„Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft“
Sabine Adler hält der deutschen Ukrainepolitik mit Detailkenntnis, politischen Rekonstruktionen und historischen Rückblicken den Spiegel vor – und bietet uns die Chance, Lehren für die Zukunft zu ziehen.
Während die ukrainische Armee dieser Tage mit einer neuen Gegenoffensive in der Region Cherson begonnen hat, ist die Aufmerksamkeit auf diesen Krieg hierzulande langsam versickert. An die täglichen Bombardements Russlands auf ukrainische Bürgerinnen und Bürger hat man sich genauso gewöhnt wie an die wiederkehrenden Aufrufe deutscher Kommentatoren zu einer „diplomatischen Lösung“ oder einem „sofortigen Waffenstillstand“. Von der groß verkündeten deutschen „Zeitenwende“ ist nicht mehr viel zu spüren, stattdessen dominiert die Frage nach der Energiesicherheit im Winter.
Gut, dass es auch deutsche Journalistinnen, Experten, Politikerinnen und Aktivisten gibt, die sich bemühen, das Thema Ukraine weiter im öffentlichen Diskurs zu halten, Hintergrundberichte und Fachwissen anbieten und unbeirrt für die Ukraine und die Bedürfnisse der Menschen vor Ort einstehen. Eine davon ist die langjährige Auslandskorrespondentin (unter anderem in Russland und Polen) des Deutschlandfunks, Sabine Adler. Sie hat jetzt ihr neues Buch vorgelegt: „Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft“ vorgelegt. Ein Buch, das zur richtigen Zeit kommt.
Abrechnung mit der Ukrainepolitik Deutschlands
Dem Titel entsprechend ist das Buch ein Rückblick auf die letzten Jahre und Jahrzehnte der deutschen und europäischen Außenpolitik gegenüber der Ukraine, auf die Entwicklungen in Osteuropa und die Ursprünge dieses seit sechs Jahren andauernden Krieges. Eine Mischung aus politischen Rekonstruktionen, Analysen und historischen Erklärungen, angereichert mit Auszügen aus ihren Reportagen und Gesprächen der letzten Jahre. Am Ende geht es in diesem Buch aber vor allem um eins: Die Verfehlungen der deutschen Politik gegenüber der Ukraine – und gegenüber Russland und Putin. Es ist eine Chronologie des Zögerns, des Herumtapsens, des Mahnens und des Nicht-Handelns. Ein Zeugnis des Scheiterns, das lediglich Hoffnung macht, weil es eigentlich nur besser werden kann.
Adlers Buch ist keine einfache Lektüre – wer wirklich verstehen will, was alles schiefgelaufen ist, der muss sich nicht nur durch die Jahre Schröderscher und Putinscher Männerfreundschaft oder die Grauen des Tschetschenienkriegs lesen, sondern wird auch mit den „Leerstellen“ der deutschen Vergangenheitsbewältigung (Stichwort Babyn Jar) und den Ursprüngen der Fixierung auf Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion und wichtigsten Opferland des Naziterrors konfrontiert. Denn eines wird schnell klar: Diese eingeschränkte Perspektive und Ignoranz rächen sich jetzt. Auch wenn Adler anfangs gleich klarstellt: „Den Krieg in der Ukraine hat niemand vorhergesehen, zumindest nicht in dem Ausmaß, in dieser Brutalität.“
Adler ist in ihrem Urteil knallhart, aber nicht unfair. Nüchtern zeigt sie Verfehlungen der deutschen Politik der Nachkriegszeit auf, die – wenn man sie heute in dieser Gesamtschau liest – kaum nachvollziehbar sind: Der jahrelange Aufbau der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl und der damit verbundene – und bei vielen Sozialdemokraten bis heute verbreitete – Glaube an „Handel durch Wandel“, das andauernde Ignorieren der ukrainischen Wünsche nach europäischer Integration, nach Unterstützung bei der Verteidigung und nach Waffenlieferungen. Als Leser würde man manchmal gern einige Seiten überspringen, so groß ist die Scham über die deutsche Überheblichkeit.
Besonders die SPD und ihre Fixierung auf Russland kommen bei Adler – zu Recht – nicht gut weg. Über Schröder schreibt sie punktgenau: „Er ist eine Bürde für die SPD und die Personifizierung ihrer Ostpolitik, die am Ende die Interessen aller osteuropäischen Partner außer die Russlands ignoriert.“ Adler beschönigt nichts, das überlässt sie den Politikerinnen und Politikern. Was aus der heutigen Perspektive oft perplex macht, ist die jahrelange Unfähigkeit vieler Politiker, ihre Sicht auf Osteuropa und Russland zu korrigieren, Fehler einzugestehen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen – selbst nach der Annexion der Krim, der Verhaftung von Nawalny und ja, auch nach Beginn der Invasion im Februar 2022.
Parallelen zur Vergangenheit
Es sind viele Details, die – so hat man das Gefühl – Adler mühelos und aus dem Gedächtnis einfließen lässt und die nur an einigen wenigen Stellen zu umfangreich werden. Das Einfließen ihrer eigenen Beobachtungen funktioniert erstaunlich gut, nur in einzelnen Fällen führen sie den Leser etwas zu weit vom Thema weg (ganze Zitatblöcke eines belgischen Rechtsextremen hätte man auch weglassen können). Durch das Hin- und Herspringen zwischen Vergangenheit und Gegenwart lassen sich beispielsweise in dem Kapitel über Kunstraub und die Zerstörung von Kultur in der Ukraine durch die Nazis die Parallelen zur heutigen Kriegsführung Russlands besonders gut nachvollziehen. Viele Rekonstruktionen, wie die der Maidan-Proteste, lesen sich heute wie ein Krimi – leider mit keinem guten Ausgang.
Lobenswert ist auch, dass Adler die wichtigsten Mythen der russischen Propaganda, die auch in aufgeklärten deutschen Kreisen immer noch wiederholt werden, aufschlüsselt – wie beispielsweise das (nie gegebene) Versprechen der NATO, sich nicht weiter in Richtung Osten auszubreiten, oder die Rolle von ukrainischen Neonazis während des Maidans und in der ukrainischen Armee. Richtigstellungen wie diese können nicht oft genug wiederholt werden.
Adler schafft es mit ihrem Buch, uns den Spiegel vorzuhalten. Sie zeigt die Denkfehler auf ‑gerade beim Thema Vergangenheitsbewältigung, bei dem wir Deutschen ja immer meinen, wir seien Weltmeister – und betrachtet sie aus der Perspektive von Ländern wie der Ukraine und zieht daraus Schlüsse für die Zukunft. Sie macht aber auch die Komplexität deutlich, die hinter diesem Krieg steckt: Die Verwobenheit von ideologischen Schlüssen aus der deutschen Kriegserfahrung und ‑aufarbeitung in Deutschland mit den unterschiedlichen Entwicklungen in Russland und den anderen zentral- und osteuropäischen Staaten.
Chance zur kritischen Selbstreflexion
Das wenigste dabei ist neu, aber die Geballtheit der Ereignisse und Fakten lässt einen – zumindest von deutscher Seite – konstatieren: Vieles, was sich im Augenblick in der Ukraine abspielt, hätte wohl verhindert werden können. Zumindest teilweise. Man kann nur hoffen, dass dieses Buch auch einigen Politikerinnen und Politikern – insbesondere den alten Hasen in der SPD oder Kreml-Lobbyistinnen wie Sahra Wagenknecht – in die Hände fällt. Und dass sie den Mumm haben, durch diese kritische Selbstreflexion zu gehen und so den Weg für einen neuen, politischen Blick auf die Ukraine und ihre Bedürfnisse zu ebnen. Das wäre dann eine wirkliche „Zeitenwende“.
„Sabine Adler – Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft“ ist beim Ch. Links Verlag erschienen und kostet 20 Euro.
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