Wahlrechtsreform: Ein Meilenstein für die ukrainische Politik?
Endlich offene Listen für die Parlamentswahl: Kurz vor der vorgezogenen Abstimmung am 21. Juli haben die Abgeordneten die Forderungen der Zivilgesellschaft erfüllt und das gemischte Wahlsystem abgeschafft. Ein Meilenstein für die ukrainische Politik? Es ist kompliziert.
Unmittelbar vor der vorgezogenen Parlamentswahl am 21. Juli hat die alte eine gründliche Wahlrechtsreform verabschiedet. Bisher wurde das ukrainische Parlament nach einem gemischten System gewählt. Die Rada besteht insgesamt aus 450 Abgeordneten, 225 davon werden durch die Parteilisten gewählt, 225 weitere Mandate werden direkt in ebenfalls 225 Wahlkreisen entschieden. Die Einzugshürde für eine Partei liegt bei fünf Prozent. Nun, durch die russische Annexion der Krim sowie den Krieg im Donbass fallen 26 Direktwahlkreise weg, deswegen ging es bei der Parlamentswahl im Juli de facto nur um 199 Mandate.
Der Kompromissvorschlag, geschlossene Parteilisten zu wählen, ist gescheitert
Das hätte die Rada übrigens verhindern können, denn nach der umstrittenen Parlamentsauflösung durch den neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj lag sein Kompromissvorschlag vor: Man zieht die Hürde auf drei Prozent runter, damit die Parteien, um die es nicht so gut aussieht, eine realistische Chance auf den Wiedereinzug in die Rada haben. Stattdessen hätten Direktmandate komplett weggefallen, das ganze Parlament also durch die Parteilisten gewählt werden sollen (Damit hätte sich das alte Parlament im Nachhinein womöglich einen Gefallen getan, denn ohne die zahlreichen gewonnen Direktkandidaturen hätte Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ nun nicht die absolute Mehrheit). Allerdings etwas anders als von Selenskyj und vom Großteil der Zivilgesellschaft ursprünglich vorgeschlagen: Keine sogenannten „offene Listen“ (wenn die Wähler Einfluss darauf haben, wer für die gewählte Partei im Parlament sitzt – Anmerkung), sondern nach wie vor “geschlossene Listen“ (die Partei wählt die Einzugsreihe selbst aus).
Dieser Vorschlag ist jedoch in der Rada knallhart durchgefallen. Zum einen, weil die 2014 gewählten Direktkandidaten, die fünf Jahre später auf Wiederwahl im gleichen Wahlkreis hoffen, darauf selbstverständlich kaum Lust hatten. Zumal es in der ukrainischen politischen Realität durchaus üblich ist, dass die erfolgreichen Direktkandidaten in den Jahren vor der Wahl viel Geld in ihren eigenen Wahlbezirk investieren. In der Regel geht es dabei um Reparaturarbeiten, den Bau von Spielplätzen und Ähnliches. Frei nach dem Motto: Es ist auf dem Papier alles schön konzipiert, aber in Wirklichkeit geht es nicht um politische Konzepte, sondern darum, wer die Wähler vor Ort am Erfolgreichsten besticht.
Außerdem spielt hier natürlich eine Rolle, dass zwei von fünf Parteien, die im neu gewählten Parlament vertreten sind, die aktiven oder ehemaligen Abgeordneten überhaupt nicht in ihre Reihen aufnehmen. Es geht hier sowohl um die Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ als auch um die „Stimme“ des Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk. Das heißt: Die Chance, in einer erfolgreichen Liste unterzukommen, ist automatisch kleiner. Zum anderen hat die Rada zuletzt einfach gegen alle Vorschläge Selenskyjs gestimmt, die Wahlreform ist hier keine Ausnahme.
Die neue Wahlrechtsreform soll die politische Korruption verringern
Doch wie kommt es dazu, dass die Wahlreform ausgerechnet jetzt kommt – und zwar in einer durchaus „harten“ Form, nämlich nicht nur die Proportionalwahl, also keine Direktmandate mehr, sondern auch die viel geforderten offenen Parteilisten. Konkret würde es folgendermaßen aussehen: In der Ukraine wird es 27 große Wahlkreisen geben, in denen die Parteien ihre Vertreter aufstellen. Der Wähler muss nicht, darf aber neben der Wahl der Partei, für die er stimmt, unter ihren Kandidaten auswählen. Die Kandidaten werden dann nach der Zahl der erhaltenen Stimmen sortiert. Weil die Wählerbestechung in diesem System deutlich schwieriger sein sollte, hofft man darauf, dadurch die sogenannte politische Korruption zu verringern.
Nun, die erste Lesung der Wahlreform fand eigentlich bereits Ende 2017 statt, damals wollten angeblich die größten Fraktionen „Block Poroschenka“ und „Volksfront“ die Verabschiedung eigentlich verhindern, aber es möglichst knapp aussehen lassen. Man hat sich jedoch offenbar verkalkuliert. Bis zur zweiten Lesung war es jedoch ein langer Weg, denn nach der besten Kiewer politischen Tradition wurden bei der Rada über 4500 Änderungen eingereicht. Normalerweise spricht es dafür, dass die Abgeordneten die entscheidende Abstimmung soweit es geht nach hinten schieben wollen.
Und es wäre wohl nicht die ukrainische Werchowna Rada gewesen, hätte es besondere Bedingungen nicht gegeben. Es war ohnehin klar, dass die Wahlreform sich nicht auf die Parlamentswahl am 21. Juli beziehen wird, das wäre sowieso nicht mehr umsetzbar gewesen. Doch obwohl die Kadenz des neuen Parlaments formell fünf Jahre beträgt, soll der nächste planmäßige Urnengang im Oktober 2023 und nicht wie von vielen erwartet erst 2024 stattfinden. Das neue Wahlgesetz tritt aber erst im Dezember 2023 in Kraft und bezieht sich darüber hinaus ausdrücklich auf die nächsten planmäßigen Wahlen, die vorgezogene Wahl ist also durch die Reform gar nicht gedeckt.
Die Verabschiedung der Wahlreform hat gezeigt, dass die ukrainische Politik trotz aller Kritik fähig ist, der Zivilgesellschaft nachzugeben
Bemerkenswert ist auch die Art und Weise, wie die Rada das Wahlgesetz überhaupt verabschiedet hat. Nämlich brauchte der Parlamentsvorsitzender Andrij Parubij, der mittlerweile zum engen Unterstützerteam des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko gehört, insgesamt 17 Abstimmungen, um über die Wahlreform erst abstimmen zu können. Dabei konnten nach 16 vergeblichen Versuchen lediglich 227 Stimmen bei nötigen 226 erreicht werden, auch die entscheidende Abstimmung ging mit „nur“ 230 Stimmen über die Bühne. Die Praxis, unglückliche Abstimmungen wiederholen zu lassen, hat im ukrainischen Parlament ebenfalls lange Tradition.
War die Wahlreform also lediglich der Versuch einiger Parlamentsparteien, kurz vor der Wahl davon zu profitieren, zumal die praktischen Konsequenzen nicht nur für diese, sondern auch für die darauffolgende Wahl quasi nicht vorhanden sind? Jein ist hier wahrscheinlich die passendste Antwort, denn die Vorwahl-PR hat sicher dabei eine wichtige Rolle gespielt. Doch nur darauf beschränkt sich das nicht. Das zeigt, dass die ukrainische Politik trotz aller Kritik und Fragezeichen in der Lage ist, der Zivilgesellschaft in prinzipiellen Fragen nachzugeben. Ein Weg zurück sollte schwierig sein. Das Gesetz soll in der jetzigen Form Experten zufolge Lücken haben, die noch analysiert werden müssen, weil die Änderungen im Pakett beschlossen wurden. Es ist sogar nicht ausgeschlossen, dass Präsident Selenskyj sein Vetorecht nutzt. Dennoch beginnt damit ein wichtiger Verändungsprozess, der im neuen Parlament, das völlig anders aussehen wird, gleich fortgesetzt werden könnte. Denn es wird für die neue Rada unter Umständen kein Problem sein, das Gesetz gleich in Kraft treten zu lassen und nicht erst im Dezember 2023.
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