Nata­liya Gume­nyuk – Die ver­lo­rene Insel 1.3

© Silver Meikar

Im Früh­jahr brachte die Jour­na­lis­tin Nata­liya Gume­nyuk das Buch Zahub­lenyi Ostriv (Die ver­lo­rene Insel) heraus, in dem sie Geschich­ten von Men­schen auf der Krim nie­der­ge­schrie­ben hat. Nun wird das Buch ins Deut­sche über­setzt. Wir dürfen vorab das erste Kapitel ver­öf­fent­li­chen. Darin gibt Nata­liya Gume­nyuk ihre Ein­drü­cke von einer Reise auf die Krim wieder, die sie im März 2014 unter­nom­men und die sie nach Bacht­schys­sa­raj – Bala­klawa – Sewas­to­pol – Jalta – Sim­fero­pol geführt hat.

Die Über­set­zung ist das Ergeb­nis einer Zusam­men­ar­beit von Simon Muschick, Dario Planert und Johann Zajaczkowski.

Auf den Dächern der Plat­ten­bau­ten von Sewas­to­pol wehen rus­si­sche Flaggen. Kri­ti­ker der Anne­xion sind unver­se­hens im Unter­grund gelan­det. In einer wei­te­ren Wohn­sied­lung am Rande dieser Stadt, die mir gigan­tisch vor­kommt, da wir von einem Viertel ins nächste jedes Mal min­des­tens eine Stunde unter­wegs sind, treffen wir eben­sol­che Kri­ti­ker in Gestalt eines Ehepaares.

Die beiden sind Mit­glie­der einer evan­ge­li­ka­len Kir­chen­ge­meinde und haben schreck­li­che Angst vor dem, was noch kommen mag. Sie erzäh­len über den Druck gegen und die Gefah­ren für Gläu­bige, die einer anderen Kon­fes­sion ange­hö­ren als der ortho­do­xen Kirche des Mos­kauer Patri­ar­chats. „Kosaken“ und Berkut-Mit­glie­der haben einen Bap­tis­ten­pries­ter am Check­point in der Nähe von Arm­jansk brutal zusam­men­ge­schla­gen. Die Ehe­leute helfen gemein­sam mit anderen Gläu­bi­gen bei der Suche nach einem jungen Glau­bens­bru­der, der offen­bar am selben Check­point ver­schwun­den ist. Infor­ma­tio­nen zu dem Jungen werden münd­lich unter den Gemein­de­mit­glie­dern wei­ter­ge­ge­ben. Wir sind über­for­dert. Wie soll man das alles schaf­fen? Wir sind in Sewas­to­pol und schaf­fen es nicht vor Mit­ter­nacht von der Halb­in­sel her­un­ter. Ich notiere alle Tele­fon­num­mern und leite sie an die Redak­tion weiter.

„Ent­schul­di­gen Sie bitte mein Krim-Kau­der­welsch“ [1], sagt der Mann auf Rus­sisch. „Das ist ein ent­setz­li­ches Gefühl. Ich hatte nie ein Problem damit, wie ich spreche. Aber jetzt schon. Und ich möchte diesen Scharf­ma­chern sagen: ‚Ja, es gibt ein Problem. Und ihr habt es mir ein­ge­brockt. Danke!‘“, das letzte Wort sagt er auf Ukrainisch.

Es gibt auf der Halb­in­sel immer noch Stra­ßen­sper­ren, an denen die Papiere kon­trol­liert werden. Um aus der Stadt zu gelan­gen, haben wir beschlos­sen, uns mit dem Chauf­feur eines est­ni­schen Geschäfts­man­nes zusam­men zutun, bei dem wir für einige Tage in Bal­a­k­lawa, einem Viertel in Sewas­to­pol, unter­ge­kom­men sind. Olek­sandr war einer der­je­ni­gen, die an den Stra­ßen­sper­ren die Ankunft des „Rechten Sektors“ erwar­tet haben. An dem teuren Wagen flat­tert ein Georgs­bänd­chen. Ich höre fast die gesamte Strecke über nur zu und halte meinen Mund; ich bin einfach nur ein ukrai­ni­sches Mädchen, die Freun­din des Lands­man­nes seines est­ni­schen Bosses.

Mein est­ni­scher Kollege hat im Übrigen einen kon­kre­ten Auftrag: in Simejis lebt der berühmte est­ni­sche Bas­ket­ball­profi, ehe­ma­li­ger sowje­ti­scher Meister und in jüngs­ter Zeit auch Schrift­stel­ler Mihkel Tiks. Für seinen Ruhe­stand hat er sich auf der Krim nie­der­ge­las­sen. So wie die bri­ti­schen Rentner nach Spanien aus­wan­dern, so fänden die Esten ihren See­len­frie­den eben auf der Krim, sagt er. Aus dem Fenster seines schlich­ten, licht­durch­flu­te­ten Hauses hat man einen herr­li­chen Blick über die Zypres­sen und auf das Meer.

Tiks lebt seit acht Jahren hier. Selbst in diesen unru­hi­gen Tagen ist es an der Süd­küste für gewöhn­lich ruhig. Es gibt keine Stütz­punkte, daher pas­siert nicht viel. Dabei sind die Nach­rich­ten beängs­ti­gend: „Hier ver­schwin­det ein ukrai­ni­scher Soldat, da ein fran­zö­si­scher General, dort finden sie einen toten Krim­ta­ta­ren, und die­je­ni­gen, die gegen die Besat­zung sind, sollten besser den Mund halten, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Es ist besser, wenn sie die Krim ver­las­sen.“ Tiks sin­niert über die Frage, wie die Krim wieder ukrai­nisch werden könne. Wenn das Land zu neuen Kräften komme, würden die Bewoh­ner der Krim in fünf Jahren von selbst zurückwollen:

„Im Laufe der Jahre habe ich ver­stan­den, dass die Bewoh­ner der Krim niemals aus eigener Anschau­ung erfah­ren haben, was Demo­kra­tie und Rechts­staat­lich­keit bedeu­ten. Man kann ihnen nur schwer etwas erklä­ren, was sie noch nie selbst erlebt haben. Ich kann sogar nach­voll­zie­hen, dass die Leute die gesamte Ära unter Janu­ko­wytsch über alle Maßen satt haben, die Macht der Olig­ar­chen, die all­ge­gen­wär­tige Kor­rup­tion, aber aus irgend­ei­nem Grund haben die Leute beschlos­sen, dass Russ­land das alles im Griff hat“, sagt er, über­rascht von seinen eigenen Worten.

Es wirkt, als habe er lange auf die Gele­gen­heit zu einem Gespräch mit einem Lands­mann gewar­tet. Dieser Tage hat er nur wenig Kontakt zu seinen Nachbarn.

Wir befin­den uns unweit von Jalta, weshalb wir uns zu einem kurzen Abste­cher in die Stadt ent­schlie­ßen. Auf der Strand­pro­me­nade unter­hal­ten wir uns mit einer Reihe von Sou­ve­nir-Ver­käu­fern und Spa­zier­gän­gern. In stür­mi­schen Zeiten finden die Mei­nun­gen solcher Men­schen kaum Beach­tung. Auf den ersten Blick wirken sie wie gleich­gül­tige Beob­ach­ter. Tat­säch­lich aber bilden eben diese Men­schen die Mehr­heit. Die meisten unserer Gesprächs­part­ner sagen, sie seien „weder dafür noch dagegen, da sich nichts wirk­lich geän­dert hat und auch nicht ändern soll.“

Unter­wegs halten wir für einige Minuten am soge­nann­ten Schwal­ben­nest, einem Schloss, das unter Tou­ris­ten sehr beliebt ist. Wir machen ein paar Fotos. Und das viel­leicht einzige Selfie der gesam­ten Reise. Für uns selbst. Tou­ris­ti­sche Auf­nah­men kommen uns in diesem Augen­blick beson­ders wert­voll vor (und tat­säch­lich werden in den nächs­ten Jahren nur wenige unbe­las­tete Ein­drü­cke von der Krim in den ukrai­ni­schen Medien zu sehen sein).

Zurück in Bal­a­k­lawa kehren wir das erste Mal auf dieser Reise zum Abend­essen in ein Restau­rant ein. Der ein­ge­schal­tete Fern­se­her sendet aus dem Georgs-Saal im Kreml. Die Sepa­ra­tis­ten­füh­rer, der „Volks­de­pu­tierte“ von Sewas­to­pol, Oleksij Tscha­lij, der soge­nannte Regie­rungs­chef der Krim Serhij Aks­jo­now und der Par­la­ments­spre­cher Wolo­dymyr Kost­jan­ty­now unter­zeich­nen gemein­sam mit Putin einen „Vertrag über die Auf­nahme der Krim und Sewas­to­pols als neue Föde­ra­ti­ons­sub­jekte der Rus­si­schen Föde­ra­tion“. Putin unter­zeich­net ein Dekret über den Anschluss der Krim. Ich ver­su­che, die Emo­tio­nen der Besu­cher von ihren Gesich­tern abzu­le­sen. Freuen sie sich? Sind sie empört? Das alles gemahnt an eine Szene wie aus einer Dys­to­pie, in welcher die Men­schen aus dem Unter­grund unver­se­hens in eine Bar geraten sind und nun Angst haben, das einer der anwe­sen­den Gäste sie bloß­stellt, indem er mit dem Finger auf sie zeigt und ruft: „Seht her, da sitzen die Auf­stän­di­schen!“ Ich möchte von hier verschwinden.

An der Mauer des Nach­bar­ge­bäu­des prangt ein Schrift­zug: „Wer in Angst lebt, wird an der Angst zugrunde gehen.“

Wir planen unsere Rück­reise nach Kyjiw. Am nächs­ten Tag soll ich die Eröff­nungs­feier der Docu­days, einem Doku­men­tar­film-Fes­ti­val über Men­schen­rechte, mode­rie­ren. Auf der Krim wurden zwei bekannte Regis­seure des Film­kol­lek­tivs Babylon-13 fest­ge­nom­men. Der Kame­ra­mann Jurij Gru­zins­kij und Jaros­law Pil­unskij. Der Vater des Letz­te­ren ist ein auf der Krim bekann­ter Poli­ti­ker, der sich offen gegen die rus­si­sche Anne­xion aus­ge­spro­chen hat. Sie wurden am Check­point Tschon­gar fest­ge­nom­men und sechs Tage gefan­gen gehalten.

Aus irgend­ei­nem Grund scheint es mir, als könnte ich nach meiner Rück­kehr von der Krim berich­ten, was dort wirk­lich vor sich geht. Vor meiner Abreise erhalte ich noch einige Kon­takte von Akti­vis­ten des Euro­mai­dan auf der Krim. Unter diesen Umstän­den haben Gesprächs­part­ner hohen Seltenheitswert.

Sie sind Schwes­tern. Die jüngere ist um die 65, die ältere 75 Jahre alt. Sie nennen ein gemüt­li­ches Haus am Stadt­rand von Sim­fe­ro­pol ihr Eigen. Obwohl sie wissen, dass wir es eilig haben, ver­su­chen sie uns, wenn schon nicht zum Essen, so doch wenigs­tens auf einen Kaffee einzuladen.

„Natalko, jeden Tag sind wir zu den Kund­ge­bun­gen gegan­gen, aber wir waren zu wenige“, so die Jüngere.

„Nein, dass wir zu wenige waren ist nicht der Grund für das alles; das wurde schon lange vorher ent­schie­den“, wider­spricht die Ältere.

© Silver Meikar

„Hier auf der Krim hat man den Maidan nicht ver­stan­den. Erst hin­ter­her begann man sich dafür zu inter­es­sie­ren. Es gab aber auch Leute mit pro-rus­si­schen Ansich­ten, die ver­stan­den haben, dass der Maidan nicht gekauft war, dass die Leute schlicht und ergrei­fend für ihre Rechte, ihre Ehre, Würde, und für die Frei­heit auf die Straße gegan­gen sind. Erst durch die Falsch­mel­dun­gen, wonach Scharf­schüt­zen auf­sei­ten der Oppo­si­tion auf dem Maidan das Feuer eröff­net hätten, ist die Stim­mung hier gekippt. Hier ist ‚Inter‘ [2] der belieb­teste Fern­seh­sen­der. Der hat erst nach den Schüs­sen am 20. Februar eine etwas objek­ti­vere Bericht­erstat­tung gebracht. Dabei hat die intel­lek­tu­elle Elite in Kyjiw, ja in der gesam­ten Ukraine, keinen men­ta­len Bezug zur Krim. In Jalta etwa gibt es ein kleines Museum über die Schrift­stel­le­rin Lesija Ukra­jinka, die einige Jahre auf der Krim ver­bracht hat, aber ich bin mir nicht sicher, ob Oksana Zabuschko oder Jurij Andrucho­wytsch jemals dort waren. Und war er es nicht, der gesagt hat: ‚Lasst uns die Krim doch abgeben!‘ Und was sagt der Autor der ‚Schwar­zen Sonne‘, Wasyl Schkljar? Wie konnte man nur das Koles­nit­schenko-Kiwalow-Gesetz auf­he­ben! [3] Es stimmt, dass das Gesetz falsch ist, doch es braucht eine fein­füh­li­gere, fle­xi­blere Politik. Die Liebe zu Kultur und Sprache muss in den Men­schen geweckt werden anstatt sie ihnen mit dem Schwert aufzuzwingen“

„Das reicht jetzt!“, unter­bricht sie die ältere Schwes­ter. Sie hat Angst, dass die Jüngere zu viel preisgibt.

„Herr­gott noch eins! Das wissen doch alle!“

„Walya, willst du Nummer 15 auf der Ver­miss­ten­liste werden?“

Eine heiß­dis­ku­tierte Frage ist das Ver­hal­ten Kyjiws nach der soge­nann­ten Abstim­mung. Die Jüngere befindet:

„Ich für meinen Teil liebe die Ukraine so sehr, dass ich bereit wäre, Opfer zu bringen. Einen Ofen bauen, mit Brenn­holz befeu­ern. Aber ich finde nicht, dass die Ukraine die Strom­ver­sor­gung unter­bre­chen sollte. Es zahlt sich aus, die Men­schen zu unter­stüt­zen, die 23 Jahre lang ihre Bürger gewesen sind. Es gibt hier tat­säch­lich auch welche, die die ukrai­ni­sche Sprache unter­stüt­zen, und das sind nicht nur eth­ni­sche Ukrai­ner, sondern rus­sisch­spra­chige und sogar eth­ni­sche Russen. Es ist alles so kom­pli­ziert, ich kann mir nicht vor­stel­len, wie man sich mit dieser ille­gi­ti­men Regie­rung an den Ver­hand­lungs­tisch setzen könnte. Aber die Hoff­nung stirbt zuletzt.“

„Und worauf hofft ihr?“

„Wir setzen auf uns selbst. Und darauf, dass Aks­jo­now und Kon­sor­ten und nicht hinter Gittern bringen, weil wir andere Ansich­ten haben…“

„Wir suchen uns Trost. Wir spa­zie­ren draußen in unseren wun­der­schö­nen Garten. Kommt in einem Monat nochmal vorbei, dann seht ihr, wie hier alles blüht…“. Für einen Moment wech­selt die Frau das Thema. Dann fährt sie fort:

„Aber wir wissen nicht, welche Rechte wir dann noch haben werden. Wie können wir die Bindung mit der Ukraine auf­recht­erhal­ten? Sie rufen zur Eva­ku­ie­rung der Zivil­be­völ­ke­rung auf. Aber weshalb sollten wir unsere Häus­chen ver­las­sen? Erstens haben wir Angst vor Plün­de­run­gen. Zwei­tens ist uns nicht begreif­lich, warum wir die Orte, an denen wir ein halbes Jahr­hun­dert lang gelebt haben, über­haupt ver­las­sen sollen.“

Die ältere Schwes­ter ergänzt:

„Ich habe 1963 mit dem Bau dieses Hauses begon­nen und lebe seit einem halben Jahr­hun­dert hier. Ich habe alles mit meinen eigenen Händen geschaf­fen, gespach­telt, gestri­chen – alles in der Hoff­nung auf einen ruhigen Lebensabend.“

Inner­halb der kom­men­den zwei­ein­halb Monate werden die Schwes­tern zweimal nach Kyjiw reisen. Davon einmal, um sich für die vor­ge­zo­ge­nen Prä­si­dent­schafts­wah­len zu regis­trie­ren. Die Fahrt nach Kyjiw ist kräf­te­zeh­rend und kostet Zeit und Geld. Für die betag­ten Frauen von der Krim ist sie Bür­ger­pflicht. Wenigs­tens etwas, das sie tun können. Sie freuen sich, in Kyjiw zu sein. Die fest­li­che Stim­mung in den Wahl­lo­ka­len und die gelb-blauen Flaggen, die auf der Krim zum Symbol des Wider­stands gewor­den sind. Wir unter­hal­ten uns vor dem Eingang zu einem Wahl­lo­kal im Zentrum der Stadt, rund ein­hun­dert Meter vom Maidan ent­fernt. Eine der Wahl­be­ob­ach­te­rin­nen, eine Maidan-Akti­vis­tin, will wissen, woher die Frauen stammen. „Ihr seid von der Krim? Warum habt ihr sie nicht ver­tei­digt?“, fragt sie in vor­wurfs­vol­lem Ton. „Hier in Kyjiw haben Frauen in Pelz­män­teln Pflas­ter­steine her­aus­ge­bro­chen und Molotow-Cock­tails vorbereitet.“

„Was konnten wir schon groß tun? Auch wir sind auf die Straße gegan­gen. Nur standen uns bewaff­nete Leute gegen­über“, ver­tei­digt sich die jüngere Schwes­ter. Die ältere schweigt.

Für gewöhn­lich mische ich mich nicht in Gesprä­che ein, sondern beschränke mich auf die Rolle der Beob­ach­te­rin. Aber hier kann ich mich nicht zurück­hal­ten und nehme die Wahl­be­ob­ach­te­rin zur Seite. „Ist Ihnen über­haupt bewusst, was Sie da sagen? Diese beiden Damen haben am Euro­mai­dan auf der Krim teil­ge­nom­men. Sie sind eigens nach Kyjiw gekom­men, nur um ihre Stimme abzu­ge­ben. Sie haben schon genug Sorgen. Können Sie sich vor­stel­len, mit welchen Gedan­ken sie jetzt auf die Krim zurück­keh­ren werden?“ Die Frau geht zurück und ent­schul­digt sich.

Der Zug Sim­fe­ro­pol-Kyjiw pas­siert Dschankoi, den letzten Halt auf der Halb­in­sel. Das bedeu­tet, dass es keine Kon­trol­len mehr durch Kosaken oder „Krimnasch“-Aktivisten [4] geben wird. Ein paar Minuten lang schwei­gen die Pas­sa­giere einfach. Sie hängen ihren Gedan­ken nach oder schauen auf die Bild­schirme ihrer Smart­phones. Dann blicken sie auf und begin­nen zu reden. Schnell wird klar, dass in unserem Abteil niemand die Anne­xion unterstützt.

„Diese Ver­rä­ter! Sie haben uns fallen lassen um einem anderen Staat zu dienen“, empört sich eine junge Frau, die, wie sich her­aus­stellt, für die Staats­an­walt­schaft in Sim­fe­ro­pol tätig war. „Man sollte sie alle vor Gericht bringen. Sie sind Jour­na­lis­tin? Wissen Sie viel­leicht, ob man uns dort Arbeit ver­schafft? Ich habe einfach meine Sachen gepackt und mich auf den Weg nach Kyjiw gemacht. Ich werde bei der Gene­ral­staats­an­walt­schaft anrufen und fragen, wo ich jetzt arbei­ten soll. Ich hoffe, es findet sich eine Mög­lich­keit. Wo soll ich sonst hin? Ich bin zwar von der Krim, aber mit Ver­rä­tern und Eid­bre­chern zusam­men­ar­bei­ten – niemals!“

Ende Kapitel 1

 

  1.  „Sur­schyk“ im ukr. Ori­gi­nal. Als Sur­schyk wird eine infor­melle Misch­spra­che aus Ukrai­nisch und Rus­sisch bezeich­net (Anm. d. Übers.).
  2. Im Besitz des zum pro-rus­si­schen Mei­nungs­spek­trum zäh­len­den Olig­ar­chen Dmytro Fir­tasch. Während des Maidan über­wie­gend regie­rungs- und kreml-freund­li­che Bericht­erstat­tung (Anm. d. Autorin).
  3. Popu­läre Bezeich­nung für das Gesetz „Über die Grund­la­gen der staat­li­chen Spra­chen­po­li­tik“, die auf die Namen zweier pro-rus­si­scher Abge­ord­ne­ter zurück­geht. De jure garan­tiert das 2012 ange­nom­mene Gesetz die Nutzung „regio­na­ler Spra­chen“ in der Ukraine. De facto machte das Gesetz Rus­sisch in einigen Regio­nen zur zweiten Amts­spra­che und ver­rin­gerte nach Ansicht der Kri­ti­ker die staat­li­che Unter­stüt­zung für die ukrai­ni­sche Sprache. Unmit­tel­bar nach dem Maidan stimmte die Wer­chowna Rada für die Auf­he­bung des Geset­zes – ein Vorgang, den sich die rus­si­sche Pro­pa­ganda zunutze machte (Anm. d. Autorin).
  4. Dt.: „Die Krim ist unser“ (Anm. d. Übers.).

 

Bei dem vor­lie­gen­den Text handelt es sich um einen Auszug aus Nata­liya Gume­nyuk: Die ver­lo­rene Insel. Repor­ta­gen von der besetz­ten Krim, ibidem-Verlag, Stutt­gart: 2020. Erhält­lich ab Herbst 2020 unter ISBN978–3‑8382–1499‑3 im Buchhandel.

Textende

Portrait von Johann

Johann Zaja­cz­kow­ski pro­mo­viert an der Uni­ver­si­tät Bonn zu den ukrai­ni­schen Frei­wil­li­gen­ba­tail­lo­nen und ist als Finanz­ko­or­di­na­tor für den Euro­päi­schen Aus­tausch und ins­be­son­dere die Kyjiwer Gesprä­che tätig. 

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