„Vor den Augen meiner Tochter starben acht Menschen“
Dreiteilige Essayreihe: Augenzeugenberichte von jüdischen Ukrainerinnen und Ukrainern nach Beginn der russischen Invasion. Im zweiten Teil erzählt Irina Poljuschkina vom Überleben ihrer Familie in Mariupol und der dramatischen Flucht nach Israel.
Das Projekt „Exodus-2022 – Jewish Refugees of the Russian-Ukrainian War“ sammelt Augenzeugenberichte von jüdischen Geflüchteten. Studierende, Rentner, Unternehmer, Künstler, Rabbiner – sie alle mussten unter Lebensgefahr ihre Heimatorte verlassen. Projektleiter Michael Gold hat bereits 150 Menschen interviewt. Für einige von ihnen war es die zweite Flucht in ihrem Leben. Sie haben den Holocaust überlebt – jetzt verlassen sie unter Artilleriebeschuss belagerte Städte wie Mariupol.
Irina Poljuschkina, Mathematiklehrerin, Mariupol
„Am 24. Februar machte ich mich morgens für die Arbeit fertig. Ich schaltete den Fernseher an, da wurden Kiew und Charkow schon bombardiert.
Mein Sohn, der seit vier Jahren in Israel lebt, rief mich an: „Mama, aus der Richtung von Berdjansk kommt eine Kolonne mit 400 Panzern!“ Genau in dem Moment klopfte jemand an unser Fenster – da stand ein ukrainischer gepanzerter Personentransporter. Ein Soldat schrie: „Schnell, alle in die Keller, Panzer aus Berdjansk!“ Ich schickte meinen Mann und meine Tochter in den Keller, ich selbst ging zu meiner Mutter, sie wohnte bei mir und war bettlägerig.
Am nächsten Tag kamen sie (das russische Militär, Anmerkung der Redaktion), es gab kein Licht mehr und auch kein Netz. Wir hatten noch Gas und Wasser, aber als sie mit der Bombardierung begannen, wurde auch das Gas abgestellt. Ich sehe die Nachbarn draußen mit einem Handwagen, sie sagen, Mariupol sei eingekreist, die Soldaten hätten die Metro (das Großhandelsunternehmen, Anmerkung der Redaktion) geöffnet und ließen Menschen hinein. Meine Mutter leidet an Diabetes, sie muss eine besondere Diät einhalten, Buchweizen und Hafer. Also gingen wir auch „plündern“, es war Selbsterhaltungstrieb, wir nahmen nur das absolut Notwendige.
In der Wohnung waren es minus fünf Grad
Die ersten Tage übernachtete ich zuhause, obwohl schon Bomben fielen. Aber dann traf eine Granate den Kinderspielplatz, und die Schockwelle zerstörte die Fenster im Zimmer meiner Tochter und im Schlafzimmer meiner Mutter. Wir legten zwei alte Matratzen ins Gästezimmer und trugen meine Mutter dorthin. Aber es herrschte Frost – in der Wohnung waren es minus fünf Grad. Wir wickelten meine Mutter in drei Decken und legten Flaschen mit heißem Wasser um sie herum.
Der Nachbar begrub seinen kleinen Sohn im Hof
Meine sechzehnjährige Tochter Anja schickten wir mit Nachbarn ins Stadtzentrum, wir dachten, es sei dort sicherer. Aber es gab kein Netz, und ich machte mir Vorwürfe, weil ich das Kind weggeschickt hatte.
Nach acht Tagen Bombardierung holten wir unsere Tochter zurück. Es fielen Bomben, aber wir erreichten unser Ziel. Anja war dünn, blass und hungrig. Vor ihren Augen waren acht Menschen gestorben. Sie hatte wie durch ein Wunder überlebt: Als die Bombe fiel, wollte sie gerade hinausgehen, um mit dem Nachbarssohn Tjoma zu spielen. Ein Junge hielt sie am Hauseingang auf, und der Vorbau am Eingang hat ihr das Leben gerettet. Sie erlitt Prellungen, aber überlebte, Gott sei Dank. Aber der Nachbar, bei dem Anja lebte, musste seinen kleinen Sohn Tjoma mit abgerissenem Arm im Hof begraben – er war vier Jahre alt.
Leben im Keller
Wir nahmen Anja und ein Nachbarskind mit. Auf dem Rückweg lagen wir mehr, als dass wir gingen, wir waren in der Schusslinie. Wir sahen ukrainische Soldaten und versteckten uns bei ihnen im Schützengraben. Dann huschten wir in die Parallelstraße, wir dachten, da wäre es ruhiger. Aber da waren schon die Russen. Wir schafften es nach Hause – und brachten die Kinder relativ sicher unter.
Mein Mann hatte das Sofa auseinandergebaut und wir trugen die beiden Hälften in den Keller. Nachbarn brachten noch eine Matratze und Kissen – so schliefen wir dann. In Pullovern, darüber eine Jacke mit Kapuze, Weste, Mütze und drei Hosen. Wir trennten die Räume mit Decken ab. Aus der Schule nebenan brachten sie Tische und Bänke, wir kochten auf Kohlebecken, auf Ziegel- und Pflastersteinen.
Meine Mutter brauchte um sieben Uhr abends eine Insulinspritze und Essen, mein Mann und ich liefen zu ihr nach Hause. Statt eines Kerzenleuchters nahmen wir einen Chanukkaleuchter, das war sehr praktisch. Wir versorgten sie mit Essen und spritzten das Insulin – alles sehr in Eile – wir hatten Angst, dass ein Scharfschütze das Licht sieht und schießt.
Einen Nachbarn begruben wir im Bombentrichter
Wir schlugen dem Bruder meines Mannes vor, mit seiner Familie zu uns zu kommen, aber sie wollten nicht. Sie zogen in eine sehr kleine Wohnung im zweiten Stock eines zweistöckigen Gebäudes am Meer. Meine Schwägerin ging nach unten, um Honig zu holen, da landete ein Treffer im Haus – sie überlebte, aber konnte nicht mehr laufen. Die Schwiegermutter und der Bruder meines Mannes waren tot. Meine Schwägerin kroch zu ihren Verwandten auf der anderen Seite des Geländes. Dort sollen viele Menschen umgekommen sein.
Auch auf unserem Hofgelände gab es viele Angriffe, und Häuser wurden getroffen. Man musste die Verstorbenen auf den Höfen begraben. Einen Nachbarn legten wir in einen Bombentrichter.
„Verstecken Sie nicht einen Soldaten der ukrainischen Streitkräfte?“
Ein anderes Mal sehe ich, wie mein Mann mit einem russischen Soldaten zum Eingang unseres Hauses geht. Ich renne hinterher. Sie steigen in die Wohnung hoch, und ich frage, was sie suchen. „Verstecken Sie nicht einen Soldaten der ukrainischen Streitkräfte?“, fragt er. „Ja,“, sage ich, „da liegt ein Soldat“, ich zeige auf meine Mutter, „nehmen Sie ihn mit.“ „Können Sie, nach dem, was Sie getan haben, noch ruhig schlafen?“, frage ich. „Sie sind sehr gesprächig“, sagt er, „ich nehme Sie gleich mit zur ‚Säuberung‘.“ „Machen Sie das“, sage ich, „Sie können mich auch erschießen, dann haben sie es geschafft.“ Er mäßigt sich etwas, fragt, wo ich arbeitete.
„Ich bin Mathematiklehrerin.“
„Und in welcher Sprache unterrichten Sie?“
„In der Amtssprache natürlich.“
„Na, sehen Sie, nicht auf Russisch.“
Vorbereitungen für die Flucht
Wir hatten Glück, es gab in der Innenstadt an einigen Orten wieder Netz. Und Jungs aus dem Nachbarhaus hatten einen Generator besorgt, bekamen von irgendwoher Benzin und ließen die Mieter der benachbarten Häuser alle drei Tage ihre Telefone aufladen. So konnte mein Mann meinen Sohn in Haifa anrufen. Unser Sohn rief dann unseren Rabbi an und erzählte ihm, wo wir waren. Am nächsten Tag schickte der Rabbi uns Hilfe. Es ging direkt in den Keller: „Macht euch fertig für Israel!“ Mit Hilfe der Nachbarn trug mein Mann meine Mutter mit der Matratze auf einer Bettdecke hinaus, meine Schwester war auch da mit ihrem Mann, der drei Splitterverletzungen im Bein hatte. Das war am 23. März. Wir wussten nicht, wie man uns transportieren würde, aber bestimmt durch Russland, weil die Russen schon seit drei Tagen in der Stadt waren.
Fast an jedem Kontrollposten musste mein Mann sich ausziehen. Mal beschäftigten sie sich mit seinem Telefon, mal suchten sie nach Tätowierungen. Wir gelangten zu einer Pension bei Melekino und am folgenden Tag ging es auf die Krim. Wir gaben meiner Mutter zu essen, zogen sie um und verfrachteten sie – es ging los.
Krankenhaus in Sewastopol
Dann musste meine Mutter aber mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus nach Sewastopol. Dort wurde sie medizinisch schlecht behandelt, sie bekam eine Infektion, die später zum Hauptgrund für ihren Tod werden sollte.
Von der Krim flogen wir nach Mineralnyje Wody (in Südrussland, Anmerkung der Redaktion) – meine Mutter und ich gingen wieder ins Krankenhaus, die anderen in ein Hotel. Von dort ging es über Kasachstan nach Tiflis. Meine Mutter lag quer über dem Sitz, nicht angeschnallt. Bei der Landung hielten mein Mann und ich sie fest. Der Pilot weigerte sich kategorisch mit einer solchen Passagierin weiter nach Israel zu fliegen. Jetzt begann ich hysterisch zu werden – zum ersten Mal im Krieg weinte ich den ganzen Tag. Irgendwie kamen wir doch ans Ziel.
Dann ging meine Mutter von uns
In Israel verbrachte meine Mutter drei Wochen im Ichilov-Krankenhaus, anschließend kam sie in ein Seniorenheim und dann ging sie von uns. Aber wir konnten sie wenigstens menschlich bestatten und mussten sie nicht in einem Hof vergraben. Arme Mama, den Krieg hast du überlebt, den Holocaust, aber jetzt …
Und wir? Wir nahmen eine Wohnung in Haifa. Manchmal ist es schwer: eine andere Mentalität, Bürokratie, wir beherrschen die Sprache nicht und haben Heimweh.
Das Gesicht von Tjoma
Meine Tochter Anja ging hier zur Schule. Ein Junge brachte einen Luftballon mit in die Klasse und ließ ihn platzen. Als Anja den Knall hörte, schrie sie. In der Klasse ist noch ein anderer Junge aus Mariupol, die beiden warfen sich auf den Boden.
Anja erinnert sich noch heute an das Gesicht des Nachbarsjungen Tjoma. Er starb durch die Druckwelle, er wurde umgeworfen und schlug mit dem Kopf auf den Boden. Anja erinnert sich an all diese Menschen.“
Das Material wurde von Michael Gold, Leiter des Projekts „Exodus-2022 Project (Jewish Refugees of the Russian-Ukrainian War)” erstellt und bearbeitet. Michael Gold führte das Interview mit Irina Poljuschkina am 8. Juni 2022. Aus dem Russischen übersetzt von Dr. Dorothea Kollenbach.
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