau tritt an mich heran, um ihre Meinung zu sagen:
„Nach Abzug aller Steuern bleiben vom Gehalt noch 50 Dollar im Monat. Davon muss man 18 Dollar nur für die täglichen Mahlzeiten abziehen. In Russland wird das anders sein.“
Die Leute bilden fast so etwas wie eine Warteschlange.
„Junge Dame, es gibt keine Probleme zwischen der Ukraine und Russland“, wirft ein staatlicher Mann mit Schnurrbart und Schiebermütze ein. „Die Menschen leben in Frieden und Eintracht, doch wenn nationalistische Ideen zum Maßstab allen Handelns gemacht werden, dann ist das schlecht. Es hat doch niemand behauptet, dass in der Westukraine alle Menschen schlecht seien. Aber Nationalisten und Extremisten, die an die Macht kommen – was soll das bitteschön? Nehmen wir den Vorsitzenden der Partei ‚Swoboda‘ Tjahnybok, oder die Swoboda-Abgeordnete Iryna Farion, die dazu aufruft, alle Nicht-Ukrainer zu vernichten. Die beiden sagen schreckliche Dinge. Oder Jarosch, [3] der allen Moskowitern [4] den Krieg erklärt hat. Gut, Jarosch ist nicht an der Macht, aber er tritt bei den Präsidentschaftswahlen an! Die Ukraine kann doch in der Europäischen Union und in der Zollunion [5] sein! Um Himmels Willen! Aber dann bitte ohne Nazismus und Extremismus, wie ein normaler, zivilisierter Staat. Ich glaube, dass die Leute in der Ukraine das alles früher oder später begreifen werden und sich davon lossagen. Dann sind einem solchen Volk Ruhm und Ehre gewiss, und ich werde mein Haupt vor ihnen beugen!“
Das Akkordeon verstummt. Die ganze Gruppe hebt im Chor an.
Sewastopol, Sewastopol,
Stolz der Matrosen, Russen, der Deinen
oh legendäres Sewastopol,
Bollwerk wider alle Feinde!
Vom Nachimowplatz aus wollen wir die Uferseite wechseln – auf die „Nordseite“, wie das Viertel in Sewastopol genannt wird. Dort befindet sich der letzte noch nicht eingenommene Stützpunkt samt den Wohnheimen der ukrainischen Militärangehörigen. Die Fähre, ein öffentliches Verkehrsmittel, verkehrt von morgens bis abends und schafft die Strecke in einer Viertelstunde. Die meisten Passagiere sind Berufstätige auf dem Weg von der Arbeit zu den Wohngebieten am Stadtrand. Einige befinden sich auf dem Rückweg von einem Konzert, das dem „baldigen Anschluss an Russland“ gewidmet ist. Formal ist es noch ein Tag bis dahin. Die Strecke mag zwar sehr kurz sein, doch die Vorstellung auf dem Schiff Gespräche zu führen, behagt mir nicht. An Land kannst du einfach weggehen, hier gibt es kein Entkommen.
Man gab uns den Tipp, beim Anlegen auf die Kaimauer zu achten. Vom Schiff aus soll eine riesige gelb-blaue Flagge zu sehen sein, die auf den Beton der Anlegestelle aufgemalt wurde – Symbol des gewaltfreien Widerstands, das immer wieder überstrichen und dann in monatelanger Arbeit neu aufgemalt wird. Wir versuchen zu filmen, aber das erweist sich in der Dunkelheit als unmöglich.
Am Pier erwartet uns ein ukrainischer Offizier im Ruhestand, um uns mit seinem Wagen zu seinen Bekannten zu bringen. Wir sind in Eile. Im Vorbeifahren erhasche ich einen Blick auf ein Schild: „Fliegerhorst Belbek“. Hier ist eine Brigade der taktischen Luftstreitkräfte stationiert.
Der Begriff „Belbek“ ist derzeit in aller Munde. Wie auch der Name Julij Mamtschur, Oberst der taktischen Luftwaffenbrigade des Luftwaffenkommandos „Süd“. Dieser Tage ist „Belbek“ ein weiteres Symbol des Widerstands.
Rund zwei Wochen zuvor, am 4. März 2014, rückten ukrainische Militärangehörige mit der ukrainischen Nationalflagge in den Händen und mit der ukrainische Nationalhymne auf den Lippen unter Führung von Mamtschur zu den bewaffneten Soldaten vor, die die Zufahrt zum Stützpunkt blockierten. Man schoss den Ukrainern vor die Füße. Im Laufe eines Tages kam der Stützpunkt wieder unter ukrainische Kontrolle. Am 12. März brach jedoch ein Feuer im – zu diesem Zeitpunkt bereits von russischen Spezialeinheiten eroberten – Stützpunkt aus. Die Ukrainer haben es gelöscht.
Selbst jetzt, im Dunkeln, erkennt man noch die ukrainische Flagge neben dem Tor. Diese Nacht wird der Oberst nicht zuhause verbringen, dafür ist seine Frau Larissa vor Ort. Die Offiziersfamilie lebt in einem kleinen Zimmer im nahegelegenen Wohnheim.
Larissa hat eine direkte und bestimmte Art. Es scheint, als hätte sie ihre ganz eigene soldatische Pflicht zu erfüllen. Ihre Stimme klingt nicht verzweifelt. Dabei lassen ihre Worte anderes vermuten:
„Es ist vorbei. Zu spät. Das einzige, was drängt, ist die Erlaubnis zum Verlassen des Stabs – und selbst das ist schon seit einer Woche überfällig. Alles, was die Einheit hätte bewachen sollen, ist entweder beschlagnahmt oder zerstört. Und die eigenen vier Wände zu beschützen und Menschenleben zu riskieren macht keinen Sinn. Uns ist bewusst, dass die russische Armee an den Grenzen zur Ukraine aufmarschiert. Falls es dort losgeht, wird uns niemand herauslassen, um unserer Armee zu helfen. Man hätte unsere Truppen ohnehin früher abziehen müssen. Selbst wenn es nicht 20.000, sondern nur 10.000 wären, es sind immer noch ausgebildete Spezialkräfte.“
„Wie lauten derzeit Ihre Befehle? Was spielt sich hier gerade ab?“
„Es heißt, sie seien gerade in der „Entscheidungsfindung“. So gut wie alle fühlen sich im Stich gelassen. In dieser Situation sind uns die Hände gebunden. Der Befehl, „den Umständen entsprechend zu handeln“, ist eine bequeme Ausrede, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Ganz gleich, was wir tun – wir werden so oder so als Verräter verurteilt. Der Oberst trägt die Verantwortung für das gesamte Eigentum, das bereits zerstört wurde. Aus dem Stab kann er nicht ausscheiden, außer er jagt sich eine Kugel in den Kopf. Verlässt er den Stab, wird er als Verräter betrachtet. Sie wollen wissen, was in den kommenden Tagen passieren wird? Wir reden hier von Stunden. Drei Regimenter, darunter unser eigenes, wurden noch nicht festgesetzt. Wir erwarten die baldige Stürmung. Unsere einzigen Informationen beziehen wir aus dem Fernsehen, und dabei nicht einmal dem ukrainischen. Unser Flugplatz, die Ausrüstung – alles wurde bereits zerstört. Wir sind umzingelt von bewaffneten Männern.“
Der Hoffnungslosigkeit zum Trotz wollen wir sofort in unserer Funktion als Journalisten helfen. Ich frage also, welche Hilfe die Militärangehörigen und ihre Familien nach dem „Referendum“ brauchen.
„Wir sehen alles nur von unserer begrenzten Warte aus. Niemand traut sich, über Flucht zu reden, das wäre feige. Aber wir sitzen einfach da und warten, da es keine Befehle gibt. Die größte Angst haben wir davor, dass in der Ukraine ein Krieg ausbricht. In den vergangenen drei Wochen haben wir uns moralisch und physisch an die Situation gewöhnt. Es gibt jetzt nicht viel zu helfen, es sei denn, das Militär würde auf das Festland verlegt.“
„Unterkunft, Geld, wenigstens irgendwas?“
„Stellt euch vor, die Leute lassen alles stehen und liegen, ihre Möbel, alles Mögliche. Gebe Gott, dass wir wenigstens einige Koffer packen können. Wo sollen wir nur hin – aufs freie Feld? Hier hat zumindest fast jeder ein Zimmer im Wohnheim, eine eigene Wohnung, oder die der Eltern. Und dort – nichts.“
Larissa macht eine lange Pause. Dann fährt sie fort:
„Ich kann nicht behaupten, dass das ukrainische Volk uns nicht helfen würde. Wir werden aus allen möglichen Gegenden des Landes angerufen und moralisch unterstützt. Tablets haben wir auch erhalten, Internet haben wir. Die einzige spürbare Unterstützung
kommt vom ukrainischen Volk. Wenn wir ermutigende Worte hören, etwa im Fernsehen… dann rühren sie uns zu Tränen. So leben wir. 99 Prozent der Militärangehörigen hält zu diesem Volk. Ob das auf die Regierung zutrifft, lässt sich schwer sagen. Aber für dieses Volk werden wir weiter einstehen.“
„Was hier vor sich geht? Die russischen Truppen drängen uns an die Wand. De facto befinden wir uns jetzt auf fremdem Territorium. Seit dem Referendum sind wir für sie nicht mehr als bewaffnete Banditen, die ausgemerzt werden müssen. Das muss denen in Kyjiw klarwerden, aber die Leitungen sind gekappt.“ Major Leonid Lisowij, der Nachbar der Familie Mamtschur, schaltet sich in die Unterhaltung ein:
„Ich glaube nicht, dass es jetzt noch Sinn macht, Waffengewalt anzuwenden. Das wäre Brudermord.Wir haben jedoch keine Verbindung zum Verteidigungsministerium. Wenn es doch nur potente Machthaber hätte, die hierher auf die Krim, nach Simferopol, kämen, um sich hinzusetzen und zu einer Vereinbarung zu kommen. Aber so werden wir Tag für Tag weiter zurückgedrängt.“
Major Lisowij hat eine Entscheidung getroffen. Gebürtig stammt er aus Winnyzja. Seine Eltern leben dort, vor kurzem hat er seine Frau dorthin geschickt. Eine Unterkunft auf der Krim hat er nicht erhalten.
„Auf dem Dienstweg hat mir niemand etwas angeboten. Sowie ich in Winnyzja angekommen bin, vereinbare ich ein Treffen mit dem diensthabenden Offizier und bitte ihn, mich für ein weiteres Jahr zu verpflichten. Ich würde gerne. Kommt er zu dem Schluss, dass ich gebraucht werde – dann werde ich dienen. Falls nicht, schreibe ich einen Bericht und lasse mich aus dem Dienst entlassen. Und was dann? Ich weiß es nicht. Das ist Sache der Machthaber.“
So dächten Lisowij zufolge viele der Militärangehörigen, die nicht von der Krim kämen. Die Ortsansässigen hingegen, mit Familie, Eltern, Frau, die blieben hier.
Als wir aufbrechen, registriert mein estnischer Kollege die bescheidenen Lebensverhältnisse der ukrainischen Offiziere. Überall auf den Fluren stehen große, karierte Taschen; Hinweise für die Abreisevorbereitungen der Familien. [6]
Nicht nur die Wohnungen und Familie hindern die Ortsansässigen an der Abreise. Wiktor Wasylowytsch, der Offizier außer Dienst, der uns zu diesem Stützpunkt und diesem Wohnheim gebracht hat, sagt, dass er die Halbinsel nicht einfach so verlassen könne. Es ist noch nicht so lange her, dass sein Sohn bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Und die Person, die den Unfall zu verantworten habe, sei noch nicht verurteilt worden. Der Prozess dauere noch an. „Ich verstehe einfach nicht, wie das sein kann, und ich kann nicht zulassen, dass die Akte einfach geschlossen wird“, erklärt er leise.
In der Innenstadt treffen wir uns mit einem anderen Angehörigen der ukrainischen Marine. Seine ganze Familie stammt aus Sewastopol. Roman mimt für uns den Tourguide und führt uns durch die Stadt. Er zeigt uns das „Moskauer Haus“ und das russische Offizierskasino, das schon sehr lange auf der Krim ansässig ist. Dabei wiederholt er gebetsmühlenartig, wie lange Russland hier schon seine Vorherrschaft ins Felsgestein meißelt:
„Sewastopol, die Krim wie auch das Baltikum sind Rückzugsorte für viele Soldaten im Ruhestand. Sie haben in Russland gedient und genießen hier ihre Rente. Und nun fordern sie ein besseres Leben. Sind sie einfach auf die russischen Rentenzahlungen angewiesen. Mit der Krim oder der Ukraine fühlen sie sich in keiner Weise verbunden, deshalb unterstützen sie die Vereinigung mit Russland. Das trifft auch auf diejenigen zu, die für Unternehmen arbeiten, die mit der Wartung der Schwarzmeerflotte betraut sind. Dann gibt es noch die ‚Berufsrussen‘ aus den prorussischen Organisationen. Die jungen Menschen sind in den Jahren nach der Unabhängigkeit auf der Krim aufgewachsen, haben an ukrainischen Hochschulen studiert, sind nach Europa gereist, haben nie in der Sowjetunion gelebt; viele waren noch nie in Russland. Doch im Gegensatz zu den Rentnern sind sie nicht sonderlich aktiv. Denn die haben keine einzige Wahl verpasst.“
Die Straßen sind fast menschenleer. Auf unserem Weg zum Treffen konnten wir die Silhouetten der „höflichen Leute“ erahnen – bewaffneten Soldaten, die um die Häuserblöcke patrouillierten. Einerseits ist die Versuchung groß, weitere Aufnahmen von russischen Sicherheitskräften zu machen. Andererseits ist Vorsicht angebracht: die Aussicht, unsere Papiere vorzeigen zu müssen – einen in Kyjiw ausgestellten ukrainischen Pass und den Reisepass eines estnischen Staatsbürgers –, ist nicht sehr verlockend. Für alle Fälle suchen wir uns einen ruhigeren Ort. Wir sind die einzigen drei Gäste in der scheinbar einzigen Bar, die um die Uhrzeit noch im Stadtzentrum offen hat. Ein ukrainischer Sender läuft im Fernsehen. Ich will wissen, ob sie auch andere Sender empfangen. Das Mädchen hinter der Theke sagt, dass ihre Eltern zwar alle Sender empfangen, aber ihnen keinen Glauben schenken würden. „Da zeigen sie Massen von Menschen auf der Flucht, aber Sie sehen doch, dass das nicht der Fall ist.“
„Das größte Problem für die ukrainischen Seestreitkräfte und die ukrainischen Bürger auf der Krim besteht in der Untätigkeit der Machthaber in Kyjiw. Drei Wochen lang musste das Militär ohne schriftliche Befehle auskommen. Es gab lediglich Anrufe aus dem Verteidigungsministerium und dem Generalstab. Wir sollen auf unseren Posten bleiben, hieß es, doch was zu tun sei, wissen sie nicht“, erklärt Roman.
Seiner Ansicht nach müsse man entweder alle Truppen abziehen oder aber sich auf die Bedingungen einigen, unter denen sie hierbleiben können. Doch dafür bliebe keine Zeit:
„In den kommenden Tagen werden die übrigen Stützpunkte erobert. Ohne Beistand vom Festland werden sie sich nicht halten können. Der Vorsitzende des Ministerrats der Krim hat angekündigt, dass das gesamte Eigentum auf dem Territorium der Halbinsel verstaatlicht wird – und damit auch alles, was der Marine gehört. Sie werden also alles mitnehmen, Waffen, Militärtechnik, Schiffe, die Magazinbestände, einfach alles. Aktuell liegen in der Striletzkij-Bucht einige Schiffe und U‑Boote, hinzukommen einige bemannte ukrainische Schiffe am südlichen Marinestützpunkt in Donuslaw. Wenn es wie von Aksjonow angekündigt dazu kommt, dass sie ebenfalls festgesetzt werden, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Schiffe entweder preiszugeben, abzuziehen oder zu versenken. Die Leute handeln auf eigene Initiative, ohne klare Anweisungen aus Kyjiw. Das kann nicht lange gutgehen. In Nowooserne wurde bereits eine Garnison eingenommen. Mindestens die Hälfte aller Schiffe wurde seit der Unabhängigkeit in der Werft in Mykolajiw vom Stapel gelassen. Das alles setzt die Ukraine durch die Unentschlossenheit Kyjiws aufs Spiel.“
Wir verabschieden uns und wollen aufbrechen. Den ganzen Abend über war Roman besonnen, führte Fakten an, legte Argumente dar. Doch plötzlich klingt seine Stimme verärgert, so als wäre das Wichtigste noch nicht zur Sprache gekommen:
„Wie kann es sein, dass wir, eine Nation der Kosaken, uns kampflos ergeben haben? Das bekümmert mich zutiefst. Ich weiß nicht, was ihr in Kyjiw so denkt, aber hier fragen sich alle, wie ihr Leben unter Russland aussehen wird.“
„Werden Sie die russische Staatsbürgerschaft annehmen?“
„Wenn die Krim russisch wird, lässt sich das wohl nicht umgehen. Was bleibt mir sonst übrig? Man hat uns im Stich gelassen. Von Rechts wegen hätten wir auf die Angreifer schießen müssen. Aber wir unterließen es – auch, weil die Soldaten sich nicht sicher sein konnten, ob Kyjiw ihnen den Rücken decken würde. Den Angreifern folgte das russische Militär auf dem Fuße – vielleicht hatte sich das russische Militär auch die Uniform der Volksmilizen übergezogen. Wir werden hier von einer Horde aus Banditen regiert werden wie in Tschetschenien, und dabei zusehen, wie die Ukraine EU- und NATO-Mitglied wird.“ Roman führt seinen inneren Dialog fort. „Eine starke Armee, eine starke Wirtschaft – und die Krimbewohner werden selbst darum bitten, wieder ein Teil der Ukraine zu werden. Doch bis es so weit ist, werden noch viele Jahre vergehen. Vielleicht kommt es hier auch zu ethnischen Säuberungen gegen Ukrainer, und es werden mehr Menschen leiden müssen, als wenn anstelle des schrittweisen russischen Eindringens ein offener, bewaffneter Konflikt ausgebrochen wäre“
Ich werde Roman ein halbes Jahr später in Odesa wiedertreffen. Dorthin wurde seine Einheit von der Krim verlegt. In Sewastopol unterhielt er sich noch in seiner Muttersprache Russisch. Nach einem halben Jahr in Odesa hat er sie abgelegt. Für ihn ist es die Sprache der Verräter.
Weiter zum dritten Teil.
- Serhij Aksjonow, ehemaliger Abgeordneter des Parlaments der Autonomen Republik Krim und Vorsitzender der prorussischen Partei „Russische Einheit“, gilt als einer der Drahtzieher hinter dem völkerrechtswidrigen Referendum über die Abspaltung der Krim von der Ukraine (Anm. d. Übers.).
- Oleksandr Turtschynow. Nach der Flucht von Wiktor Janukowytsch vom 23. Februar bis zu zur Amtseinsetzung von Petro Poroschenko am 7. Juni 2014 Übergangspräsident der Ukraine (Anm. d. Autorin).
- Dmitrij Jarosch. 2014 der Anführer der nationalistischen Bewegung „Rechter Sektor“ (Anm. d. Autorin).
- „Moskaly“ im ukr. Original. Abwertende Bezeichnung für Menschen aus Russland (Anm. d. Übers.).
- Seit 2015 Eurasische Wirtschaftsunion. Mitgliedstaaten: Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Weißrussland (Anm. d. Übers.).
- Am 22. März 2014 verteidigte die 204. Brigade der taktischen Luftwaffe unter dem Kommando von Julij Mamtschur in Eigenregie den Stützpunkt A‑4515, der schlussendlich durch russische Besatzungstruppen und unbekannte bewaffnete Einheiten eingenommen wurde. Nach der Stürmung wurde Mamtschur von russischen Militärangehörigen verschleppt. Anschließend wird Mamtschur selbst erzählen, dass er drei Tage in Isolationshaft festhalten wurde. Russische Soldaten hätten versucht, ihn zum Übertritt in die russische Armee zu bewegen. Am 26. März 2014 verließ Mamtschur gemeinsam mit fünf weiteren gefangenen Offizieren unter Begleitung russischer Sturmgewehre die Krim. Seine Einheit wurde nach Mykolajiw verlegt. Von 2014 bis 2019 war Mamtschur für den Block Petro Poroschenko Abgeordneter in der Werchowna Rada (Anm. d. Autorin).
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen Auszug aus Nataliya Gumenyuk: Die verlorene Insel. Reportagen von der besetzten Krim, ibidem-Verlag, Stuttgart: 2020. Erhältlich ab Herbst 2020 unter ISBN978–3‑8382–1499‑3 im Buchhandel.
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