Holodomor: Geschichte und Bedeutung der großen Hungersnot
Die menschengemachte Hungersnot von 1932–1933, genannt Holodomor, hat die ukrainische Gesellschaft und Kultur dramatisch verändert und tiefe Narben im nationalen Gedächtnis hinterlassen. Professor Serhii Plokhii analysiert prägnant die Geschichte und Bedeutung des Holodomor.
„In fast jedem Dorf war der Brotvorrat zwei Monate zuvor erschöpft, die Kartoffeln waren nahezu verbraucht, und es gab nicht genug Rüben, die früher an das Vieh verfüttert wurden, jetzt aber zu einem Grundnahrungsmittel der Bevölkerung geworden sind, um bis zur nächsten Ernte durchzuhalten“, schreibt Gareth Jones, ein walisischer Journalist und die Hauptfigur in Agnieszka Hollands Film Mr. Jones im März 1933 an den Herausgeber des Manchester Guardian. Er beschreibt, was er ein paar Wochen zuvor in der ländlichen Ukraine gesehen hatte. Er fährt fort: „Eine Phrase wurde wiederholt, bis ich eine traurige Eintönigkeit im Kopf hatte, und das war: ‚vse opukhli‘ („alle sind vom Hunger geschwollen“), und bei jedem Gespräch prägte sich mir ein Wort ins Gedächtnis. Dieses Wort war „holod “, was Hunger oder Hungersnot bedeutet. Ich werde auch nicht die geschwollenen Mägen der Kinder in den Hütten vergessen, in denen ich schlief. “
Walter Duranty, ein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Reporter der New York Times und der Antagonist von Mr. Jones in Hollands Film, greift ihn in einem seiner Artikel an und behauptet, dass Jones, der Anfang 1933 in die Ukraine reiste, in seinen Berichten „einen eher unangemessenen Querschnitt eines großen Landes“ darstellt. Duranty gibt zwar „Nahrungsmittelknappheit“ zu, aber keine Hungersnot. In der Tat war die Nahrungsmittelknappheit ein unionsweites Phänomen, die Hungersnot jedoch nicht. Sie traf vor allem, aber nicht ausschließlich, die Getreide produzierenden Gebiete der Sowjetunion, einschließlich der Unteren Wolgaregion mit ihrer russischen Mehrheit und der deutschen Minderheit, die am meisten litt, und des Kuban-Gebietes im Nordkaukasus, das weitgehend von Menschen ukrainischer Nationalität besiedelt war. Die Ukraine war jedoch am härtesten betroffen, die Zahl der Todesopfer erreichte dort vier Millionen Menschen, mehr als die Hälfte derer, die in der Sowjetunion in dieser Zeit verhungerten.
In der Ukraine ist die Hungersnot von 1932–1933 heute als Holodomor oder „Hungertod“ bekannt.
Die unmittelbare Ursache der Hungersnot war Stalins Bestreben, die Kontrolle über den Agrarsektor der Sowjetunion zu erlangen, um seine ehrgeizigen Industrialisierungs- und Militarisierungspläne zu finanzieren.
Dies bedeutete, dass Millionen von in der Landwirtschaft tätigen Personen in die Kolchosen gezwungen werden mussten. Die Ukraine, die sprichwörtliche „Kornkammer Europas“, wurde vom Regime besonders hart behandelt, da sie für die Erfüllung der Wirtschaftspläne Moskaus von entscheidender Bedeutung war. Mitte 1932 waren 70 Prozent der ukrainischen Haushalte kollektiviert, im Gegensatz zu durchschnittlich 60 Prozent in der gesamten Sowjetunion. Die Republik, die 27 Prozent des sowjetischen Getreides produzierte, war nun für 38 Prozent aller Getreidelieferungen an den Staat verantwortlich.
Als im Frühjahr 1930 der Widerstand gegen die Kollektivierung wuchs, entwickelte sich die Ukraine zu einem Brennpunkt der Bauernaufstände. Angesichts dieser neuen Form des bäuerlichen Widerstands weigerten sich Stalin und seine Helfer, ihre Niederlage einzugestehen, und beschuldigten die bäuerliche Bevölkerung der Sabotage und des Versuchs, die Städte auszuhungern und die Industrialisierung zu untergraben. Die Behörden erklärten, dass die Bauernbevölkerung Getreide versteckte und setzten die Polizei ein, um die „Unruhestifter“ zu vertreiben und den Rest in die Kolchosen zu zwingen.
Stalin nutzte die Krise, um das, was er für den ukrainischen Nationalismus hielt, zu zerschlagen. Stalin war der Ansicht, dass die kulturelle Anpassung der ukrainischen Bevölkerung an das Regime in den frühen Jahren der Sowjetunion ihren Widerstand eher gestärkt als geschwächt habe. Das war ein Fehler, den er zu korrigieren suchte. Am 14. Dezember 1932 unterzeichnete er einen Beschluss mit dem Titel „Über die Getreidebeschaffung in der Ukraine, im Nordkaukasus und in der West-Region“. Der Beschluss zielte darauf ab, die Parteikader zu mobilisieren, weiterhin Getreide vom Land zu gewinnen, damit es unter anderem ins Ausland verkauft werden konnte, um die sowjetische Industrialisierung zu finanzieren. Die sowjetische Führung verlangte, dass ihre Untergebenen in der Ukraine und im Nordkaukasus – zwei der drei wichtigsten Getreide produzierenden Gebiete der UdSSR – die Getreidebeschaffungspläne für 1932 bis Januar – Februar 1933 erfüllen sollten.
Der Beschluss vom 14. Dezember betraf auch die Kulturpolitik. Alle namentlich aufgeführten „Saboteure“ waren sowjetische Kader aus der Ukraine. Die Bevölkerung des Dorfes Poltawskaja im Kuban-Gebiet, die zum Exil in den sowjetischen Norden verurteilt worden war, war zufällig überwiegend ukrainischer Nationalität. Der Beschluss ordnete an, dass örtliche Amtsträger im Kuban die Sprache ihrer offiziellen Korrespondenz und des öffentlichen Bildungswesens unverzüglich von Ukrainisch auf Russisch umstellen und die Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften in ukrainischer Sprache einzustellen hatten. In der Ukraine verlangte der Beschluss von der Führung der Republik eine strenge Kontrolle der „Ukrainisierungspolitik“, die in den 1920er Jahren zur Förderung der Entwicklung der ukrainischen Kultur sowie zur Säuberung von „Nationalisten und Agenten” ausländischer Mächte eingeführt worden war. Hunderte von ukrainischen Partei- und Kulturkadern wurden entlassen, verhaftet und ins Exil geschickt, während einige der wichtigsten Förderer der Ukrainisierungspolitik, wie der Volkskommissar für Bildung Mykola Skrypnyk und der führende kommunistische Schriftsteller der Ukraine Mykola Chwylowyj, Selbstmord begingen.
Angeführt von Moskauer Bevollmächtigten und terrorisiert von Stalins Geheimpolizei, nahmen die örtlichen Behörden der hungernden und in vielen Fällen sterbenden Landbevölkerung alles, was sie konnten.
Die Behörden bestraften die Dörfer, die ihre Quoten nicht erfüllten, indem sie die Versorgung mit grundlegenden Gütern, darunter Streichhölzer und Kerosin, unterbrachen und nicht nur Getreide, sondern auch Vieh und alles andere, was als Nahrungsmittel dienen konnte, beschlagnahmten. Im Januar desselben Jahres wurden die ersten Fälle von Massensterben durch Verhungern verzeichnet. Besonders hart betroffen waren die Regionen der Zentralukraine, die sich von der Hungersnot von 1932 noch nicht erholt hatten. Dort starben die Bauern häufiger als anderswo, die meisten von ihnen zwischen März und Juni 1933.
Auch in anderen Getreide produzierenden Gebieten der UdSSR kam es zu einer Hungersnot, aber im Gegensatz zu Russland war die Hungersnot in der Ukraine nicht auf die Getreide produzierenden Regionen beschränkt. Die Auswirkungen des Holodomor erstreckten sich auf Teile des Landes, die nie als Teil des sagenumwobenen ukrainischen „Kornkammer“ betrachtet wurden. Dazu gehörten die Regionen Charkiw und Kyjiw in der ukrainischen Waldsteppenzone. Mehr als die Hälfte der geschätzten vier Millionen den Hungertot gestorbenen Ukrainer und Ukrainerinnen kamen in Regionen ums Leben, die nicht zu den Getreide produzierenden landwirtschaftlichen Kerngebieten des Landes gehörten. Diese Gebiete litten nur deshalb so stark, weil sie Teil der Ukraine waren, die in administrativer, kultureller und politischer Hinsicht von Moskau als eine Einheit behandelt wurde.
Die Hungersnot hat die ukrainische Gesellschaft und Kultur dramatisch verändert und tiefe Narben im nationalen Gedächtnis hinterlassen. Da das Sowjetregime sich weigerte, die Existenz der Hungersnot zuzugeben, wurde über ihre Anerkennung in den letzten Jahrzehnten des Kalten Krieges heftig gestritten. Seit Ende der Sowjetunion entstand eine umfangreiche Literatur zu diesem Thema, die zahlreiche Debatten in der Ukraine und darüber hinaus auslöste. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion dreht sich die Diskussion um die Frage, ob der Holodomor als ein Akt des Völkermords an der ukrainischen Nation zu betrachten sei. Diese Definition wurde der Hungersnot und dem damit einhergehenden Angriff auf die ukrainische Kultur von keinem Geringeren als Raphael Lemkin gegeben, dem Anwalt, der den Begriff „Völkermord“ geprägt hat. Genau als solchen erklärte das ukrainische Parlament im November 2006 den Holodomor. Eine Reihe von Parlamenten und Regierungen auf der ganzen Welt verabschiedeten ähnliche Resolutionen, während die russische Regierung eine internationale Kampagne startete, um die Forderung der Ukraine zu untergraben.
Die politische Kontroverse und wissenschaftliche Debatte über die Art der ukrainischen Hungersnot dauert bis heute an und dreht sich weitgehend um die Definition des Begriffs „Völkermord“. Es zeichnet sich jedoch ein breiter Konsens über einige der entscheidenden Fakten und Interpretationen der Hungersnot von 1932–1933 ab. Die meisten Wissenschaftler sind sich einig, dass es sich tatsächlich um ein von Menschen verursachtes Phänomen handelte, das durch die offizielle Politik verursacht wurde. Während die Hungersnot auch den Nordkaukasus, die Untere Wolgaregion und Kasachstan betraf, war sie nur in der Ukraine das Ergebnis einer Politik, die eine klare ethnonationale Färbung hatte und nicht nur auf die Bauernschaft, sondern auch auf die neue politische Klasse und die kulturelle Elite abzielte. Das Regime war nicht nur hinter dem ukrainischen Getreide her, sondern hatte auch die ukrainische Kultur und letztlich die ukrainische Identität selbst im Visier.
Aus dem Englischen von Olena Bykovets.
Dieser Text für den Sammelband „Ukraine verstehen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt“ stützt sich auf die früheren Arbeiten des Autors zu diesem Thema, insbesondere „The price of truth: The story behind Agnieszka Holland’s ‚Mr. Jones‘“, Ukrainian Weekly, August 7, 2020, und „Mapping the Great Famine“ in „The Future of the Past: New Perspectives on Ukrainian History“ (Cambridge, MA, 2016), S. 375–405. Er ist im November 2020 erschienen und wurde durch das Lysiak-Rudnytsky Ukrainian Studies Programme des Ukrainian Institute gefördert.
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