Russland will die Identität der Ukraine auslöschen
Die russischen Angriffe auf Babyn Jar und andere symbolträchtige Orte und Kulturdenkmäler in der Ukraine ähneln den Praktiken der sowjetischen Führung und zeigen: Mit der Zerstörung der ukrainischen Kultur versucht Russland, die ukrainische Identität auszuradieren.
Am 24. Februar 2022 begann Russlands Krieg in der Ukraine. In diesen Tagen schritten russische Truppen in verschiedene Regionen der Ukraine vor, zerstörten Verwaltungs- und Zivilgebäude, töteten eine Vielzahl an Zivilisten, bedrohten die Umweltsicherheit der Ukraine – ja, sogar des Kontinents – und machten sich daran, das kulturelle und geistige Erbe der Ukraine zu zerstören. Auf letzteres möchte ich genauer eingehen.
Die Ideologische Grundlage für die Invasion
Am 21. Februar 2022, kurz vor der russischen Invasion in die Ukraine, wandte sich der russische Präsident Wladimir Putin an die russische Bevölkerung und sprach vom Fehlen einer Tradition der ukrainischen Staatlichkeit, das er mit Lenins künstlicher Erschaffung der Ukraine durch „die Trennung historisch russischer Länder“ erklärte. Ihm zufolge wurde die moderne Ukraine vom bolschewistischen Russland geschaffen. Doch wer die historische Entwicklung Osteuropas kennt, kann dem Präsidenten der Russischen Föderation widersprechen: Die Geschichte der ukrainischen Staatlichkeit reicht bis in die Zeit der mittelalterlichen Kyjiwer Rus zurück – also bis ins neunte Jahrhundert.
Das Symbol des Dreizacks, das heute das Wahrzeichen der Ukraine ist, ist seit der Zeit des Fürsten Wolydomyr (zehntes Jahrhundert) bekannt, und der Begriff „Ukraine“ wurde bereits im 12. Jahrhundert in Chroniken erwähnt. Das Großherzogtum Moskau, das später zum Russischen Reich wurde, entstand hingegen erst deutlich später – nämlich erst im 13. Jahrhundert. Es macht also keinen Sinn, über geschichtliche Fakten zu streiten. Putin hat keine andere Wahl, als das alles vor den Augen der ganzen Welt zu zerstören.
Folgt Russlands Handeln einer militärstrategischen Logik?
Die Eindringlinge bombardieren Wohngebiete und Entbindungskliniken, schießen auf Zivilisten und Tierheime und brechen Versprechen von der Schaffung sicherer Evakuierungen von Zivilisten durch „grüne Korridore“. Darüber hinaus sind die russischen Angriffe zutiefst symbolisch. Es ist ein Anschlag auf die kulturellen Werte der Ukraine, ihre historische Bedeutung und ihre Symbole, von denen viele über die Grenzen der Ukraine hinaus bekannt sind. Dazu gehören: Die Schlangeninsel, Angriffe auf Städte in der Südukraine mit griechischer Geschichte, Angriff auf Tschernobyl, Angriff auf Babyn Jar, Bombardierung des Freiheitsplatzes in Charkiw, Androhung eines Angriffs auf die Sophienkathedrale in Kyjiw, Zerstörung der Antonov AN-225, Brandlegung im Maria-Primachenko-Museum und die Zerstörung des Hausmuseums von Polina Raiko.
Der Angriff offenbart die unmenschliche Gewaltideologe des Kreml
Diese Taktik Russlands erinnert an die Politik der Sowjetunion und ihre Versuche der kulturellen Usurpation und Zerstörung nationaler Kulturen. Eines der Ziele der „Militäroperation“ ist es, die Ukraine zu „entnazifizieren“ und damit der ukrainischen Politik und ihrer Bevölkerung vorzuwerfen, einer Nazi-Ideologie zu folgen. Das Grauen und der Zynismus der Situation spiegeln sich nicht nur in Russlands grundloser Anschuldigung wider, sondern auch in dem Versuch, sie als Deckmantel und Vorwand zu benutzen, um eine souveräne Demokratie anzugreifen. In Wirklichkeit zeigt Russland jedoch nur, dass es selbst einer unmenschlichen Gewaltideologie unterworfen ist.
Am 1. März 2022 feuerten russische Besatzungstruppen Raketen auf den Kyjiwer Fernsehturm ab, der sich im berüchtigten Babyn-Trakt befindet und einen Gedenkkomplex, jüdische und militärische Friedhöfe und viele wichtige Denkmäler umfasst. Bei dem Beschuss des Fernsehturms wurden fünf Zivilisten getötet und fünf weitere verletzt. Der Beschuss des Babyn-Jar-Gedenkkomplexes nicht nur ein barbarischer Anschlag auf Kyjiws heilige Stätte, sondern auch ein Angriff auf die im Zweiten Weltkrieg durch Blutvergießen errungenen, universellen Werte von Humanismus und Demokratie.
Babyn Jar: Lehren aus der Geschichte ziehen
Während der Besetzung Kyjiws durch die Nazis im September 1941 verübten die Deutschen in der Schlucht namens Babyn Jar das größte Massaker des Zweiten Weltkriegs. Am 29. September wurde allen Juden in Kyjiw befohlen, sich auf den Straßen am Rande der Klippe zu versammeln. Dort wurden sie ihrer Habseligkeiten beraubt, entkleidet, in Gruben geworfen und brutal erschossen. Etwa 33.771 Menschen wurden in zwei Tagen getötet (nach Angaben der Mörder). Historiker schätzen, dass während der deutschen Besetzung von Babyn Jar 90.000 bis 100.000 Menschen, darunter etwa 65.000 bis 70.000 Juden, erschossen wurden. Neben Juden wurden gezielt andere Gruppen ausgerottet: Roma, Polen und andere slawische Bevölkerungsgruppen, ukrainische Nationalisten, sowjetische Kriegsgefangene, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle und viele andere.
Babyn Jar. Ein SS-Mann durchsucht die Habseligkeiten der hingerichteten Juden.
Babyn Jar ist ein Ort, an dem die Ukraine durch eine menschenfeindliche Ideologie Zehntausende Menschenleben verloren hat. Babyn Jar ist ein Ort, an dem es viele Friedhöfe und Denkmäler gibt, ein Ort, an den Menschen jeden Tag zum Beten kommen, ein Ort, an dem man sich an die Lehren der Geschichte erinnern können. In den letzten Jahren wurde in der Gegend ein großer Komplex errichtet, um den Opfern zu gedenken. An diesem Ort wird auch an der Wiederherstellung der historischen Wahrheit geforscht.
Babyn Jar ist eine Reproduktion des Nachkriegs-Kyjiw. Es bietet Besuchern die Gelegenheit, ihre Verwandten zu finden und ihre Geschichte kennenzulernen. Verschiedene Installationen, Denkmäler, Audiotouren schaffen einen öffentlichen Dialog über die Tragödie. Ist das etwa das Ergebnis der Politik eines Nazi-Staats wie Putin die Ukraine nennt? Oder ist das nicht eher die richtige Bezeichnung für die russischen Truppen, die unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Nationalsozialismus den Gedenkort für die Opfer des Völkermords bombardieren?
Menora: Ein Denkmal für die hingerichteten Juden.
Gegen die Erinnerung: das sowjetische Erbe der Geschichtsverzerrung
Nach Hunderten von Raketen- und Bombenangriffen auf Wohnsiedlungen und zivile Gebäude in der ganzen Ukraine kann man unmöglich sagen, dass diese nur zufällig getroffen wurden. Auf die gleiche Weise zielen russische Truppen auf die kulturellen und heiligen Stätten des ukrainischen Volkes. Und das hat Tradition. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs taten die sowjetischen Behörden alles, um die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis in Babyn Jar auszulöschen. In offiziellen Dokumenten nannten sie die Opfer des Septembers 1941, die in Babyn Jar erschossen wurden, einfach „friedliche Sowjetbürger“. Die stalinistische Propaganda tat ihr Bestes, um Informationen zu verzerren und die jüdischen Opfer von Babyn Jar zu entpersönlichen.
Jahrzehntelang haben die jüdische Gemeinde, die ukrainische Intelligenz und einfache Bürger versucht, auf die Tragödie bei Babyn Jar aufmerksam zu machen und die Bedeutung des jüdischen Faktors bei der Selektion der Opfer hervorzuheben. Die Behörden taten jedoch alles, um diese Anstrengungen zu unterdrücken. Bei Kundgebungen, bei denen die Öffentlichkeit versuchte, die Wahrheit über die Verbrechen der Nazis auszusprechen, verboten die Behörden sogar das Mitbringen von Trauerkränzen mit hebräischen Inschriften. Aktivisten wurden verhaftet und später wurde ein Fernsehturm und ein Park am Ort der Schießereien errichtet. 1950 beschlossen die sowjetischen Behörden, Babyn Jar mit Abfällen aus der Ziegelproduktion zu füllen, die letzten Überreste dieses geschichtsträchtigen Orts zu beseitigen. Am Ende führte die Verletzung aller Arbeits- und Sicherheitsnormen zur Tragödie von Kureniw, bei der eine mächtige Schlammlawine nahe gelegene Wohngebiete überschwemmte und mehr als tausend Menschen tötete.
So versuchte das Sowjetregime, das historische Gedenken und Bewusstsein der Menschen durch kriminelles Schweigen und Verwischen der Identität auszulöschen. Eine solche Politik ist seit den 1930er-Jahren ein Eckpfeiler der Sowjetunion, als Angriffe auf die nationale Kultur der untergeordneten Republiken begannen und es zu Schließungen lokaler Sprachschulen, antireligiösen Kampagnen und der Hinrichtung nationaler Kulturschaffender kam. Diese Methode der Sowjetunion hat in Russland einen Erben gefunden. Die Sowjetregierung hat Nationalitäten mit dem Begriff „Sowjetvolk“ verwischt, genauso wie Russland jetzt das Fehlen von Traditionen der ukrainischen Staatlichkeit artikuliert und erklärt, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind.
Kulturfront: Weitere Offensiven gegen das Erbe der Ukraine
Babyn Jar ist ein sehr anschauliches Beispiel. Aber es gibt noch viele andere. Am 1. März 2022 griffen russische Truppen die Stadt Charkiw an. Neben der Bombardierung von Wohngebieten trafen zwei Raketen den Platz der Freiheit, den größten in der Ukraine. Gleichzeitig werden die Städte Mariupol und Cherson im Süden der Ukraine beschossen und bombardiert. Die Hafenstadt Mariupol befindet sich derzeit in einer humanitären Katastrophe. Diese Stadt, in der es eine große, griechische Diaspora gibt, steht beispielhaft für die Multiethnizität der Ukraine.
Der Generalstab der Russischen Föderation hat eine Erklärung über die Möglichkeit eines Raketenangriffs auf das Gebäude des Sicherheitsdienstes der Ukraine abgegeben, das sich nur 200 Meter entfernt von der Sophienkathedrale in Kyjiw befindet. Die Kathedrale ist ein architektonisches Denkmal der Ukraine, das im 11. Jahrhundert erbaut wurde. Es ist ein Symbol, das die Geschichte der Ukraine mit der Kyjiwer Rus verbindet. Bis zum 13. Jahrhundert wurde die Sophienkathedrale als Hauptkirche Russlands genutzt und ist heute UNESCO-Weltkulturerbe.
Die Sophienkathedrale in Kyjiw von innen.
Am 27. Februar 2022 brannte das größte und leistungsstärkste Transportflugzeug der Welt, das vom Antonov Design Bureau in Kyjiw entwickelt wurde – die Antonov AN-225. Grund war ein russischer Luftangriff auf den Flughafen Antonov in Gostomel. Am 25. Februar brach infolge des russischen Angriffs auf das Museum der ukrainischen Künstlerin Marija Prymachenko in Iwankiw ein Feuer aus. Ein Teil der Exponate konnte von Anwohnern in Sicherheit gebracht werden. Es gibt umverifizierte Informationen, dass die russischen Besatzer das Hausmuseum der Künstlerin Polina Raiko in Oleschky zerstört haben. Diese beiden Künstlerinnen sind herausragende Figuren der ukrainischen Naiven Kunst und wichtige Träger lokaler, kultureller Werte.
Marija Primachenko „Atomkrieg, verdammt!“, 1978.
Warum die „russische Welt“ der Ukraine fremd ist
Russland setzt die imperiale Politik der Sowjetzeit fort und versucht, die ukrainische Identität und ihre historische Bedeutung abzuwerten und zu zerstören. Im Gegensatz zu den kolonialen Traditionen Russlands, fremde Länder zu erobern, kulturelle Assimilation zu erzwingen und den untergeordneten Gebieten die nationale Entwicklung zu verweigern, ist die Ukraine ein multiethnisches Land, das auf Werten wie Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Gleichberechtigung basiert. Dies zeigt sich in den ersten Banknoten, die 1918 von dem bekannten ukrainischen Grafiker Heorhij Narbut für die Ukrainische Volksrepublik geschaffen wurden: die Banknoten zeigen gewöhnliche Menschen, keine Herrscher, und wurden in drei Sprachen gedruckt, was die Multiethnizität und Mehrsprachigkeit der Ukraine bezeugt.
Um die ukrainische Staatlichkeit und ihre jahrhundertealte Kultur zu zerstören, müssen die Russen die gesamte Geschichte der Ukraine auslöschen. Wenn die russische Regierung die Krim annektiert und das indigene Volk der Krimtataren unterdrückt, wenn sie die Stadt Mariupol mit ihrem griechischen Ursprung bombardiert, wenn sie die Heldenstädte aus dem zweiten Weltkrieg zerstört, sind dies Zeichen einer unmenschlichen Ideologie. Gleichzeitig entsteht auf Seiten der Ukraine ein internationales Bataillon, das aus Menschen aus den Nachbarländern sowie aus Asien und Afrika besteht.
Russland kennt weder die Geschichte der Ukraine noch ihre Kultur. Wenn der Präsident der Russischen Föderation wirklich wüsste, wovon er spricht, würde er verstehen, dass die russischen Truppen hier niemand mit Blumen willkommen heißt. Denn die Geschichte der ukrainischen Staatlichkeit ist mehrere hundert Jahre alt und die Chronologie ihrer kulturellen und historischen Prozesse verlief parallel mit der europäischen Entwicklung. Ukrainische Werte und Bestrebungen nach Freiheit, Pluralismus und Demokratie zeigen, dass der Ukraine jede Vorstellung eines „russischen Friedens“ fremd ist.
Marija Primachenko „Unsere Armee, unsere Beschützer“, 1978
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