Die Präsidentschaft Poroschenkos – eine Zwischenbilanz
Im November jähren sich die Majdan-Proteste zum fünften Mal. Was ist seit dem im Land passiert und was muss sich noch verändern? Eine Reflektion von Professor Gerhard Simon
Die post-Majdan Ereignissen prägten die vergangenen Jahre. Die Erwartungen, Hoffnungen und Enttäuschungen seit dem Ende des Euromajdan (der „Revolution der Würde“) im Februar 2014 liegen jetzt offen zu Tage. Im kommenden Jahr 2019 werden ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt. Einschneidende Erschütterungen wie 2014 sind aus heutiger Sicht nicht zu erwarten. Andererseits: Die Frustration in der Gesellschaft ist groß, das Reformtempo wird von vielen als zu langsam wahrgenommen, noch immer prägen die postsowjetischen Verhältnisse viele Lebensbereiche. Das Ansehen der politischen Klasse und ihrer Institutionen hat einen Tiefpunkt erreicht.
Annährung an Europa und Amerika als größter Erfolg
Dennoch befindet sich die ukrainische Gesellschaft nicht in Aufruhr oder in einer vorrevolutionären Situation. Die politische Nation konsolidiert sich. Der Konsens über den Weg der Ukraine wird breiter. Eine absolute Mehrheit der Menschen befürwortet den Beitritt des Landes zur EU und eine relative Mehrheit den Beitritt zur Nato. Vor allem aber: der „östliche Vektor“ ist zusammengebrochen. Nur noch 20% der Menschen befürworten nach Umfragen eine Union der Ukraine mit Russland und Belarus statt mit der EU; 2010 waren es 60% gewesen. Zur Stabilität des Landes trägt auch bei, dass die Zufriedenheit vieler Menschen mit ihrem persönlichen Leben seit einigen Jahren zunimmt. Nach einer Untersuchung des Instituts für Soziologie der Akademie der Wissenschaften überwiegt die „Hoffnung“ in allen Regionen des Landes gegenüber dem Grundgefühl von „Angst“ oder „Besorgnis“. Das steht in deutlichem Kontrast zur scharfen Kritik, die eine Mehrheit am innenpolitischen Kurs im Land insgesamt übt.
Die wichtigste Errungenschaft der Post-Majdan-Ukraine ist die Annäherung und Verflechtung mit EU-Europa und Nordamerika. Sichtbare Zeichen dafür sind das Assoziierungsabkommen mit der EU, der visafreie Reiseverkehr mit dem Schengen-Raum und die militärische Unterstützung der USA und Kanadas im Krieg im Donbas. Dies alles hat die Poroschenko-Führung nach dem Majdan erreicht, ohne die Zusage einer Mitgliedschaft in der EU und Nato – nach wie vor die strategischen Ziele der Ukraine.
Andauernder Krieg als größter Misserfolg Poroschenkos
Der gravierendste Misserfolg der Poroschenko-Führung ist die Unmöglichkeit, den Krieg im Donbas zu beenden oder auch nur einen stabilen Waffenstillstand durchzusetzen. Auch im fünften Kriegsjahr sind täglich Tote und Verwundete im Donbas zu beklagen, mindestens 1,5 Millionen Kriegsflüchtlinge haben ihre Heimat im Donbas verlassen. Die Ursache für die Unmöglichkeit, den Krieg zu beenden, ist leicht benannt: Die Fortsetzung des Krieges liegt im Interesse der russischen Regierung, die darin den wichtigsten Hebel zur Destabilisierung der Ukraine sieht. Dass dieser Krieg der geringen Intensität bei uns weitgehend vergessen ist, erhöht seinen Nutzen aus der Perspektive der russischen Politik.
In den Augen der ukrainischen Bevölkerung ist der Krieg dagegen die größte Bedrohung. In soziologischen Umfragen wird der Krieg im Donbas regelmäßig als die schwerste Belastung für die Ukraine genannt, danach folgen die Korruption und die Sorgen der Menschen wegen der schlechten Wirtschaftslage und der Bedrohung durch Armut. Korruption und ihre Bekämpfung waren und sind ein zentrales Thema im öffentlichen Diskurs und in der Politik seit dem Euromajdan, der den Kampf gegen die Korruption zum zentralen Anliegen gemacht hatte. Die Ergebnisse sind gemischt. Einerseits sind erhebliche Anstrengungen unternommen worden z. B. durch die Schaffung spezieller polizeilicher und juristischer Behörden zur Korruptionsbekämpfung, so des „Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine“ (Nabu). Andererseits sind die Widerstände in der politischen Elite gegen die Angriffe auf bisherige, durch Korruption gesicherte Privilegien unübersehbar. So konnten erst im Sommer 2018 mit zweijähriger Verspätung die gesetzlichen Grundlagen für die Einrichtung eines Antikorruptionsgerichtshofes geschaffen werden. Die ordentliche Strafgerichtsbarkeit erweist sich – erwartungsgemäß – außer Stande, die von Nabu vorbereiteten Verfahren gerichtlich zum Abschluss zu bringen.
Kampf gegen die Korruption erfordert einen langen Atem
Die Bekämpfung der Korruption wird wesentlich von den westlichen Partnern der Ukraine gefordert und gefördert. Nicht zuletzt die Gewährung weiterer Kredite seitens des IWF hängt von Fortschritten in diesem Bereich ab. Diese Konditionierung ist gewiss berechtigt, und der Erfolg liefert eine Bestätigung. Andererseits: über kaum etwas anderes in der Ukraine wird in den deutschen Medien so ausführlich und gelegentlich genüsslich berichtet. Damit wird das Stereotyp transportiert, die Ukraine sei das „korruptes Land in Europa“. So wie früher das Stereotyp vom Antisemitismus als Wesensmerkmal des Ukrainertums bei uns landläufig war, besteht jetzt die Gefahr, dass der Ukraine dies neue Etikett umgehängt wird. Der Kampf gegen Korruption in Politik und Wirtschaft ist notwendig, aber er wird nicht in wenigen Jahren erfolgreich sein oder gar zu Ende kommen. Das lehrt ein Blick etwa nach Rumänien, einem Mitglied der EU!
Dekommuniserung dauert an
Zum Schluss sei auf zwei gesellschaftspolitische Reformen hingewiesen, die direkt oder (im zweiten Fall) indirekt auf die Majdan-Revolution zurückgehen; die eine Reform betrifft die Geschichtspolitik, die andere die Kirchenpolitik. Durch eine Reihe von Gesetzen ist 2015 die Dekommunisierung des öffentlichen Raumes vorangetrieben worden. Das öffentliche Zeigen kommunistischer Symbole wurde verboten. In der Praxis bedeutete dies vor allem die Demontage Hunderter von Lenindenkmälern. Zugleich wurden die antisowjetischen, nationalistischen Kämpfer und ihre Organisationen rehabilitiert, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit für die ukrainische Unabhängigkeit kämpften. Zum großen Teil handelte es sich um eine Geschichtspolitik, die nachholte, was in Ostmitteleuropa ein Vierteljahrhundert früher passiert war.
Anerkennung der ukranischen Orthodoxen Kirche steht an
In der Kirchenpolitik drängt die Ukraine auf die kirchliche Selbständigkeit der orthodoxen Kirche und damit auf deren Loslösung von Moskau. Weil das Moskauer Patriarchat die Autokephalie nicht gewähren wird, hoffen kirchliche und weltliche Macht in der Ukraine jetzt auf das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel als die Mutterkirche, die in Kiew das selbständige Patriarchat wiederherstellt. Die Chancen für eine Autokephalie aus der Hand des Ökumenischen Patriarchats stehen derzeit nicht schlecht. Gesellschaftspolitisch trifft der Wunsch nach Autokephalie auf einen ähnlich breiten Konsens wie die Dekommunisierung und verbreitert damit die Basis der politischen Nation in der Ukraine.
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