Sevgil Musaieva: eine Krimtatarin, die den ukrainischen Journalismus prägt
Die 35-jährige Krimtatarin Sevgil Musaieva ist seit 2014 Chefredakteurin der Ukrajinska Prawda, einer der wichtigsten ukrainischen Online-Zeitungen. Die herausragende Wirtschaftsjournalistin ist aber auch international eine der prominentesten Erklärerinnen der Ukraine – sowie der Geschichte und Tragödie ihres Volkes. Im Jahr 2022 schaffte Musaieva es im amerikanischen Nachrichtenmagazin TIME sogar in die Top 100 der einflussreichsten Personen der Welt.
„Jedes Mal, wenn ein Journalist stirbt, sterben seine unerzählten Geschichten, ungeschriebenen Bücher, ungefilmten Filme und seine unerzählte Wahrheit mit ihm. … Es wird aber Worte geben, die diesen Krieg beenden werden“, sagte die 35-jährige Journalistin am 17. November 2022 in New York. An diesem Tag verlieh ihr das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) den International Press Freedom Award. Natürlich freute sich Musaieva über diese Auszeichnung – angesichts des andauernden russischen Angriffskrieges gegen ihr Land aber wohl mit einem bitteren Beigeschmack.
42 Journalisten waren zu jenem Zeitpunkt in diesem Krieg bereits ums Leben gekommen. Zwei enge Freunde Musaievas starben am gleichen Tag: Der bekannte ukrainische Fotograf Maksym Lewin und der US-amerikanische Dokumentarfilmer Brent Renaud wurden beide am 13. März 2022 in Vorstädten von Kyjiw von russischen Soldaten erschossen.
Politische Morde an Journalisten schon vor dem Krieg
Den Mord an Kollegen kennt Sevgil Musaieva allerdings keineswegs erst seit dem Krieg. Keine Redaktion in der Ukraine hat so viele Opfer zu verzeichnen wie die Ukrajinska Prawda, die für ihre fundierten investigativen Recherchen bekannt ist.
Musaieva war erst 13 Jahre alt, als im Jahr 2000 Heorhij Gongadse, der Gründer von Ukrajinska Prawda und ein großer Kritiker des damaligen Präsidenten Leonid Kutschma, umgebracht wurde. Und sie war schon fast zwei Jahre Chefredakteurin von Ukrajinska Prawda, als der kritische Journalist Pawel Scheremet einer Autobombe zum Opfer fiel. Das Auto hatte seiner Frau Olena Prytula gehört. Prytula ist die Herausgeberin der Ukrajinska Prawda und sie hatte 2014 Musaieva den Posten der Chefredakteurin angeboten.
Beide offensichtlich politisch motivierten Morde wurden nie vollständig aufgeklärt. Ob sie jemals aufgeklärt werden, ist fraglich. Diese Tragödien haben das Leben und die Arbeit von Sevgil Musaieva, einer energischen, aber stets ruhigen jungen Frau, geprägt.
Deportation der Krimtataren
Und es gibt noch eine Tragödie, die zur Identität der Krimtatarin gehört – die ihres Volkes. Die Krimtataren wurden 1944 aufgrund ihrer angeblichen Kollaboration mit dem Naziregime gen Osten deportiert, größtenteils in die zentralasiatischen Sowjetrepubliken – alle männlichen Vorfahren Musaievas hatten aber in der Roten Armee gekämpft. „Natürlich gab es unter den Krimtataren auch Kollaborateure, die Menschen reagieren ja unterschiedlich auf Umstände wie eine Besatzung“, äußerte sie gegenüber dem Onlinemedium Platfor.ma, „man darf das Gerücht nicht weiterverbreiten, dass alle Krimtataren kollaboriert hätten. Allein in meiner Familie sind so viele Männer an der Front gestorben.“
Deportation blieb ein Trauma in der Familie
Musaievas Großmutter hatte ihr detailliert über die Deportation erzählt: Als die Krim befreit wurde, kamen abends sowjetische Soldaten zu ihnen, die zunächst Unterkunft und Verpflegung bekamen. Gegen sechs Uhr morgens weckten sie die Familie jedoch und gaben ihr nur 15 Minuten Zeit, die Sachen zu packen. Es war nicht klar, wohin die Krimtataren gebracht würden und warum. Viele dachten, dass sie jeden Moment irgendwo erschossen würden. Glücklicherweise kam es anders, doch die Deportation blieb für die Großmutter ein Trauma. Später schickte sie regelmäßig Unterstützungstelegramme für inhaftierte krimtatarische Dissidenten. Sevgil Musaieva selbst wurde 1987 noch in Usbekistan geboren, bevor ihre Eltern zwei Jahre später auf die Krim zurückkehren durften.
Recherchen über fragwürdige Geschäfte der Oligarchen
Als die Halbinsel Krim 2014 von Russland völkerrechtswidrig annektiert wurde und eine neue Welle an Repressionen gegen Krimtataren folgte, lebte Musaieva bereits seit rund zehn Jahren in Kyjiw. Sie galt damals vor allem als vielversprechende Wirtschaftsjournalistin und hatte bereits mehrere Recherchen über fragwürdige Geschäfte der Oligarchen aus der Umgebung des Präsidenten Wiktor Janukowytsch für Forbes Ukraine und später für das eigene Medium Hubs geschrieben. Sie unterstützte aktiv die Maidan-Revolution und gründete auch die NGO CrimeaSOS, die die Bürger auf der Krim bis heute mit zuverlässigen Informationen versorgt und bei Sicherheitsfragen berät – auch bei Fragen zur Flucht. Musaievas größter Traum ist daher nicht überraschend: Sie will trotz allem irgendwann auf die Halbinsel zurückzukehren. „Wir geben niemals die Hoffnung auf, dass das passiert“, betont sie.
Selenskyjs Wunschkandidatin für das Amt der Pressesprecherin
Als Chefredakteurin der Ukrajinska Prawda hat Sevgil Musaieva die Marke der führenden Internetzeitung noch einmal gestärkt und ist das Gesicht der Redaktion. Offenbar wurde ihr Erfolg auch im Präsidentenbüro von Wolodymyr Selenskyj keineswegs übersehen. Wie Babel, eine bekannte ukrainische Nachrichtenplattform, 2019 berichtete, galt sie als Wunschkandidatin Selenskyjs für die Position der Pressesprecherin. Diese Meldung wurde von der Journalistin selbst weder bestätigt noch dementiert. Es wäre jedoch eine große Überraschung gewesen, hätte sie das Amt übernommen: Eine derart hochkarätige investigative Wirtschaftsjournalistin an der Seite der Machthaber ist nur schwer vorstellbar – an der Seite ihres verfolgten krimtatarischen Volkes und ihres Landes im Verteidigungskrieg gegen Russland hingegen umso mehr.
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