„Ohne Memes würde ich nicht überleben“– Resilienz in der Ukraine
Seit einem Jahr bestimmt der Krieg den Alltag der Ukrainer:innen. Wie gestalten sie ihr Leben und Überleben angesichts der ständigen Angriffe? Was macht ihre Widerstandskraft aus? Ein persönlicher Blick von Imke Hansen, die in der Ukraine psychosoziale Hilfe organisiert.
Wenn ich nach Resilienz in der Ukraine gefragt werde, fällt mir als Erstes die „Neue Post“ ein – die „Nowa Potschta“ (NP), ein enorm schneller, zuverlässiger Postservice. Die Neue Post ist wie ein weit verzweigtes Nervensystem der ukrainischen Gesellschaft, das bis in die äußersten Ecken reicht.
Die „Neue Post“ leistet etwas, das für Resilienz ganz entscheidend ist: Sie verbindet Menschen miteinander – sowohl durch Sendungen als auch durch den sozialen Austausch. Während man Sendungen aufgibt, abholt oder in der Schlange steht, trifft man Menschen, hört Neuigkeiten, bewegt sich in einem greifbaren sozialen Raum – man tut etwas Normales. Die NP gibt Menschen auch in Gebieten mit stark beschädigter Infrastruktur die Möglichkeit, Dinge zu bestellen, die sie brauchen, oder Dinge zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. In den angegriffenen oder befreiten Gebieten, in denen eine NP-Filiale aufmacht, kehrt das Leben schnell zurück. Die NP lässt sich vom Krieg nicht unterkriegen. Sie ist Quelle, Symbol und Resultat der Resilienz zugleich.
Sich von Widrigkeiten nicht unterkriegen lassen
Resilienz ist die Fähigkeit, sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen und sich von Widrigkeiten nicht unterkriegen zu lassen. In der Ukraine gibt es aktuell zahllose Zeichen der Resilienz, von den global sichtbaren bis zu den kleinen, alltäglichen Improvisationen und Freundlichkeiten, die außerhalb der Ukraine vielleicht gar nicht wahrgenommen werden.
Stromausfälle werden in generatorbetriebenen Co-Working-Spaces und Cafés überbrückt. In vielen Orten gibt es Räume oder Zelte mit dem symbolischen Namen „Punkte der Unzerstörbarkeit“, wo elektrische Geräte aufladen werden können, Trinkwasser oder Tee und häufig auch Informationen zu weiteren Diensten erhältlich sind. Kleine Annehmlichkeiten, die zuvor selbstverständlich waren, wie frischer Kaffee oder eine heiße Dusche, werden stärker gewürdigt. Und es wird gescherzt, dass die Stromrechnungen niedriger ausfallen und man jetzt mehr Zeit zum Lesen, Lieben, Reden oder Denken hat.
Wie kommt die Ukraine zu dieser Resilienz?
Die Ukraine hat Erfahrung mit Krisen und Kriegen: Es herrscht bereits Krieg, seit Russland 2014 die Krim annektierte und von Russland gesteuerte Gruppen ostukrainische Gebiete besetzten. Zehn Jahre davor war die Orangene Revolution, davor die turbulenten und in ihrer Dramatik bis heute unterschätzten Neunzigerjahre und die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986. Die Ukraine war einer der Hauptkriegsschauplätze im Zweiten Weltkrieg, ca. 700 Städte und 28.000 Dörfer wurden zerstört, 2,4 Millionen Ukrainer:innen deportiert und acht bis zehn Millionen getötet. Die von Stalin herbeigeführte künstliche Hungersnot in den Jahren 1932 und 1933 kostete mindestens 3,9 Millionen Ukrainer:innen das Leben.
In ukrainischen Familien gibt es Erzählungen, wie Krisen gemeistert und Verluste verwunden wurden. Manchmal erzählen mir Ukrainer:innen, dass sie sich auf Praktiken ihrer Großmutter besinnen, wenn es keinen Strom oder kein Wasser gibt. Die ukrainische Resilienz hat also eine Geschichte, und Bewältigungsstrategien scheinen transgenerational weitergegeben zu werden.
Dazu gehört auch das im Familiengedächtnis verankerte Wissen, dass man Kriege und Krisen überleben kann, auch wenn nicht alle Menschen überleben. Dass man sich an die krisenbedingten Veränderungen der existentiellen, infrastrukturellen und sozialen Umweltbedingungen anpassen kann. Und dass es auch im Krieg Freude und Verbundenheit gibt. Der Krieg ist das eine, die Reaktion der Menschen auf den Krieg ist etwas anderes.
Stand-up-Comedy war noch nie so beliebt
Eine häufige Reaktion auf den russischen Krieg gegen die Ukraine ist Humor. Wer in ukrainischen sozialen Medien unterwegs ist, mag staunen, worüber sich die Menschen alles lustig machen. Stand-up-Comedy war in der Ukraine noch nie so beliebt wie im letzten Jahr. Täglich erscheinen in sozialen Medien neue humorvolle Memes – in vielen von ihnen geht es um die russische Armee.
Lachen hilft dabei, eine Distanz zwischen einem Ereignis und sich selbst zu schaffen und die eigene Angst zu mäßigen. Es wirkt sich regulierend auf das Nervensystem aus und stärkt die Resilienz. „Ohne Memes würde ich nicht überleben“, sagt meine Freundin S. und ist mit dieser Haltung sicher nicht allein.
Über welches Medium der Humor auch transportiert wird, er enthält häufig kulturhistorische Referenzen, zum Beispiel zu zwei Gemälden des ukrainisch-russischen Malers Ilja Repin (1844–1930). Die weltberühmten „Die Wolgatreidler“ werden als Darstellung von Russen präsentiert und mit den ukrainischen Kosaken in Repins Werk „Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief“ kontrastiert. Zu letzterem Bild inspirierte den Maler eine im 19. Jahrhundert aufgefundene angebliche Abschrift eines Briefes, in dem die Kosaken die Aufforderung des Sultans, sich kampflos zu ergeben, mit derben Scherzen und Flüchen begegneten und ihm den Kampf ansagten.
„Sogar in dunklen Zeiten gibt es Licht“
Insgesamt setzten sich Kunst und Kultur ausgiebig mit dem Krieg und seinen Folgen auseinander. Das Kunstprojekt „Sogar in dunklen Zeiten gibt es Licht“ macht den Heldenmut derer sichtbar, die sonst unsichtbar bleiben würden. Verschiedene Künstler:innen entwerfen Poster über Freiwillige und Initiativen, die sich mit friedlichen Mitteln für das Überleben in der Ukraine einsetzen. Die Poster zeigen Evakuierungen von Waisenkindern und Menschen mit Behinderung, Studierende, die Autos für die Armee reparieren, oder einen Zahnarzt, der Binnenflüchtlinge behandelt. Das Projekt macht die Zivilgesellschaft sichtbar, die einen entscheidenden Anteil der ukrainischen Resilienz ausmacht.
Seit einem Jahr leisten NGOs, Initiativen und unzählige Freiwillige Unglaubliches. Sie evakuieren Hunderttausende, darunter Kinder und Senioren, schwangere Frauen und Menschen mit Behinderung. Sie organisieren auch an den abgelegensten Orten medizinische, psychosoziale und humanitäre Hilfe. Sie renovieren Unterkünfte für Binnenflüchtlinge und unterstützen vom Krieg betroffene Kinder.
Geste der Zuwendung stärkt Resilienz
Die Zivilgesellschaft rettet Leben, lindert Not und Schmerz und übernimmt dabei viele Aufgaben, die der Staat aktuell nicht wahrnehmen kann. Für Menschen in Not ist die Hilfe nicht nur existentiell, sondern auch symbolisch – als Zeichen, der Zuwendung und Bestätigung, nicht vergessen worden zu sein. Diese Geste stärkt sowohl die individuelle Resilienz der Helfenden und Hilfsempfangenden als auch die kollektive Resilienz der Gemeinschaft und Gesellschaft.
Wer immer in Bewegung ist, wer organisiert, hilft und rettet, hat kaum Zeit für deprimierende Gedanken. Das Leid anderer Menschen zu sehen ist schlimm. Aber es lindern zu können, erzeugt das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Viele Menschen, die sich jetzt engagieren, sagen, dass sie sich noch nie so nützlich gefühlt haben, dass sie noch nie so viel Sinn in ihrem Leben gesehen haben wie jetzt. Auch das stärkt die Resilienz.
Omnipräsente Bedrohung führt zu Stress und Konflikten im Alltag
Gleichzeitig ist spürbar, dass ein Jahr Großinvasion deutliche Spuren bei den Menschen hinterlassen hat. Das Stresslevel ist hoch, Konflikte eskalieren leicht. Der Krieg wirkt wie ein Katalysator, der mehr Druck und Dramatik in Auseinandersetzungen bringt. Es wird immer wichtiger, gut auf sich und andere aufzupassen – und zu verstehen, dass Menschen sich angesichts der omnipräsenten Bedrohung schneller angegriffen und bedroht fühlen als sonst. Wer um das eigene Überleben kämpft, kann sich nicht in andere hineinversetzen oder Empathie empfinden. Die daraus entstehenden Konflikte wurzeln also weniger in unterschiedlichen Meinungen als in der Belastung, der Angst und dem Stress, die zehn Jahre Krieg und zwölf Monate Großinvasion mit sich gebracht haben.
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