Selenskyjs Durchmarsch geht weiter!
Am Sonntag konnte Wolodymyr Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ die Parlamentswahlen überraschend deutlich gewinnen. Das besonders gute Abschneiden auch in den Direktwahlkreisen überraschte selbst den Präsidenten. Erstmals in der ukrainischen Geschichte seit 1991 kann ein Präsident ohne Koalitionspartner regieren. Das ermöglicht einen immensen Handlungsspielraum, birgt aber in einem System mit schwach ausgeprägten Checks and Balances und einer politisierten Justiz auch Risiken. Eine Analyse von Mattia Nelles
Der Präsident und seine Partei Diener des Volkes (Sluha Narodu) konnten die ukrainischen Parlamentswahlen überraschend deutlich gewinnen. Laut vorläufigen Auszählungsergebnissen von 99,43 Prozent der Stimmen wird die Fraktion des Präsidenten über 254 Abgeordnete verfügen. Der Wahlsieg Selenskyjs ist der mit Abstand größte Wahlsieg einer Partei bei den Parlamentswahlen seit der Einführung dieses Wahlsystems vor 21 Jahren. Erstmals seit 1991 kann eine Partei eine Regierung ohne Koalitionspartner bilden.
Zur Wahl standen 424 Abgeordnete – 225 davon über Parteilisten und 199 in Direktwahlkreisen. Die hohen Umfragewerte galten immer nur für die Erststimmen bzw. Parteilisten. Den Sprung ins neue Parlament schafften letztendlich fünf Parteien. Neben Selenskyjs „Diener des Volkes“ wird die pro-russische Partei „Oppositionsplattform für das Leben“ die zweitstärkste Kraft mit 43 Sitzen. Drittstärkste Kraft wird die Vaterlandspartei“ der ehemaligen Premierministerin mit 26 Sitzen. Die Fraktion des Ex-Präsidenten Poroschenko „Europäische Solidarität“ konnte nur 25 Sitze erreichen. Die kleinste Fraktion wird die Partei „Stimme“ von Swjatoslaw Wakartschuk mit 20 Abgeordneten bilden (siehe Übersicht unten).
Grün (Diener des Volkes), Blau (Oppositionsplattform für das Leben), Rot (Vaterlandspartei), Bordeaux (Europäische Solidarität), Orange (Stimme)
Alte Garde muss sich der „Marke“ Selenskyj geschlagen geben
Am Wahltag selber gab es noch Zweifel, ob sich die Prognosen und hohen Umfragewerte für Selenskyjs Partei trotz Neuwahlen inmitten der Sommerpause auch in Wählerstimmen auszahlen würden. Unklar blieb vor allem, wie sich die unzähligen Direktkandidaten geschlagen hatten und wem die leicht geringere Wahlbeteiligung von 49,84 Prozent mehr nutzen würde.
Als die ersten Exit-Polls eintrudelten, war klar, dass sich der Siegeszug des Präsidenten fortsetzen würde. Die Wählerbefragungen, die zuvor bei den Präsidentschaftswahlen erstaunlich genau waren, zeigten Wolodymyr Selenskyjs Partei bei bis zu 44 Prozent. Der Präsident und sein Team feierten zurückhaltend und kündigten an, Gespräche mit Swjatoslaw Wakartschuks Stimme (Holos) suchen zu wollen. Wakartschuks Partei ließ noch am Wahlabend verlauten, er stünde bereit, Premierminister zu werden.
Am Tag nach der Wahl wurde klar, dass das gute Abschneiden von Selenskyjs Partei über die Parteilisten sogar von einem noch besseren Abschneiden der Kandidaten übertroffen wurde. So konnte Diener des Volkes insgesamt 129 von insgesamt 199 Direktmandate erringen. Vor der Wahl hatte niemand im politischen Kyjw Selenskyjs Partei mehr als 100 Direktmandate zugetraut. Insgesamt konnte die Partei „Diener des Volkes“ alle Oblaste bis auf Donezk und Lugansk im Osten und den Lwiwer Oblast im Westen gewinnen (siehe interaktive Karte von dekoder).
Das ist insgesamt erstaunlich, weil in vielen Wahlkreisen zum Teil mehrere etablierte Kandidaten des „alten Systems“ zur Wahl standen. Diese Kandidaten konkurrierten in fast allen Fällen gegen neue und unbekannte Gesichter von Selenskyjs Partei. „Die überwiegende Mehrheit der Kandidaten des Präsidenten waren selbst uns Experten unbekannt“, sagt Vita Dumanska Koordinatorin der politischen Watchdog Bewegung CHESNO. „Das extrem gute Abschneiden der No Names zeigt, dass die Versuche der alten Kräfte, Stimmen durch administrative Ressourcen oder kleine Bestechungen durch Gretschka [Buchweizen] zu erhalten, schlichtweg nicht mehr ziehen und die Marke Selenskyj immer noch überzeugt.“
„Politisches Massaker“ der alten Elite
Die krachende Niederlage vieler Etablierter Abgeordnete deutet auf eine neue Zusammensetzung der politischen Elite hin. Balazs Jarabik, ein Ukraine-Experte vom Carnegie Endowment, sprach sogar von einem „politischen Massaker“. Fakt ist, dass bis zu 80 Prozent der Abgeordneten ihre Arbeit ohne Parlamentserfahrung aufnehmen. 2014 waren es noch knapp 50 Prozent. Ob neue Gesichter aber auch bessere Politik bedeuten, muss sich noch zeigen.
Erstaunlich ist, dass selbst in Wahlbezirken mit den höchsten staatlichen Subventionensich unbekannte Gesichter des Präsidenten durchsetzen konnten, so Vita Dumanska.
Als Beispiel nennt er den Wahlkreis des Skandal-MPs Ihor Kononenko, der höher subventioniert wird als alle anderen Distrikte im Donbas,
Einer der positiven Folgen des Erdrutschsieges von Selenskyj sei es, dass die Mehrheit der „Skandal-Ageordneten“, wie Alexander Hranowsky, Dmytro Golubow Odessa, Maksym Burbak, Ihor Konenko aus dem Parlament gefegt wurden. Der Polit-Journalist Denis Kasanskyj schrieb auf Twitter nüchtern, dass Geld nicht länger Wahlerfolg garantiere.
Liberale Reformer Opfer der Anti-Establishment Stimmung
Die radikale Veränderung der Werkhowna Rada trifft jedoch nicht nur Skandal-Abgeordnete. Auch die reformorientierten Abgeordneten, im Westen besser als Euro-Optimisten bekannt, wurden von der Anti-Establishment-Welle aus dem Parlament gespült. Von diesen 25 Abgeordneten schafften nur Elena Schkrum und Iwan Krulko den Sprung über die Vaterlandsliste ins Parlament. Andere, wie Switlana Salischtschuk (Cherkassy Oblast), Serhij Letschenko und Leonid Jemets (beide Kyjiw), kandidierten in Direktwahlkreisen und scheiterten dabei. Andere Reformer, wie Oleksandr Ryabshyn oder Olena Sotnyk, waren über Parteilisten gescheitert. Sowohl Diener des Volkes als auch die Stimme hatten auf die liberalen Reformer auf ihren Parteilisten verzichtet und ausschließlich auf neue und meist unbekannte Gesichter gesetzt.
Wie geht es weiter?
Jetzt ist es wichtig nicht nur über das Ergebnis zu reden, sondern auch über die immensen Erwartungen und die Verantwortung der Partei des Präsidenten. „2014 hatten wir einen Präsidenten, der eine große Mehrheit gewann. Seine Koalition hatte bis 2016 sogar eine verfassungsändernde Mehrheit. Aber innerhalb von ein bis zwei Jahren haben die Regierung und der Präsident das Vertrauen der Wähler fast vollständig verloren. Eben weil nicht schnell genug geliefert wurde.“, sagt Vita Dumanska. Die Situation jetzt sei ähnlich volatil, meint Dumanska.
Tatsächlich scheinen die Erwartungen an das so tief verachtete Parlament und den Präsidenten und sein Team fast unerfüllbar. Im Unterschied zu seinen Vorgängern wird Selenskyj auch nicht mehr auf mangelnde Unterstützung im Parlament verweisen können. Der Präsident sagte noch am Wahlabend: „Das [der Sieg] ist nicht nur ein Zeichen des Vertrauens, sondern auch eine große Verantwortung für mich und mein Team“ und fügte hinzu: „Die höchsten Prioritäten für uns und jeden Ukrainer sind ein Ende des Kriegs, die Rückkehr unserer Gefangenen und der Sieg über die Korruption“. Entscheidend für die Korruptionsbekämpfung wird sein, wie das Parlament die Justizreform neustartet, die Antikorruptionsbehörde und das neue Antikorruptions-Gericht bei ihrer Arbeit unterstützt werden. Die Zivilgesellschaft hat in ihrer Agenda for Justice Schlüsselforderungen zusammengefasst, sogar Gesetzesentwürfe vorbereitet. „Die Partei [des Präsidenten] unterstützt diese Agenda for Justice, mindestens rhetorisch“, sagt Mykhailo Zhernakow, Vorsitzender der DeJuRe Stiftung in Kyiw. „Sie kündigten öffentlich an, die Justizverwaltungsorgane mit Hilfe der internationalen Experten – dem wichtigsten Element der Justizreform – wieder in Gang bringen zu wollen. Jetzt ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass die richtigen Gesetzentwürfe verabschiedet werden“.
Selenskyj ist in Eile
Tatsächlich hat Selenskyj es eilig. Am Tag nach der Wahl kündigte er an, das Parlament noch zum Unabhängigkeitstag einberufen zu wollen. Ob ihm das gelingt, ist noch offen. Die ersten drei Monate des Parlaments werden zeigen, wie ernst es der Präsident und seine Partei mit den Reformen meinen. Angefangen mit der Frage, wer zum Premierminister ernannt wird. Am Wahltag selber erklärte Selenskyj, er wolle einen „Wirtschafts-Guru“ mit politisch reiner Weste zum Premierminister machen. Im Gespräch sind nach Informationen der KyivPost Vladyslaw Raschkowan (IMF), Andrij Kobolew (Naftogaz) und Jurij Witrenko (Naftogaz). Ebenfalls zentral ist die Ernennung des Generalstaatsanwaltes. Hier hatte sich Selenskyj bisher bedeckt gehalten.
Ein System mit geringen Checks and Balances
Nie zuvor hatte ein Präsident einen solchen enormen politischen Gestaltungsspielraum und diese Machtfülle. Skeptiker fürchten, dass dies im ukrainischen System mit schwachausgeprägten Checks and Balances missbraucht werden könnte. „Eine solche Übermachtstellung ist in der Tat ein Risiko – eben wenn es kaum parlamentarische Kontrolle über die Exekutive gibt“, sagt Mykhailo Zhernakow. Ebenso wichtig ist die Frage, wie sich die Oligarchen neuaufstellen und welchen Einfluss sie im Ringen um die lukrativen Futtertröpfe auf die große Fraktion und den Präsidenten nehmen können.
Wiktor Janukowytsch brachte mit ihm befreundete Geschäftsgruppen ins Zentrum der Macht und schaffte es mit „nur“ 185 Abgeordneten, ein „ausgewieftes kleptokratisches System“ zu errichten. Nach der Wahl Poroschenkos kam es zu Machtverschiebungen im oligarchischen System und davon profitierten – gerade im Energiesektor und zum Teil im Rüstungssektor – Freunde bzw. Geschäftspartner Poroschenkos, schildert Vita Dumanska von CHESNO. Auch wenn Selenskyj selbst nicht vorhat, sich auf dieses Spiel einzulassen und sich selber nicht bereichern möchte, ist vollkommen offen, zu welcher Enwicklung die neue politische Ordnung führen wird und welchen Einfluss die Oligarchen, wie Kolomojskyj, dem ehemaligen Geschäftspartner von Selenskyj, ausüben werden. Jenseits der Privatbank-Frage werden Reformen des Energiesektors mehr Aufschluss darüber geben, inwiefern Selenskyj mit der Vergangenheit brechen will und ob er auch Leuten aus seinem Umfeld keine lukrativen Wirtschaftszweige zuschachern wirdt.
Selenskyjs größter Trumpf – seine Supermehrheit mit dieser historisch nie dagewesenen Fraktion – könnte sich auch als Problem herausstellen. Fraktionsdisziplin ist in der Ukraine generell schwach ausgeprägt. Die 253 immens jungen und unerfahrenen Mandatsträger sind eine extrem diverse Gruppe aus Reformern, jungen Geschäftsleuten und Abgeordneten mit Beziehungen zu Kolomojskyj. Speziell die direkt gewählten Kandidaten mit unklaren lokalen Interessen und Seilschaften sind besonders schwierig bei der Stange zu halten. Bereits Poroschenko tat sich schwer, die direkt gewählten Kandidaten „seiner“ Partei zu kontrollieren.
Letztendlich ist der Erdrutschsieg ein Ausdruck des tiefen Überdrusses der Bevölkerung am bestehenden politischen System. Die Eliten haben die Wählerinnen und Wähler immer wieder aufs Neue enttäuscht. Bis heute ist offen, ob Selenskyj das ihm entgegengebrachte Vertrauen und diese immense Anti-Establishment-Stimmung konstruktiv für den Umbau der Ukraine einsetzen wird. Wenn es der 41-jährige Selenskyj ernst meint, wird er viele Kämpfe zu schlagen haben und dabei auf die Unterstützung des Westens angewiesen sein. Sollte er scheitern, so wäre das eine furchtbare politische Katastrophe.
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