Warum Selen­skyjs Prä­si­dent­schaft nicht das Ende der Ukraine bedeutet

Kurz vor der zweiten Runde der Prä­si­dent­schafts­wah­len deutet viel darauf hin, dass Wolo­dymyr Selen­skyj der nächste Prä­si­dent der Ukraine wird. Neben den Risiken birgt Selen­skyjs mög­li­cher Sieg jedoch auch Chancen. Von Andreas Umland

Ein Groß­teil der ukrai­ni­schen Elite, poli­ti­schen Inter­net­com­mu­nity, welt­wei­ten Dia­spora und aus­län­di­schen Freunde des Landes sind ent­setzt ange­sichts des wahr­schein­li­chen Aus­gangs der zweiten Runde der Prä­si­dent­schafts­wah­len am 21. April. Es erscheint immer rea­lis­ti­scher, dass der Schau­spie­ler, Komiker und Geschäfts­mann Wolo­dymyr Selen­skyj, nachdem er im ersten Wahl­gang am 31. März bereits auf dem ersten Platz landete, auch der nächste Prä­si­dent der Ukraine wird – ja womög­lich mit einem über­wäl­ti­gen­dem Wahl­sieg. Zwar hat der im ersten Wahl­gang zweit­plat­zierte Amts­in­ha­ber Petro Poro­schenko immer noch eine Chance, Selen­skyj in der zweiten Runde zu über­ho­len. Eine Woche vorm ent­schei­den­den Wahl­gang erscheint es aller­dings eher so, dass Selen­skyj auch die Stich­wahl für sich ent­schei­den wird.

Der Grund hierfür ist nicht nur, dass der Schau­spie­ler bereits über 30 Prozent der­je­ni­gen für sich gewin­nen konnte, die am 31. März zur Urne gegan­gen waren. Er hatte damit im ersten Durch­gang knapp doppelt so viele Stimmen erhal­ten wie Poro­schenko. Es erscheint zudem wahr­schein­lich, dass viele Wähler der übrigen Kan­di­da­ten mit signi­fi­kan­ten Stim­men­an­tei­len im ersten Durch­gang, vor allem die Unter­stüt­zer von Julija Tymo­schenko, Juri Bojko und Olek­sandr Wilkul, in der zweiten Runde eher für Selen­skyj als für Poro­schenko stimmen werden. Falls nicht noch ein beson­ders großer Skandal das Ansehen Selen­skyjs grund­le­gend beschä­digt und seine Wähler aus der ersten Runde ver­grault, dürfte der Außen­sei­ter das sechste Staats­ober­haupt der post­so­wje­ti­schen Ukraine werden. Wie ist diese schick­sal­hafte Wendung zu inter­pre­tie­ren, und was ist von ihr zu erwarten?

Woher der Auf­stieg Selen­skyjs rührte

Eine Prä­si­dent­schaft Selen­skyjs wäre in der post­so­wje­ti­schen Ukraine eine nicht nur poli­ti­sche, sondern auch his­to­ri­sche Anoma­lie. Selen­skyj wäre der erste der­ar­tige New­co­mer, der es so weit nach oben geschafft hat. 2014 wurde der ehe­ma­lige Box­cham­pion Witalij Klytschko Bür­ger­meis­ter von Kyjiw. Andere Poli­tik­no­vi­zen sind davor und danach ins ukrai­ni­sche Par­la­ment ein­ge­zo­gen oder auf hohe Minis­te­ri­en­äm­ter gelangt. Noch nie aber war ein derart uner­fah­re­ner poli­ti­scher Neuling so nah daran, das höchste öffent­li­che Amt der Ukraine zu bekleiden.

Eine offen­sicht­li­che Erklä­rung für den Auf­stieg Selen­skyjs ist, dass die Ukrai­ner zutiefst von der regie­ren­den Klasse ihres Landes ent­täuscht sind. Nach fast dreißig Jahren, in denen ent­we­der relativ pro­rus­si­sche oder nach außen hin pro­west­li­che Männer aus der ver­meint­li­chen poli­ti­schen Elite der Ukraine ins Prä­si­den­ten­amt gewählt wurden, ist sie wei­ter­hin eines der ärmsten Länder Europas. Zwar sind viele der jüngs­ten wirt­schaft­li­chen Pro­bleme Folgen der gna­den­lo­sen hybri­den Kriegs­füh­rung Russ­lands gegen die Ukraine, Anne­xion der Krim und Beset­zung eines Groß­teils des Donez­be­ckens durch Moskau. Aller­dings werden die nur lang­same Erho­lung vom Schock von 2014 und viele bestehende Pro­bleme des Landes von den meisten Ukrai­nern eher als Folgen des Schei­terns von Poro­schenko & Co. als Refor­mer und Staats­män­ner – auf wich­ti­gen Posten sind nur wenige Frauen zu finden – wahr­ge­nom­men, und nicht nur als Ergeb­nisse der Machen­schaf­ten des Kremls.

In der Tat gibt es nicht nur viele destruk­tive Rück­wir­kun­gen der anhal­ten­den poli­ti­schen Sub­ver­sion, mili­tä­ri­schen Aggres­sion und teil­wei­sen Okku­pa­tion der Ukraine durch Russ­land. Es gibt auch eine Reihe gewich­ti­ger Gründe, warum die Ukrai­ner so grund­sätz­lich von ihrer Herr­schafts­elite ent­täuscht sind. Vor diesem spe­zi­fi­schen Hin­ter­grund ist die Ent­schei­dung der Ukraine für einen erfolg­rei­chen Showman, der nicht (oder zumin­dest nicht sicht­bar) mit der alten poli­ti­schen Klasse des Landes ver­bun­den ist, wenig überraschend.

Dieser Rich­tungs­wech­sel ist daher in gerin­ge­rem Maße Aus­druck einer sozio­po­li­ti­schen Patho­lo­gie als der plötz­li­che Auf­stieg von Popu­lis­ten und Poli­tik­no­vi­zen wie Donald Trump oder Beppe Grillo. Sub­jek­tiv mögen Gefühle der Ent­frem­dung vom „alten System“ bei Wählern in der Ukraine und im Westen ver­gleich­bar sein. Objek­tiv ist die Situa­tion der Ukraine – eines Landes, das unter einem lang­jäh­ri­gen Krieg, extre­mer Armut, sys­tem­im­ma­nen­ter Kor­rup­tion sowie Mangel an ele­men­ta­rer Sicher­heit seiner Bürger leidet – aller­dings eine andere.

Die aktu­el­len poli­ti­schen Wand­lun­gen in der Ukraine sind daher nicht voll­stän­dig mit dem heu­ti­gen Auf­stieg von Popu­lis­ten in der Euro­päi­schen Union oder Nord­ame­rika ver­gleich­bar. Die täg­li­chen Her­aus­for­de­run­gen, denen sich ein/​e westliche/​r Durchschnittsbürger/​in während ihre/​seines Lebens gegen­über sieht, sind deut­lich weniger exis­ten­ti­ell als in der Ukraine. Für Ukrai­ner ist es – im Ver­gleich zu EU-Bürgern – weit schwe­rer, ihre täg­li­chen beruf­li­chen und pri­va­ten Ange­le­gen­hei­ten mate­ri­ell, phy­sisch und psy­chisch zu bewäl­ti­gen. Die ukrai­ni­sche Gesell­schaft funk­tio­niert daher anders, als die Gesell­schaf­ten der meisten Mit­glieds­staa­ten von EU und NATO, ein­schließ­lich Ita­li­ens und der USA.

Warum Selen­skyj ein anderer Popu­list ist

Die Wahl Selen­skyjs in der Ukraine ist daher nur ober­fläch­lich eine Fort­set­zung grö­ße­rer Trans­for­ma­tio­nen im Partei­n­wett­be­werb und öffent­li­chen Raum vieler Länder Europas. Der Kontext, in welchem Selen­skyj von frü­he­ren poli­ti­schen Mustern der Ukraine abweicht, wird von anderen Fak­to­ren bestimmt, ja ist womög­lich von einer anderen Natur, als schein­bar ähn­li­che Kurio­si­tä­ten in ent­wi­ckel­ten west­li­chen Demo­kra­tien. Man könnte behaup­ten, dass eine Wie­der­wahl von Poro­schenko ange­sichts der nega­ti­ven Erfah­run­gen, die die Ukrai­ner mit ihm und seinen weit­ge­hend ver­gleich­ba­ren Vor­gän­gern als Prä­si­den­ten gemacht haben, ein Aus­druck regres­si­ver gesell­schaft­li­cher Immo­bi­li­tät wäre.

Dieser „ratio­na­lere“ Aspekt einer Wahl­ent­schei­dung für die ansons­ten über­ra­schende Kan­di­da­tur Selen­skyjs gibt Anlass zur Hoff­nung. Er bedeu­tet, dass der Aus­gangs­punkt seiner Prä­si­dent­schaft sich von den stärker irra­tio­na­len Impul­sen unter­schei­det, die dem schein­bar ähn­li­chen Auf­stieg etwa von Donald Trump zugrun­de­lie­gen. Die Qua­li­tät der poli­ti­schen Klasse der USA ist – hin­sicht­lich ihrer Orga­ni­siert­heit, Arbeits­stan­dards, Pro­fes­sio­na­li­tät und schlich­ten Anstän­dig­keit – wohl höher ein­zu­stu­fen, als die­je­nige der Ukraine. Ange­sichts dieses grund­le­gen­den Unter­schieds, erscheint die Wahl einer Rand­fi­gur wie Trump unver­nünf­ti­ger und impul­si­ver, als die Ent­schei­dung für den Außen­sei­ter Selen­skyj, berück­sich­tigt man die trau­ri­gen Ergeb­nisse der Herr­schaft der alten ukrai­ni­schen Poli­ti­ker­klasse der letzten dreißig Jahre.

Viele patrio­tisch geson­nene ukrai­ni­sche Intel­lek­tu­elle finden Abstim­mung ihrer Lands­leute für den „Clown“ Selen­skyj dumm, haar­sträu­bend oder sogar gefähr­lich. Ange­sichts der his­to­ri­schen Bilanz der ukrai­ni­schen poli­ti­schen Elite und 2019 zur Ver­fü­gung ste­hen­den Alter­na­ti­ven, erscheint die Ent­schei­dung für einen poli­tisch derart uner­fah­re­nen Kan­di­da­ten wie Selen­skyj jedoch nicht voll­kom­men will­kür­lich. Die Ukrai­ner haben fünf Mal Poli­ti­ker zum Prä­si­den­ten gewählt, die ihre Kar­riere im Rahmen des „alten Systems“ gemacht haben. All diese Ent­schei­dun­gen haben sich – auf die eine oder andere Weise – als letzt­lich schlecht her­aus­ge­stellt. 2019 war es in gewis­ser Hin­sicht höchste Zeit gewor­den, etwas anderes zu probieren.

Wie ein Prä­si­dent Selen­skyj relativ erfolg­reich sein könnte

Diese Kon­tex­tua­li­sie­rung mindert nicht die beträcht­li­chen Risiken, die sich mit Selen­skyjs Mangel an Ver­wal­tungs­er­fah­rung sowie kom­pe­ten­ten Bera­tern ver­bin­den. In Kriegs­zei­ten kann sich die Ukraine an und für sich nicht den Luxus poli­ti­scher Expe­ri­mente und dilet­tan­ti­scher Staats­füh­rung erlau­ben. And­rer­seits haben ukrai­ni­sche Akti­vis­ten, Poli­ti­ker und Intel­lek­tu­elle während der Orangen Revo­lu­tion 2004 und Revo­lu­tion der Würde 2013/​14 erstaun­li­che Fähig­kei­ten im Impro­vi­sie­ren und Mobi­li­sie­ren demons­triert. Diese Eigen­schaf­ten könnte der Ukraine jetzt gut zupass kommen.

Stra­te­gi­sches Denken und lang­fris­tige Planung mögen viel­leicht noch nicht zu den größten Stärken der ukrai­ni­schen intel­lek­tu­el­len Elite zählen. In Zeiten des Umbruchs hat die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft jedoch bewie­sen, dass sie in der Lage ist, sich auf relativ fried­li­che, geord­nete und demo­kra­ti­sche Weise tief in poli­ti­sche Belange ein­zu­mi­schen. Die beiden spek­ta­ku­lä­ren ukrai­ni­schen Auf­stände der ver­gan­ge­nen 15 Jahre haben die neo­so­wje­ti­sche Iso­la­tion der ukrai­ni­schen hohen Politik deut­lich ver­rin­gert. Die Ukraine leider heute weniger, als andere post­so­wje­ti­sche Staaten unter Neo­feu­da­lis­mus und der Abna­be­lung eines neuen Adels vom Rest der Gesellschaft.

Vor diesem Hin­ter­grund besteht die Hoff­nung, dass der Auf­stieg Selen­skyjs die wech­sel­sei­tige Durch­drin­gung der poli­ti­schen und Zivil­ge­sell­schaft der Ukraine fördern wird. Selen­skyjs Mangel an Ver­bin­dun­gen mit der alten Poli­ti­ker­klasse müßte es der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft ein­fa­cher machen, auf seine poli­ti­sche Mann­schaft und Ent­schei­dun­gen Ein­fluss zu nehmen. Sollte ein enges Wech­sel­spiel zwi­schen der künf­ti­gen Prä­si­di­al­ad­mi­nis­tra­tion und hoch­pro­fes­sio­nel­len Zivil­ge­sell­schaft der Ukraine zustan­de­kom­men, könnte das die nega­ti­ven Folgen von Selen­skyjs mani­fes­tem Mangel an poli­ti­scher und Füh­rungs­er­fah­rung reduzieren.

Zudem ist die Ukraine eine par­la­men­ta­risch-prä­si­den­ti­elle Repu­blik, in der ein beträcht­li­cher Teil der Befug­nisse beim Par­la­ment, Regie­rungs­apa­rat und Pre­mier­mi­nis­ter kon­zen­triert sind. Poro­schenko hat es als gewief­ter Strip­pen­zie­her seit 2014 ver­mocht, die formale, ver­fas­sungs­mä­ßige Macht­auf­tei­lung mittels Schaf­fung einer ihm mehr oder minder treuen Par­la­ments­mehr­heit teil­weise zu neu­tra­li­sie­ren. Während und infolge der Prä­si­dent­schafts- und Par­la­ments­wah­len von 2019 wird sich jedoch ver­mut­lich das Macht­gleich­ge­wicht zwi­schen der Wer­chowna Rada (Obers­ter Rat) und dem Prä­si­di­al­amt in Rich­tung Legis­la­tive ver­schie­ben. Das poli­ti­sche System der Ukraine könnte dann wieder par­la­men­ta­ri­scher werden.

Der neue Prä­si­dent der Ukraine würden damit in den Rahmen jener Zustän­dig­keits­be­rei­che zurück­keh­ren, die von der Ver­fas­sung vor­ge­ge­ben werden: Er ist offi­zi­ell befugt, die Außen– , Sicherheits‑, Justiz- und Ver­tei­di­gungs­po­li­tik der Ukraine zu bestim­men. Selen­skyj ist – abge­se­hen von seinen Eng­lisch­kennt­nis­sen und einem Juraab­schluss – auf keine dieser Auf­ga­ben hin­rei­chend vor­be­rei­tet. Er wird daher hof­fent­lich kom­pe­tente Minis­ter und Büro­kra­ten mit ent­spre­chen­der Hoch­schul­bil­dung, Berufs­er­fah­rung und Repu­ta­tion in den jewei­li­gen Berei­chen beför­dern. Idea­ler­weise wird er beschei­den genug sein, um sich von ihnen in seinen ersten Amts­mo­na­ten anlei­ten zu lassen.

Aus dem Eng­li­schen über­setzt von Hartmut Schröder.

Portrait von Andreas Umland

Dr. Andreas Umland ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Stock­hol­mer Zentrum für Ost­eu­ro­pa­stu­dien (SCEEUS) und Senior Expert am Ukrai­nian Insti­tute for the Future in Kyjiw. 

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