Was die Welt über die ukrainischen Gefangenen in Russland wissen sollte
Letztes Jahr reagierte die Öffentlichkeit erleichtert, als bekannte politische Häftlinge in Russland freikamen. Doch immer noch sitzen viele Ukrainer in Russland aus politischen Gründen in Haft. Im folgenden Text wird dargestellt, was die Welt über die restlichen Gefangenen wissen sollte, die in Russland und im besetzten Donbas illegal wegen angeblicher „Spionage“, „Terrorismus“ und „Sabotage“ festgehalten werden. Von Iryna Matviyishyn
#PrisonersVoice erscheint in Kooperation mit Internews Ukraine und ist Teil der globalen Kampagne für die Befreiung politischer Gefangener vom Kreml.
Derzeit befinden sich auf der besetzten Krim und in Russland mehr als 100 Ukrainer aus politischen Gründen in Haft. Hunderte weitere werden im okkupierten Donbas gefangen gehalten, wobei die Zahl der politischen Häftlinge in den von Russland besetzten Gebieten stetig wächst.
Repressionen gegen Krimtataren
Mitte September fällte das Russische Militärgericht im Rostow am Don das Urteil gegen die Angeklagten im so genannten Zweiten Hizb ut-Tahrir-Fall. Russland verurteilte die Krimtataren Marlena Asanowa, Memet Belyalow, Timur Ibragimow, Seyran Saliyew, Server Mustafajew, Server Zekiryaev und Edem Smailow zu jeweils 19, 18, 17, 16, 14 und 13 Jahren Haft, berichtet die NGO Krim Solidarität. Die Krimtataren wurden zu Unrecht beschuldigt, einen Ableger von Hizb ut-Tahrir betrieben zu haben, einer Organisation, die in Russland und der besetzten Krim wegen „Terrorismus“ verboten ist.
„Terrorismus und Server schließen einander aus“, sagt Venera Mustafayewa, die Mutter des verurteilten Menschenrechtsaktivisten Server Mustafajew gegenüber der Kampagne Prisoners Voice. Server Mustafajew, der von Amnesty International als politischer Häftling anerkannt ist, war Koordinator bei der NGO Krim Solidarität. Er half Verwandten inhaftierter Krimtataren, dokumentierte Strafprozesse und informierte die Öffentlichkeit über die Ereignisse auf der Krim. Im Mai 2018 beschuldigte die russische Besatzungsregierung Mustafajew des „Terrorismus“ und des „Versuchs der gewaltsamen Machtübernahme“.
Dass Hizb ut-Tahrir irgendwelche Gewaltaktionen plane sei nicht bewiesen, sagt Oleksandra Matwiytschuk, Vorsitzende des Center for Civil Liberties zu UkraineWorld. Auch gäbe es keine Beweise dafür, dass die Krimtataren, die von Russland verhaftet wurden, dieser Organisation angehören.
Krimtataren, die sich gegen die russische Besatzungsmacht stellen, würden pauschal als „Terroristen“ abgestempelt, erläutert Matwiytschuk.
Nach der Annexion der Krim seien viele Bürgeraktivisten von der Halbinsel geflohen. Diejenigen, die auf der Krim blieben und sich für Menschenrechte einsetzen, wie Server Mustafajew, Yascher Muedinow und andere, würden von Russland strafrechtlich verfolgt, erklärt Matwiytschuk gegenüber #PrisonersVoice. Hauptziel der Besatzungsmacht seien vor allem Aktivisten der NGO Krim Solidarität, Verwandte von politischen Häftlingen und Einheimische.
Zeineb Yazidzhiewa war im achten Monat schwanger, als der russische Föderale Sicherheitsdienst im März 2019 ihr Haus durchsuchte und ihren Ehemann Riza Izetow verhaftete. Wie andere politisch Verfolgte engagierte sich auch Izetow beim Verein Krim Solidarität.
„Als sie meinen Mann wegbrachten, fragte meine vierjährige Tochter, wohin er geht. Er sagte, er gehe weit weg arbeiten, um Geld zu verdienen und um bald wieder nach Hause zu kommen“, berichtet Zeineb PrisonersVoice „Und als sie das Haus verließen, drehte sich einer der FSB-Offiziere um und sagte zu dem Kind: Dein Vater kommt ins Gefängnis und du wirst ihn nie wieder sehen.“ Riza Izetow, dem zwanzig Jahre Gefängnis drohen, sitzt derzeit in der Haftanstalt Simferopol Nr. 1.
„Unsere Männer sind keine Terroristen. Damit werden Leute stigmatisiert, die ihre Meinung frei äußern und sich engagieren“, sagt Aliye Mamutowa, die Ehefrau von Enver Mamutow, der sich ebenfalls in politischer Haft befindet. Enver Mamutow, der früher Parties für Kinder organisierte, wurde ebenfalls im Zuge des Zweiten Hizb ut-Tahrir-Falles zu 17 Jahren verurteilt und sitzt derzeit in der 11. Strafkolonie in Stawropol, Russland.
Die russische Justiz hat nicht nur gezielt Krimtataren im Visier. Auch wer zur falschen Zeit am falschen Ort ist, könne ins Fadenkreuz des Russischen Inlandsgeheimdienstes geraten, sagt Oleksandra Matwiytschuk im Podcast von Ukraine World.
So erging es zum Beispiel Andriy Zakhtey. Der ehemalige Taxifahrer hat Touristen auf der Krim transportiert und in Moskau als Bauarbeiter gearbeitet. Angeblich soll Zakhtey im Jahr 2016 einen Anschlag auf touristische und soziale Infrastrukturen auf der Krim vorbereitet haben. Deshalb wurde er in einem Prozess gegen so genannte „Ukrainische Saboteure“ zu sechs Jahren und sechs Monaten Strafkolonie verurteilt.
„Das Problem bei dieser Verfolgung ist, dass man nie weiß, wie man sich verhalten soll, um nicht verhaftet zu werden“, erklärt Matwiytschuk gegenüber UW. „Man kann aus politischen Gründen im Gefängnis landen, weil Russland mehr Spione und Gangster aus der Ukraine als Feindbild präsentieren will“, ergänzt Matwiytschuk.
Um zu verdeutlichen, was Ukrainer in russischer Haft durchmachen, hat Internews Ukraine das Projekt #PrisonersVoice gestartet. Mit einer mobilen App können Benutzer durch Virtual Reality die Erfahrungen von Oleh Sensow, Oleksandr Koltschenko und Wolodomyr Baluch nachempfinden. Die drei politischen Häftlinge kamen letztes Jahr beim Gefangenenaustausch vom siebten September 2019 frei.
Folter und Misshandlungen
Während Anklagen gegen Ukrainer und Krimtataren konstruiert werden, sind Folter und Misshandlungen politischer Gefangener real. Maryna Kiyaschko, die Ehefrau von Ihor Kiyaschko, berichtet, wie ihr Mann in der Haft misshandelt wurde. „Man hat ihn geschlagen, so dass er bewusstlos wurde, dann wurde er mit Wasser übergossen und weiter geschlagen“, erzählt sie. Auch sollen Sicherheitskräfte ihrem Mann eine schmale Eisenkappe aufgesetzt haben, so dass er nicht atmen und sich nicht bewegen konnte. „Er musste die Eisenkappe den ganzen Tag tragen“, sagt Maryna. „Für meinen Ehemann, der hochgewachsen und breitschultrig ist, war diese Tortur kaum zu ertragen.“ Im Gefängnis wurde bei Kiyaschko später Thrombophlebitis diagnostiziert, entzündliche Prozesse, bei denen sich Blutgerinnsel bilden und eine oder mehrere Venen blockieren, normalerweise in Ihren Beinen.
Andere Häftlinge wie Eldar Kantimirow leiden ebenfalls unter Gesundheitsproblemen. „Die Gefangenen bekommen keine ärztliche Hilfe“, sagt dessen Ehefrau Elwina. Psychologischer Druck, Sauerstoffmangel, Mangel an Tageslicht und schlechte Ernährung kämen hinzu. „Der Anwalt meines Mannes sagte, dass die Gefängniszelle mehrere Monate im Winter nicht beheizt wurde.“
Besonders politische Gefangene im besetzten Donbas leiden unter Folter und unmenschlichen Haftbedingungen.
Dort sitzen vor allem Zivilisten aus politischen Gründen in Haft. Deren genaue Anzahl ist unbekannt, wird aber von Aktivistin Oleksandra Matwiytschuk auf mehrere Hundert geschätzt.
Unter den Inhaftierten befindet sich auch der Musiker Valery Matyuschenko. Er wurde 2017 in Komsomolsk wegen angeblicher Spionage verhaftet und zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Während der Haft soll er schwer gefoltert worden sein. Unter anderem sei er mit Elektroschocks und Schlägen malträtiert worden, so dass mehrere Rippen brachen, berichten ehemalige Mitgefangene. „Mein Mann unterstützt die Ukraine und wird das niemals ändern“, sagt dessen Ehefrau Tetyana. Wegen seiner schlechten Gesundheit könne Matyuschenko inzwischen an Krebs leiden, befürchten Verwandte.
Menschenrechtsaktivisten von PrisonersVoice haben dutzende Fälle von Folter und Vergewaltigungen dokumentiert. Unabhängig von den Einzelbeispielen seien allein die Haftbedingungen bereits mit Folter gleichzusetzen, sagt Oleksandra Matwiytschuk. Das Problem werde durch die Covid-19-Pandemie verschärft, weil Häftlinge in Russland, auf der Krim und im Donbas wegen geschlossener Checkpoints nicht zu erreichen seien.
Maßnahmen während der Pandemie
Während der Pandemie benötigen Verwandte und Bürgeraktivisten besondere Hilfe, um politische Häftlinge vor einer Corona-Infektion zu schützen.
Das Center for Civil Liberties hat deshalb eine Petition an internationale Organisationen und deren Mitgliedstaaten gestartet, um das Leben tausender illegaler Gefangener zu schützen.
Verwandte und Lebenspartner hoffen zwar auf den nächsten Gefangenenaustausch. Ukrainische Regierungsbeamte äußern sich dazu aber nur vage, und die Chancen für einen baldigen Austausch scheinen gering. „Wir brauchen mehr Druck von der Öffentlichkeit, damit unsere Regierung ihre Versprechen einhält“, sagt Maryna Kiyaschko zu #PrisonersVoice.
Weil noch hunderte Gefangene nicht von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, steht die globale Kampagne zur Freilassung politischer Häftlinge vor einer großen Herausforderung. Trotzdem geht das Engagement für ihre Freilassung weiter.
Diese Veröffentlichung wurde von Internews Ukraine mit Unterstützung der Ukrainischen Kulturstiftung und dem Zentrum für Bürgerrechte und anderer Partner erstellt. Die Meinung der Ukrainischen Kulturstiftung muss nicht zwingend mit der Meinung des Autors / der Autorin übereinstimmen.
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