„Heute wird über die Zukunft Europas entschieden”

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Die stell­ver­tre­tende Pre­mier­mi­nis­te­rin für euro­päi­sche und euro-atlan­ti­sche Inte­gra­tion der Ukraine, Olha Ste­fa­nis­hyna, erklärt in ihrem Gast­bei­trag, warum die Ukraine bereit für den EU-Kan­di­da­ten­sta­tus ist.

Dieser Moment ist ein his­to­ri­scher Wen­de­punkt, sowohl für die Ukraine als auch für die EU. Die Ver­lei­hung des EU-Kan­di­da­ten­sta­tus an die Ukraine wird stra­te­gi­sche Klar­heit in die Region bringen. Außer­dem wird der Kan­di­da­ten­sta­tus der Ukraine bewei­sen, dass Russ­land mit seinen impe­ria­lis­ti­schen Träumen geschei­tert ist und Europa nicht in Ein­fluss­sphä­ren auf­tei­len konnte. Das könnte zu einer Soll­bruch­stelle in diesem Krieg werden. In der Ver­gan­gen­heit hat die Zwei­deu­tig­keit der EU und der NATO in Bezug auf die Ukraine nur zu wei­te­ren Aggres­sio­nen seitens Russ­lands geführt.

Der Kan­di­da­ten­sta­tus wird zeigen, dass die EU eine stra­te­gi­sche Vision und das Enga­ge­ment hat, den Frieden und die demo­kra­ti­sche Ent­wick­lung Ost­eu­ro­pas zu sichern. Außer­dem wird der Kan­di­da­ten­sta­tus unsere Posi­tion in den Frie­dens­ver­hand­lun­gen mit Russ­land stärken. Er wird das Ver­trauen der EU in die Ukraine und unsere gemein­same Zukunft demonstrieren.

Russ­land hat lange mit den Wider­sprü­chen in Europa gespielt und ver­sucht, die euro­päi­sche Soli­da­ri­tät und die euro­päi­schen Werte zu zer­stö­ren. Seine Instru­mente sind Abhän­gig­keit von Gas, Spio­na­ge­netze, Ein­schüch­te­rung und Pro­pa­ganda, die darauf abzie­len, Europa zu zer­stö­ren, wie es ist. Jetzt hat Putin einen bru­ta­len Krieg gegen die Ukraine begon­nen – und seine Ziele gehen über die Ukraine hinaus. Heute wird über die Zukunft Europas ent­schie­den, und wir sind der festen Über­zeu­gung, dass die EU mit der Ukraine stärker sein wird.

Einige Länder kri­ti­sie­ren den „Fast-Track”-Ansatz. Gibt es einen solchen?

Wir fordern die EU nicht auf, ein spe­zi­el­les Schnell­ver­fah­ren für die Ukraine zu schaf­fen. Regeln machen die Euro­päi­sche Union stark und wir respek­tie­ren diesen Ansatz. Deshalb bitten wir um eine ehr­li­che Bewer­tung unseres Antrags, wie es das all­ge­meine Ver­fah­ren vor­sieht und um eine Ent­schei­dung auf der Grund­lage des Gut­ach­tens der Euro­päi­schen Kom­mis­sion im Juni. Wir sind zuver­sicht­lich, dass unser Reform­kurs der letzten acht Jahre sowie unser nach­weis­lich starkes Enga­ge­ment für demo­kra­ti­sche Werte ein guter Aus­gangs­punkt auf unserem Weg zur EU-Mit­glied­schaft sind. Uns ist klar, dass dies nicht von heute auf morgen gesche­hen wird. Es wird Zeit brau­chen und wir sind dafür bereit.

Wie lange dieser Prozess dauern wird, hängt von der ukrai­ni­schen Seite und unseren Mög­lich­kei­ten zur Durch­füh­rung von Refor­men ab. Aber im Moment ist es wichtig, eine klare recht­li­che Ver­pflich­tung für die euro­päi­sche Zukunft der Ukraine durch den Kan­di­da­ten­sta­tus ein­zu­ge­hen. Die Ukraine hat zu viele Ver­spre­chen gehört. Jetzt fordern wir eine klare Entscheidung.

Was sagen Sie den­je­ni­gen, die behaup­ten, die Ukraine sei nicht bereit?

2014 unter­zeich­ne­ten die Ukraine und die EU das Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men – eines der ehr­gei­zigs­ten Abkom­men, das die EU jemals mit Dritt­län­dern geschlos­sen hat. Es umfasst rund 90 Prozent des wirt­schafts- und han­dels­be­zo­ge­nen Besitz­stands. Heute hat die Ukraine etwa 63 Prozent dieses Abkom­mens umge­setzt, das alle Lebens­be­rei­che des Landes abdeckt. Darüber hinaus hat die EU im Jahr 2021 nach einer umfas­sen­den Über­prü­fung der Ver­wirk­li­chung der Ziele des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens eine ins­ge­samt posi­tive Bewer­tung abge­ge­ben. Das bedeu­tet, dass ein großer Teil der ukrai­ni­schen Gesetz­ge­bung an die der EU ange­gli­chen ist.

Als Ergeb­nis unserer Refor­men erhiel­ten wir 2017 eine Visa­li­be­ra­li­sie­rung mit der EU. 2021 wurde ein Abkom­men über einen gemein­sa­men Luft­ver­kehrs­raum unter­zeich­net und 2022 wurde das ukrai­ni­sche Strom­netz voll­stän­dig mit dem kon­ti­nen­tal­eu­ro­päi­schen Netz syn­chro­ni­siert. Dies ist nur ein Teil der Erfolgs­ge­schich­ten unserer Zusam­men­ar­beit. Es wurden eine Reihe von Struk­tur­re­for­men durch­ge­führt, vom Finanz­sek­tor bis zum Aufbau starker lokaler Gemein­schaf­ten (Dezen­tra­li­sie­rungs­pro­zess), eine selbst für Europa bei­spiel­lose digi­tale Trans­for­ma­tion und staat­li­che Trans­pa­renz. Die Ukraine hat sich ver­än­dert, wir haben starke und wider­stands­fä­hige Insti­tu­tio­nen. Das hat sich nach der rus­si­schen Inva­sion in vollem Umfang gezeigt.

Natür­lich gibt es noch viel zu tun, um ein voll­wer­ti­ges Mit­glied der EU zu werden. Der Kan­di­da­ten­sta­tus wird uns Klar­heit ver­schaf­fen und helfen, den Reform­pro­zess zu strukturieren.

Kri­ti­ker bemän­geln unzu­rei­chende Fort­schritte bei der Reform des Jus­tiz­we­sens und der Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung. Haben sie Recht?

Der Mythos, die Ukraine sei das kor­rup­teste Land, ist höchst irre­füh­rend. Seit 2014 wurde in der Ukraine viel für die Prä­ven­tion und den Abbau von Kor­rup­tion getan. Wir sind uns bewusst, dass dies eine Her­aus­for­de­rung für unser Land wie auch für alle anderen Länder ist. Das Wich­tigste ist, dass die ukrai­ni­schen Bürger und die aktive Zivil­ge­sell­schaft in dieser Frage wei­ter­hin Druck auf die Regie­rung ausüben werden. Daran kann es keinen Zweifel geben. Übri­gens hat die Ukraine laut dem Kor­rup­ti­ons­wahr­neh­mungs­in­dex von Trans­pa­rency Inter­na­tio­nal in etwa die gleiche Punkt­zahl wie andere Kandidatenländer.

Heut­zu­tage ist die Ukraine ein Vor­rei­ter bei der digi­ta­len Trans­for­ma­tion. Die breite Ein­füh­rung digi­ta­ler Lösun­gen hat dazu bei­getra­gen, die Kon­takte zwi­schen Bürgern und Beamten zu redu­zie­ren und damit auch die Mög­lich­kei­ten für Kor­rup­tion zu besei­ti­gen. Wir haben auch eine Reform des öffent­li­chen Auf­trags­we­sens durch­ge­führt, die es absolut trans­pa­rent gemacht hat.

Mit Unter­stüt­zung der EU hat die Ukraine eine Anti­kor­rup­ti­ons­ar­chi­tek­tur auf­ge­baut und spe­zi­elle Anti­kor­rup­ti­ons­be­hör­den ein­ge­rich­tet, wie die Natio­nale Agentur für Kor­rup­ti­ons­prä­ven­tion, das Natio­nale Anti­kor­rup­ti­ons­büro der Ukraine und das Hohe Anti­kor­rup­ti­ons­ge­richt, die sich auf große Kor­rup­ti­ons­fälle im Land konzentrieren.

Wichtig ist auch, dass die Ukraine im Jahr 2021 die not­wen­di­gen Geset­zes­ent­würfe ver­ab­schie­det hat, um das gesamte Jus­tiz­sys­tem neu zu gestal­ten, was auch von der EU unter­stützt wurde.

Gibt es genü­gend Unter­stüt­zung inner­halb der EU?

Was mich am meisten freut, ist, dass der ukrai­ni­sche Bei­tritts­an­trag von den meisten Euro­pä­ern unter­stützt wird, ins­be­son­dere von 61 Prozent der Deut­schen. Da die EU auf einer demo­kra­ti­schen Grund­lage auf­ge­baut ist, muss sicher­ge­stellt werden, dass die poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen nicht hinter den For­de­run­gen der Bürger zurückbleiben.

Wir sehen die poli­ti­sche Unter­stüt­zung vieler EU-Länder und wir wissen dies zu schät­zen. Es gibt nur einige Länder, die zögern. Wir spre­chen mit ihnen und ich hoffe sehr, dass unsere Freunde die rich­tige Ent­schei­dung treffen werden. Für uns ist es wichtig, dass unser Dialog mit der EU auf einem leis­tungs­ori­en­tier­ten Ansatz beruht und nicht auf irgend­wel­chen Mythen oder Beden­ken. Bei meinen zahl­rei­chen Gesprä­chen mit füh­ren­den Ver­tre­tern der EU oder mit Exper­ten habe ich keine ein­deu­ti­gen Argu­mente gegen die Zuer­ken­nung des Kan­di­da­ten­sta­tus für die Ukraine gehört.

91 Prozent der Ukrai­ner unter­stüt­zen den EU-Bei­tritt. Und die man­gelnde Bereit­schaft der EU, „Ja“ zur Ukraine zu sagen (trotz der Opfer, Ver­pflich­tun­gen und Reform­erfolge der ukrai­ni­schen Nation), wird von den Ukrai­nern als „Nein“ emp­fun­den werden. Das wird ver­hee­rende Aus­wir­kun­gen auf eine Nation haben, die derzeit um ihre euro­päi­sche Zukunft kämpft.

Wie sehen die nächs­ten Schritte nach der Ver­lei­hung des Kan­di­da­ten­sta­tus aus?

Vor­ran­gig geht es für uns darum, den Krieg zu gewin­nen und das Land wieder auf­zu­bauen. Derzeit arbei­tet die Ukraine gemein­sam mit der Euro­päi­schen Union an Plänen für den künf­ti­gen Wie­der­auf­bau des Landes. Die Idee ist, dass die inter­na­tio­na­len Inves­ti­tio­nen dazu genutzt werden, die Ukraine auf eine künf­tige Mit­glied­schaft vor­zu­be­rei­ten. Daher wird dieser Prozess sowohl Infra­struk­tur­pro­jekte als auch Refor­men umfas­sen. Ein wich­ti­ges Thema für die Ukraine ist heute bei­spiels­weise die Ver­bin­dung der ukrai­ni­schen und euro­päi­schen Eisen­bah­nen. Die Ukraine plant den schritt­wei­sen Bau einer euro­päi­schen Eisenbahnstrecke.

Der ganze Prozess wird von unserer schritt­wei­sen Inte­gra­tion in den Bin­nen­markt der Euro­päi­schen Union beglei­tet. Weiter ist geplant, dem Abkom­men über das gemein­same Ver­sand­ver­fah­ren bei­zu­tre­ten, das zur Beschleu­ni­gung des Waren­ver­kehrs bei­tra­gen wird, dem EU-Roaming-Raum bei­zu­tre­ten, den ein­heit­li­chen Zah­lungs­ver­kehrs­raum in der euro­päi­schen Währung SEPA zu nutzen und weitere, inte­grie­rende Schritte zu gehen.

Der EU-Erwei­te­rungs­pro­zess ist ins Stocken geraten. Sie haben sich mit einigen füh­ren­den Ver­tre­tern der west­li­chen Bal­kan­staa­ten getrof­fen. Was sagen die zu ihnen?

Vor einer Woche war ich zu Besuch in der Slo­wa­kei, wo ich mit dem Pre­mier­mi­nis­ter von Nord­ma­ze­do­nien, Dimitar Kovačev­ski, zusam­men­ge­trof­fen bin. Skopje ver­steht und unter­stützt uns, ins­be­son­dere unseren Wunsch, den Prozess der Inte­gra­tion in die EU ein­zu­lei­ten. Es stimmt, dass der Erwei­te­rungs­pro­zess, der eines der stärks­ten Soft-Power-Instru­mente der EU ist, ins Stocken geraten ist. Aber ich bin über­zeugt, dass der Bei­tritt der Ukraine diesem Prozess neuen Schwung ver­lei­hen wird. Wir betrach­ten die west­li­chen Bal­kan­staa­ten als unsere Partner und Ver­bün­de­ten auf dem Weg zum EU-Beitritt.

Textende

Portrait von Olha Stefanishyna

Olha Ste­fa­nis­hyna ist seit 2020 stell­ver­tre­tende Pre­mier­mi­nis­te­rin für euro­päi­sche und euro-atlan­ti­sche Inte­gra­tion der Ukraine.

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