Die Zukunft der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine
Die baldige EU-Mitgliedschaft der Ukraine steht derzeit nicht zur Disposition, auch wenn offizielle ukrainische Stellen das wiederholt als Ziel ihrer Politik ausgeben. Doch es gibt auch Alternativen zur vollen Mitgliedschaft.
Die Zukunft der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine war wahrscheinlich noch nie so ungewiss wie heute. Wir erleben gegenwärtig eine Neukonfiguration der internationalen Ordnung, die mit einer zunehmenden Verwundbarkeit der liberalen Demokratie durch rechtsextremen Populismus sowie „aufstrebende nicht-westliche Staaten, die die Nachkriegsordnung unterlaufen oder umstürzen wollen“, einhergeht. Für die EU, die sich in einer mehrdimensionalen Krise befindet, die weit über den Brexit oder den Zustrom von Flüchtlingen hinausgeht und die die Solidarität und Werte der Union aushöhlt, sind diese Entwicklungen extrem wichtig. Es ist unter diesen Bedingungen allerdings schwierig, das Engagement in der EU-Außenpolitik – im Allgemeinen und den östlichen Nachbarn gegenüber im Besonderen – zu erhöhen.
Die politischen Beziehungen mit der Ukraine auszubauen, ist angesichts des anhaltenden Konflikts und der Rolle Russlands sogar noch komplizierter. Und doch ist der zukünftige Integrationskurs des Landes bei den anstehenden ukrainischen Parlaments-und Präsidentschaftswahlen im Jahr 2019 ein entscheidendes Thema. Für die EU ist es daher extrem wichtig, ihren Einfluss in der Ukraine aufrecht zu erhalten und die Bedingungen für die zukünftige Zusammenarbeit vorzubereiten. Trotz der genannten Herausforderungen lassen sich drei Punkte nennen, die die Beziehungen zwischen der EU und Ukraine nicht nur retten, sondern sogar verbessern könnten.
Sicherheit und Verteidigung in der Europäischen Union und die Europäische Nachbarschaftspolitik
Die Ukrainekrise und die Nicht-Einhaltung des Budapester Memorandums durch Russland machten deutlich, dass jeder souveräne Staat, der nicht Teil eines Militärbündnisses ist, selbst für seine Sicherheit und Verteidigung sorgen muss. Zwar sind die USA nach wie vor der wichtigste Garant der europäischen Sicherheitsarchitektur, aber dies könnte sich in Zukunft ändern. Langsam versteht das auch die EU und die Hohe Repräsentantin für Außenpolitik, Federica Mogherini, forderte einen „Verteidigungskooperationspakt“ (PESCO). Der Pakt soll die militärischen Potenziale der Mitgliedsstaaten vereinen, Effektivität fördern und gemeinsame EU-Sicherheits- und Verteidigungsmissionen in Drittländern unterstützen. Unklar ist allerdings die Beziehung von PESCO – unter Beteiligung der Nachbarn – zur NATO.
Für die Ukraine, die seit kurzem den Status eines NATO-„Beitrittsaspiranten“ (nicht Kandidaten, Anm. d. Red.) hat, ist diese Unsicherheit von entscheidender Bedeutung. Die EU sollte aufgrund der strategischen Interessen der NATO und deren Rolle in Osteuropa sowie angesichts des gegenwärtigen Stands der EU-NATO-Beziehungen eine Konkurrenz von PESCO und NATO vermeiden. Vielmehr sollte die trilaterale Kooperation zwischen PESCO-NATO-Ukraine das Engagement der EU in der Ukraine bestimmen, dessen zentrale Aufgabe es paradoxerweise ist, eine Schwächung des Engagements durch das langsame „Einfrieren“ des Konflikts in der Ostukraine und eine „Ukrainemüdigkeit“ zu verhindern. Die Fortführung diplomatischer und sicherheitsrelevanter Maßnahmen ist daher die wichtigste Säule der EU-Ukraine-Politik.
„Entsakralisierung“ der Mitgliedschaft und Flexibilisierung der Integration
Glaubt man offiziellen Stellen, dann ist die EU-Mitgliedschaft seit Jahren das oberste Ziel der ukrainischen Politik. Es scheint angesichts der großen Unzufriedenheit unter den EU-Mitgliedsstaaten und Russlands Aggression in der Ostukraine allerdings naiv, von der EU in naher Zukunft eine Mitgliedschaftsperspektive zu erwarten. Das heißt allerdings nicht, dass die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine sich nicht weiterentwickeln könnten. Durch weltweit zunehmende ökonomische Interdependenzen und die Schwierigkeiten, die politische Integration zwischen der EU und Drittstaaten voranzutreiben, gewann die „differenzierte“ Integration an Bedeutung.
Beispiele für diese finden sich bei den Beziehungen der EU mit den EFTA-Mitgliedern (Island, Norwegen und Lichtenstein), der Schweiz, der Türkei und Großbritannien nach dem Brexit. Der Grad einer solchen Integration lässt sich in zweierlei Hinsicht beschreiben. Substanziell betrachtet ist die Einbindung in den EU-Binnenmarkt, der den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Individuen garantiert, die höchste Ebene der „Integration ohne Mitgliedschaft“. Institutionell besitzt der Binnenmarkt gemeinsame Entscheidungsinstanzen, die sich jedoch von den supranationalen Strukturen innerhalb der EU unterscheiden. Sowohl substanziell als auch institutionell ähnelt das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine (das am 1.9.2017 vollständig in Kraft trat) dem Abkommen, das den Europäischen Wirtschaftsraum regelt.
Bis 2028 soll durch das Abkommen ein gemeinsamer Markt in den Bereichen Handel, Dienstleistungen, öffentliche Auftragsvergabe und eine Liberalisierung der Finanzregeln geschaffen werden. Institutionell sieht das Abkommen Kooperation vor, unter anderem zwischen Parlamenten und Zivilgesellschaft. Eine Ausweitung des Abkommens würde daher höchst wahrscheinlich die weitere Integration der Kapitalmärkte und die Einführung der Personenfreizügigkeit bedeuten. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko betonte, dass die Ukraine versuchen werde, der Zoll‑, Energie- und Digitalunion sowie dem Schengen-Raum beizutreten. Bezüglich des Mehrwertes gemeinsamer Außenzölle herrscht Skepsis, aber der Beitritt zur Energieunion und dem Schengen-Raum ist für die Sicherheit der Ukraine und der EU gleichermaßen von offensichtlichem Vorteil. Gleiches gilt für die Digitalunion, weil die Ukraine ein Knotenpunkt für technische Start-Ups ist.
Man merkt an den genannten Beispielen, dass eine Mitgliedschaft nicht zwingend notwendig und für die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine eher ein Stolperstein ist. Beide Seiten sollten vielmehr danach streben, ihr Kooperationspotenzial im Rahmen der „Integration ohne Mitgliedschaft“ zu stärken.
Funktionale Kooperation: ein steiniger Weg zu Reformen und Werten
Man könnte argumentieren, dass die ukrainischen Verantwortlichen demokratische Reformen nur zögerlich umsetzten, weil es in den Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine an politischem Fortschritt fehle und der Fokus auf ökonomischer Kooperation läge. Das Problem innerer Reformen in der Ukraine ist komplex und mehrdeutig, in Demokratie-Ratings sinken die Bewertungen, die Korruption ist hoch und es dominieren tiefverwurzelte reformfeindliche oligarchische Strukturen und persönliche Interessen. Allerdings gibt es im Zusammenhang mit den Reformen (und sogar Werten) auch gute Nachrichten, die bei dem Thema der „Integration ohne Mitgliedschaft“ nicht unerwähnt bleiben sollten.
Wer in der Ukraine keine Reformen bemerkt, ist entweder ein Idiot oder ein Mensch mit begrenzter Wahrnehmung (Hugues Mingarelli)
So konstatierte Hugues Mingarelli, der Chef der EU-Delegation in der Ukraine: „Wer in der Ukraine keine Reformen bemerkt, ist entweder ein Idiot oder ein Mensch mit begrenzter Wahrnehmung.“ Die Einschätzung der Delegation bestätigt, dass das Fehlen einer Mitgliedschaftsoption nicht das Aus für Reformen bedeutet. Vielmehr bilden die Verpflichtungen im Rahmen des Assoziierungsabkommens die Grundlage für ehrgeizige Reformen in zahlreichen anderen Bereichen, die über Handel hinausgehen, wie Gesellschaftsrecht, Finanzmarktregulierung, öffentliche Auftragsvergabe oder Umweltschutz. Jeder neue funktionale Kooperationsbereich würde die Regierung zu weiteren Veränderungen anregen. Laut aktueller Forschung tragen neue Regeln, die während funktionaler Kooperation entstehen, zur Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bei.
Eine sorgfältig und strategisch geplante funktionale Kooperationsagenda kann daher zweifellos zur Förderung von Reformen und Werten beitragen.
Fazit – oder Gedanken über Grenzenlosigkeit, Kooperation und Kreativität
In einer Zeit zunehmender Illiberalität, aktiver rechtsextremer Bewegungen und äußerer Bedrohungen sieht sich die EU den schwierigen Herausforderungen gegenüber, ihre Werte und Sicherheitssysteme zu stärken und flexiblere neue Formen der Kooperation und Integration mit anderen Akteuren zu schaffen. Vor diesem Hintergrund sollten die wichtigsten Prioritäten der EU in Bezug auf die Ukraine folgende Punkte umfassen:
- Kontinuierliches und systematisches Bemühen, die Ukrainekrise durch eine trilaterale Kooperation zwischen PESCO-NATO-Ukraine zu lösen;
- Unterstützung der Integration der Ukraine in den Binnenmarkt, die Energie- und Digitalunion sowie den Schengen-Raum im Sinne des Modells der „differenzierten Integration“;
- Funktionale Kooperation und die dazu notwendigen Bedingungen als Hauptinstrument, um Reformen und Werte in der Ukraine zu stärken.
Machen wir uns bewusst, dass die Welt der Kooperation grenzenlos ist. Je stärker sich die funktionale Kooperation zwischen der EU und der Ukraine entwickelt, desto mehr Menschen werden daran beteiligt sein und umso lauter wird die gesellschaftliche Forderung nach echten Reformen werden. Nutzte man neue kreative Kooperationsansätze, würden die Kontakte zwischen den Menschen in der EU und der Ukraine gestärkt und damit alle Seiten näher zusammengebracht. In der Welt des Wettbewerbs ist die Einführung einer kreativen Kooperationsstruktur sowohl in sicherheitspolitischer als auch ökonomischer Hinsicht ein „Trumpf“ und die Kooperation zwischen EU und Ukraine sollte daher den Fokus auf die Stärkung der multilateralen Kooperationsstrukturen legen.
Aus dem Englischen von Dorothea Traupe.
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