Slowjansk fünf Jahre nach der Befreiung
Am 5. Juli 2014 wurde die ostukrainische 114.000-Einwohner-Stadt Slowjansk von den prorussischen Separatisten befreit. Der Krieg hat die Stadt und seine Bewohner verändert. Und wenn man Tanzlehrer Oleksiy Ovchynnykov fragt: zum Guten. Eine Reportage von Daniela Prugger.
Schleifend ziehen die Tänzer ihre Schuhspitzen über den polierten Boden, dann wiegen sie die Hüften und drehen sich vor den großen Spiegeln. Die Lampen tauchen den Raum in ein warmes Gelb, an einer Wand steht in grünen Buchstaben „Dance“, auf einer kleinen Bühne liegen Smartphones. Aus den Boxen dröhnt ein HipHop-Song und Oleksiy Ovchynnykov, ein sportlicher 40-Jähriger in Jogginghose, zählt auf Russisch den Takt. Er läuft an den Mädchen vorbei, die Absätze und kurze schwarze Kleider tragen und korrigiert ihre Haltung. Für einen Jungen in T‑Shirt und Stoffhose wiederholt er den Schlenker mit dem Bein.
Neunzehn Schüler zwischen zwölf und achtzehn Jahren trainiert Ovchynnykov drei Stunden täglich. Er ist der Leiter der Tanzschule Grazia in der ostukrainischen Stadt Slowjansk. 60 Kilometer von hier entfernt führt die Ukraine Krieg gegen prorussische Separatisten. Ein Krieg, in dem den Vereinten Nationen bereits mehr als 13.000 Menschen gestorben und 30.000 wurden verletzt wurde. 1,5 Millionen flohen in die restlichen Gebiete des Landes.
„Wir tanzen trotzdem weiter“, sagt Ovchynnykov.
Daran, dass der Krieg vor fünf Jahren in Slowjansk ausbrach, erinnern heute nur einige zerstörte Häuser außerhalb der Stadt. Im Zentrum haben kleine Cafés, Friseur- und Kosmetikläden neu eröffnet, davor parken Autos, ältere Modelle, viele Ladas. Auf dem Hauptplatz führt ein Mann ein Pony an staunenden Kindern vorbei, gleich daneben sitzen, rauchen und skaten an sonnigen Tagen die Teenager. Die Lenin-Statue steht nicht mehr, nur der Sockel ist geblieben, daneben wehen die blau-gelben Flaggen der Ukraine. Und an einer alten baufälligen Häuserwand neben dem Platz steht das russische Wort „мир“. Es bedeutet sowohl „Welt“ als auch „Frieden“.
„Krieg ist surreal“, sagt Ovchynnykov, „ich kann noch immer nicht glauben, dass das alles passiert ist.“ Er deutet den Tänzern Paare zu bilden. Die jüngeren Mädchen streichen ihre Haarsträhnen schüchtern hinters Ohr, während die Jungs starr an ihnen vorbeiblicken. Sie machen schnelle Schritte. Salsa, Rumba, Chachacha. „Ballroom Dance“ nennt sich dieser Sport.
Ovchynnykov tanzt seit seinem sechsten Lebensjahr und hat die Tanzschule im Jahr 2005 von seiner Mutter übernommen. Damals litt die 110.000-Einwohner-Stadt unter einer hohen Arbeits- und Ereignislosigkeit, eine typische postsowjetische Stadt, deren Bewohner in gesichtslosen, immer gleichen Plattenbauten wohnen. Die Menschen zogen eher weg als zu, und jene, die Eltern wurden, schickten ihre Kinder in die Tanzschule, weil es sonst kaum Sport-Angebote gab. „In Slowjansk war nie etwas los. Hier ist nie etwas passiert“, sagt Ovchynnykov.
„Donezk ist für mich gestorben“
Wollte er etwas erleben, fuhr er in die nächstgrößere Stadt Donezk, wo es gute Restaurants, Hotels und Kinos gab – die Hinterlassenschaften der Fußball-Europameisterschaft 2012. Damals jubelten die meisten Stadtbewohner der ukrainischen Nationalmannschaft zu. Und zwei Jahre später dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Donezk befindet sich heute im Separatistengebiet, das neben der von Russland annektierten Halbinsel Krim außerhalb der Kontrolle der ukrainischen Regierung steht. „Donezk ist für mich gestorben“, sagt Ovchynnykov. „Die Menschen dort haben keine Perspektive und keine Zukunft.“
Als der Krieg ausbrach, stand Ovchynnykov daneben. In den Straßen und rund um den Hauptplatz beobachtete er, wie bewaffnete und maskierte Männer Barrikaden errichteten. Sie stapelten Sandsäcke und Reifen und hissten die russische Flagge. Dann stürmten sie die Polizeistation und ernannten einen Mann, der vorwiegend Kapuzenpullover und Baseballmütze trug, zum neuen Bürgermeister. „Ich dachte, dass diese Leute Verrückte sind und bald wieder gehen würden“, sagt Ovchynnykov. Doch der 12. April 2014 ging in die Geschichte ein, als der Tag, an dem der Krieg begann.
Die instabile wirtschaftliche und politische Situation hat sich in der Ukraine seit Jahren aufgeschaukelt, vor allem im Osten, der Industrieregion, wo vor Jahrzehnten die Stahlhütten, Kohlebergwerke und die Chemieindustrie entstanden. Nach dem Fall der Sowjetunion haben die Oligarchen Wirtschaftsimperien errichtet, zu denen Banken und Medien, Metall- und Bergbaubetriebe gehörten. „Die Menschen hier wollten eine Veränderung, einen wirtschaftlichen Aufschwung und erhofften sich all das von Russland“, sagt Ovchynnykov.
Die Veränderung kam im November 2013
Nachdem der damalige Präsident und Oligarch Viktor Janukowitsch das EU-Assoziierungsabkommen nicht unterschrieben hatte, protestierten Studenten am Kyjiwer Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan. Die Ukraine zählt zu den ärmsten Ländern Europas und viele junge Menschen wünschen sich eine Zukunft in der Europäischen Union, einen Bruch mit dem postsowjetischen Erbe, den hierarchischen Strukturen, den korrupten und desolaten Gesundheits‑, Bildungs- und Verwaltungswesen. Das Ende eines Systems, in dem Oligarchen herrschen und der Großteil der Bevölkerung im Winter kaum genug Geld für die Gasrechnung hat.
Nach den Protesten am Maidan war es so, als würden die Menschen endlich aufwachen, erinnert sich Anna Avfiyants, 35, Projektleiterin bei der Jugendkultur-Organisation Teplytsya in Slowjansk. Damit, dass die Situation fünf Monate später im Osten des Landes eskalieren würde. Unter den Separatisten erkannte sie Verwandte und Nachbarn. „Warum habt ihr die Russland-Flagge aufgestellt?“, hat Avfiyants gefragt. „Warum haben die Leute auf dem Maidan die EU-Flagge aufgestellt?“, war die Antwort, die sie erhielt.
Nachdem die ersten Tage und Wochen vergingen und die ukrainische Sprache verboten wurde, stellte Oleksiy Ovchynnykov sein Handy auf Russisch um. Er scrollte stündlich durch die Nachrichten und hoffte, dass die ukrainische Armee Slowjansk bald wieder befreien würde. „Ich konnte mich nicht mehr frei bewegen und nicht sagen, was ich wollte.“ Kaum einer seiner Schüler kam in den Unterricht. Die Eltern hatten Angst, ihre Kinder auf die Straße zu schicken. Viele flohen nach Kyjiw.
Wie ernst die Lage ist, hat Ovchynnykov begriffen, als die Separatisten Bunker bauten. „Ich wusste, dass diese Bunker nur mit Panzern zerstört werden können“, sagt er. Für ihn gab es zwei Szenarien. Wenn die Separatisten nicht freiwillig abhauen, wird die Stadt zerbombt. Die Tanzschule wurde durch eine Granate beschädigt. Ovchynnykov verließ die Stadt im Juni, so wie viele andere brachte er sich in einem nahegelegenen Dorf in Sicherheit.
Anfang Juli 2014 wurde Slowjansk von der ukrainischen Armee eingekesselt und befreit. Nahrung, Wasser und Strom wurden knapp und als Ovchynnykov zurückkam, sahen die Menschen aus wie Zombies. Er zögerte mit der Widereröffnung der Tanzschule. „Es war so, als ob wir auf den Knochen der Toten tanzen würden. Wir alle mussten erst einmal verstehen, dass man in Slowjansk wieder leben kann und dass das nicht mehr der Mars ist.“
Der Krieg hat die Stadt und die Menschen verändert
Gemeinsam mit Freunden stellte er Straßen- und Stadtfestivals auf die Beine, trieb Playstation-Stationen für Kinder auf und organisierte Filmvorführungen. Die Menschen haben Geld und Blumen gespendet und begonnen, sich für die Geschichte des Ortes zu interessieren. „Das hat es vor dem Krieg bei uns nicht gegeben.“ Der Krieg hat die Stadt und die Menschen verändert und wenn man Ovchynnykov fragt, zum Guten.
Freiwillige Helfer aus dem ganzen Land kamen und halfen, die zerstörten Häuser wiederaufzubauen. Eine Gruppe von Mädchen, die aus dem besetzten Donezk geflohen waren, gründeten ein Theater. „Das hat mich so beeindruckt“, sagt Anna Avfiyants, die ebenfalls anfing sich zu engagieren. „Mein Mann hat meine Entscheidung, zu arbeiten, nicht unterstützt. Er findet, dass eine Frau zu Hause bleiben soll, vor allem, wenn sie ein Kind hat.“
Nachdem sie einen Job bei der Hilfsorganisation Teplytsya erhielt und sich das Sport- und Jugendministerium für ihre Arbeit interessierte, wurde sie auch von ihrem Ehemann ernstgenommen. Heute ist sie Projektleiterin, koordiniert Mal‑, Sprach- und Bastelkurse für Jugendliche und organisierte im März eine Fotoausstellung, in denen das Engagement vieler Frauen präsentiert wurde.
„Es ist wichtig zu zeigen, dass diese Frauen aktiv sind. Vielleicht kümmern sie sich seit ihrer Arbeit nicht mehr um ihre Familien, wie sie es vorher gemacht haben. Aber das ist nicht umsonst.”
Derzeit wird in Slowjansk ein Kulturzentrum gebaut, Ovchynnykov leitet das Projekt. „Ich glaube, dass dieser Ort die gesamte Stadt verändern wird“, sagt Ovchynnykov und läuft über einen Platz, der aussieht, wie ein übergroßes Schachbrett. Dann betritt einen Rohbau. In den nackten Räumen hallt der Lärm der Presslufthämmer und Sägen. Hier soll es bald ein Restaurant, einen Co-Working-Space, einen Shop und eine Konzerthalle geben.
In der Stadtverwaltung sitzen noch immer viele, die damals die Separatisten unterstützt haben. „Ich versuche so wenig wie möglich mit denen zu tun zu haben“, sagt er. Stattdessen kämpft er dafür, dass die jungen Menschen bleiben und neue Idee umsetzen. Er will, dass sich das Leben in Slowjansk weiterverbessert. Die Menschen hier sind passiv, sagt er. „Sie verstehen nicht, dass es in der Ukraine zwar viele Probleme, aber auch genauso viele Chancen gibt.“
Am 17. Mai veranstaltete Ovchynnykov zum ersten Mal eine „Latino Party“ in der Stadt. „Hört auf euch zu langweilen“, hieß es in der Facebook-Einladung. „Wir tanzen bis zum Umfallen.“
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