Julija Tymo­schen­kos dritter Versuch

Julija Tymo­schenko strebt zum dritten Mal nach der Prä­si­dent­schaft. Bis Ende letzten Jahres lag die ehe­ma­lige Pre­mier­mi­nis­te­rin in den Umfra­gen vorne. Jetzt muss die ambi­tio­nierte Poli­ti­ke­rin um ihren Einzug in die Stich­wahl bangen. Von Mattia Nelles

Julija Wolo­dym­y­riwna Tymo­schenko wurde 1960 in Dni­pro­pe­trowsk (heute Dnipro) in der Ost­ukraine geboren. Die stu­dierte Wirt­schafts­in­ge­nieu­rin betä­tigte sich ab der Pere­stroika zusam­men mit ihrem Ehemann Olek­sandr und ihrem Schwie­ger­va­ter Hennady als Unter­neh­me­rin. Zusam­men grün­de­ten sie zu Beginn der 1990er Jahre »Ukra­jin­skyj Bensin«, das Fabri­ken mit Treib­stoff ver­sorgte, bevor sie kurze Zeit später ins Ölge­schäft ein­stie­gen. Zu grö­ße­ren Ver­mö­gen gelangte Tymo­schenko als Chefin des Ener­gie­kon­zerns »Ver­ei­nigte Ener­gie­sys­teme der Ukraine« (EESU), den sie von 1995–1997 leitete. EESU ent­wi­ckelte sich durch lukra­tive Gas­ver­träge mit Gazprom zu einem ein­fluss­rei­chen Wirt­schafts­un­ter­neh­men. Ihr Auf­stieg wurde vom eben­falls aus Dni­pro­pe­trowsk stam­men­den Pre­mier­mi­nis­ter Pawlo Las­a­renko geför­dert, der später in den USA wegen Kor­rup­tion und Erpres­sung zu neun Jahren Gefäng­nis ver­ur­teilt wurde.

Portrait von Mattia Nelles

Mattia Nelles lebt nor­ma­ler­weise in der Ukraine, wo er zur Ost­ukraine arbeitet. 

Der poli­ti­sche Auf­stieg von Tymoschenko

Noch während ihrer Tätig­keit als EESU-Chefin wurde Julija Tymo­schenko 1996 in die Wer­chowna Rada gewählt, der sie bis heute ange­hört. Zwi­schen Dezem­ber 1999 und Januar 2001 war sie als Vize­pre­mier­mi­nis­te­rin der Regie­rung von Wiktor Juscht­schenko für Energie und Koh­le­indus­trie zustän­dig. 1999 grün­dete sie gemein­sam mit Olek­san­der Turtschy­now, dem Über­gangs­prä­si­den­ten nach dem Majdan und heu­ti­gem Chef des Natio­na­len Sicher­heits­rats, die Partei »Bat­kiwscht­schyna« (»Vater­land«). Tymo­schenko führt die Partei bis heute und verfügt mit ihr über die einzige lang­jäh­rige und gut­or­ga­ni­sierte Par­tei­struk­tur mit regio­na­ler Ver­wur­ze­lung. 2004 wurde Julija, wie Tymo­schenko von vielen Ukrai­nern genannt wird, zusam­men mit Wiktor Juscht­schenko zum Gesicht der Orangen Revo­lu­tion. Zwi­schen Februar 2005 und Sep­tem­ber 2005 war sie das erste Mal Pre­mier­mi­nis­te­rin, bevor die tief zer­strit­tene orange Regie­rungs­ko­ali­tion zer­brach. Von Dezem­ber 2007 bis März 2010 war sie erneut Pre­mier­mi­nis­te­rin. Als es in Folge des Gas­kon­flik­tes mit Russ­land im Winter 2008/​2009 zu erheb­li­chen Ver­sor­gungs­eng­päs­sen in der Ukraine kam, han­delte sie mit Wla­di­mir Putin, damals rus­si­scher Pre­mier­mi­nis­ter, einen bis heute umstrit­te­nen Gas-Deal aus. 2010 trat Tymo­schenko das erste Mal als Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­tin an und unter­lag im zweiten Wahl­gang mit 45,75 Prozent nur knapp Wiktor Janu­ko­wytsch, der mit 48,95 Prozent zum neuen Prä­si­den­ten gewählt wurde.

Ver­ur­tei­lun­gen und Freisprüche

Kurz nach der Amts­über­nahme von Janu­ko­wytsch wurde Tymo­schenko im Oktober 2011 wegen Amts­miss­brauchs im Zusam­men­hang mit den umstrit­te­nen Gas­ver­trä­gen von 2009 zu einer sie­ben­jäh­ri­gen Haft­strafe ver­ur­teilt. Die USA, die EU sowie Russ­land kri­ti­sier­ten das Urteil als poli­tisch moti­viert. Der Euro­päi­sche Men­schen­rechts­ge­richts­hof (EGMR), die Par­la­men­ta­ri­sche Ver­samm­lung des Euro­pa­rats (PACE) sowie der US-Senat for­der­ten Tymo­schen­kos Frei­las­sung. Noch während der Haft kam es zu einem zweiten Straf­pro­zess wegen Steu­er­hin­ter­zie­hung, der jedoch nicht zu Ende gebracht wurde. Am 21. Februar 2014 wurde Tymo­schenko im Zuge der »Euromajdan«-Proteste vom Par­la­ment zusam­men mit anderen poli­ti­schen Gefan­ge­nen frei­ge­spro­chen und kurze Zeit später voll­stän­dig reha­bi­li­tiert. Im Juni 2014 stellte das Oberste Gericht der Ukraine fest, dass sich Tymo­schenko beim Abschluss der Gas­ver­träge keines Ver­bre­chens schul­dig gemacht hatte.

Poli­ti­scher Neuanfang

Bei den vor­ge­zo­ge­nen Prä­si­dent­schafts­wah­len im Mai 2014 schei­terte Tymo­schenko deut­lich und erhielt nur 12,8 Prozent der Stimmen. Bei den vor­ge­zo­ge­nen Par­la­ments­wah­len im Oktober 2014 musste ihre Vater­lands­par­tei herbe Ver­luste ein­fah­ren und kam mit 5,68 Prozent nur knapp über die Fünf-Prozent-Hürde. Viele Beob­ach­ter sahen die Kar­riere der ambi­tio­nier­ten Poli­ti­ke­rin bereits als geschei­tert, was, wie sich zeigen sollte, jedoch ver­früht war. Ab Herbst 2018 pen­del­ten sich die Umfra­ge­er­geb­nisse von Tymo­schenko zwi­schen 15 und 20 Prozent ein – zum Teil 10 Prozent vor Amts­in­ha­ber Poro­schenko. In aktu­el­len Umfra­gen von Februar 2019 kommt sie mit Werten um die 15 Prozent jedoch nur noch auf Platz drei hinter Selen­skyj und Poro­schenko und muss um den Einzug in die wahr­schein­li­che Stich­wahl – die sie laut Umfra­gen gegen Poro­schenko gewin­nen, aber gegen Selen­skyj ver­lie­ren würde – bangen. Im Wahl­kampf ver­sucht Tymo­schenko sich als seriöse und erfah­rene Poli­ti­ke­rin zu sti­li­sie­ren und ihrem popu­lis­ti­schen Image zu ent­kom­men. Sie stellte auf meh­re­ren Foren ihr umfas­sen­des Wirt­schafts­kon­zept, ihre Pläne einer Ver­fas­sungs­re­form sowie ihren Frie­dens­plan für den Krieg im Donbas vor. Dafür fordert sie, das Nor­man­die-Format aus­zu­wei­ten und die USA, Groß­bri­tan­nien und China stärker ein­zu­be­zie­hen. Nachdem Prä­si­dent Poro­schenko Tymo­schenko mehr­fach vorwarf, mit Russ­land anzu­ban­deln, tauch­ten im Novem­ber Plakate mit einer klaren Beken­nung zum NATO- und EU-Bei­tritt auf. Auch die im Februar 2019 ver­ab­schie­de­ten Ver­fas­sungs­än­de­run­gen, die die Bei­tritte zu stra­te­gi­schen Zielen erklärte, hat ihre Frak­tion mit­ge­tra­gen. Die Kritik, pro-rus­sisch zu sein, kontert Tymo­schenko stets damit, dass es der pro-rus­si­sche Prä­si­dent Janu­ko­wytsch gewesen sei, der sie ins Gefäng­nis gesteckt hätte.

Innen­po­li­ti­scher Fokus

Tymo­schen­kos Kam­pa­gne hat einen expli­zit innen­po­li­ti­schen Fokus. Anders als Poro­schenko, der sich mit den Themen Armee, Reli­gion und Sprache pro­fi­lie­ren möchte, kon­zen­triert sich Tymo­schenko auf die prekäre wirt­schaft­li­che Lage vieler Ukrai­ner. Im Novem­ber 2018 griff sie die Regie­rung und den Prä­si­den­ten mehr­fach wegen der Gas­preis­er­hö­hung an. Sie ver­spricht, im Falle eines Sieges die Gas­preise hal­bie­ren zu wollen. Das kommt vor allem bei der älteren Wäh­ler­schaft gut an, bei der Tymo­schenko tra­di­tio­nell den größten Rück­halt genießt. Wie sie das ange­sichts der hohen Schul­den und der damit ver­bun­de­nen Abhän­gig­keit von inter­na­tio­na­len Geld­ge­bern errei­chen will, ist aller­dings unklar. Seit ihrem Nomi­nie­rungs­par­tei­tag am 22. Januar absol­viert sie Wahl­kampf­auf­tritte im gesam­ten Land. Auf ihren Kund­ge­bun­gen betont Tymo­schenko immer wieder, mit dem olig­ar­chi­schen System brechen zu wollen und die Wirt­schaft durch rigo­rose Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung und eine Pri­va­ti­sie­rungs­welle sowie den Abbau von Regu­la­rien ankur­beln zu wollen. Auch ver­spricht Tymo­schenko, die Macht­fülle des Prä­si­den­ten ein­schrän­ken und die par­la­men­ta­ri­schen Kon­troll­funk­tio­nen des Par­la­ments stärken zu wollen. Über ihre Ver­fas­sungs­pläne zur Ein­füh­rung einer par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie will sie noch vor den Par­la­ments­wah­len abstim­men. In diesem Zuge soll auch das Wahl­sys­tem refor­miert werden. Ginge es nach Tymo­schenko, würde die Ukraine die Direkt­wahl­man­date abschaf­fen und zu einem reinen Ver­hält­nis­wahl­recht wech­seln – eine For­de­rung, die von vielen inter­na­tio­na­len Exper­ten und der Zivil­ge­sell­schaft unter­stützt wird.

Tymo­schen­kos Glaubwürdigkeitsproblem

Trotz­dem bleibt der Zweifel an Tymo­schen­kos Authen­ti­zi­tät groß. Ein­la­dun­gen an die Zivil­ge­sell­schaft, sich auf ihren Pro­gramm­fo­ren ein­zu­brin­gen, wurden zum Groß­teil aus­ge­schla­gen. Zu tief ist die Skepsis, die nicht irgend­wo­her kommt: Laut dem ukrai­ni­schen Think-Tank »Vox:Ukraine« (https://voxukraine.org/longreads/lie-theory/index-en. html) ist Tymo­schenko die größte »Lüg­ne­rin« unter den ukrai­ni­schen Poli­ti­kern, da sie regel­mä­ßig Fakten bzw. Sta­tis­ti­ken ver­zerre, nur teil­weise richtig wie­der­gebe bzw. bewusst falsch inter­pre­tiere. Gleich­zei­tig wirft ihr teurer Wahl­kampf Fragen zur Finan­zie­rung auf. Anders als Poro­schenko stehen ihr offi­zi­ell kein Pri­vat­ver­mö­gen und keine Fern­seh­ka­näle zur Ver­fü­gung. In der Ukraine halten sich bis heute beharr­lich Gerüchte, dass sie vom Olig­ar­chen Ihor Kolo­mo­js­kyj unter­stützt werde, der sich mit Prä­si­dent Poro­schenko über­wor­fen hat. Tymo­schenko und Kolo­mo­js­kyj eint der Wunsch, Poro­schenko abzu­wäh­len. Mehrere Medien berich­te­ten von einem gehei­men Treffen der beiden im Sommer ver­gan­ge­nen Jahres in War­schau. Schlag­kräf­tige Beweise für eine engere Koope­ra­tion gibt es aller­dings nicht. Auch ist die Bericht­erstat­tung über Tymo­schenko auf Kolo­mo­js­kyjs Fern­seh­sen­der 1+1 zurück­ge­gan­gen, seit Selen­skyj, dem eben­falls eine Nähe zum Olig­ar­chen unter­stellt wird, seine Kan­di­da­tur bekannt­ge­ge­ben hat. Letzt­lich hat ihr Glaub­wür­dig­keits­pro­blem auch mit ihrer Ver­gan­gen­heit zu tun – etwa den Strei­tig­kei­ten mit Prä­si­dent Juscht­schenko, die bei vielen Ukrai­nern im Gedächt­nis geblie­ben sind, oder dem umstrit­te­nen Gas-Deal mit Russ­land. Tymo­schenko steht, genau wie Poro­schenko, sinn­bild­lich für das unbe­liebte alte poli­ti­sche Estab­lish­ment – und das könnte es, ange­sichts der Kan­di­da­tur des poli­ti­schen Neu­lings Selen­skyj, bei dieser Wahl schwer haben.

Der Artikel ist als Teil einer Koope­ra­tion mit den Ukraine-Ana­­ly­­sen (Nr. 213) ent­stan­den, wo er par­al­lel ver­öf­fent­licht wurde.

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