Ulana Suprun: „Staatliche Stellen nutzen die Quarantäne, um weniger transparent zu werden“
Die weltweite Corona-Pandemie trifft die Ukraine hart, da oft die medizinische Ausstattung veraltet oder Mangelware ist. Dazu gab es mehrere Wechsel im Gesundheitsministerium allein 2020. Unser Redakteur Mattia Nelles wollte wissen, wie es dem Gesundheitssystem der Ukraine geht, welche Korruptionsrisken die Pandemie birgt und was die ukrainische Regierung unternimmt, um das Virus zu bekämpfen. Ein Interview mit der ehemaligen Gesundheitsministerin der Ukraine, Ulana Suprun.
Bis jetzt ist die Zahl der COVID-19-Infektionen in der Ukraine, verglichen mit anderen Ländern, relativ gering. Sind diese Zahlen realistisch? Wo steht die Ukraine jetzt in ihrem Kampf gegen COVID-19?
Wir haben keine Angaben, wie viele Menschen auf COVID-19 getestet wurden. Wir wissen nur, wie viele der durchgeführten Tests positiv waren. Das ist also anders als in vielen anderen Ländern, die tatsächlich angeben, wie viele Menschen getestet wurden. Wir haben solche Zahlen nicht und das ist ein Problem, beispielsweise für Modellrechnungen. Es ist schwer zu durchschauen, was hier wirklich vor sich geht.
Anfangs gab es ein Problem mit der Verfügbarkeit von COVID-19 Tests, erst in den letzten Wochen waren genügend Tests erhältlich. Ein weiteres Problem ist die Fähigkeit der Labore, die nötigen Untersuchungen bzw. Tests durchzuführen. Die Ukraine begann sehr spät, Tests, Schutzausrüstung für das medizinische Personal und Beatmungsgeräte zu suchen, nachdem andere Länder schon die meisten dieser Ressourcen aufgekauft hatten. Die Ukraine hat den Höchststand an Infektionen noch nicht erreicht. Wir haben in den letzten Tagen einen kontinuierlichen Anstieg der Fallzahlen gesehen. Das war zu erwarten, denn nachdem wir einmal angefangen hatten zu testen, wurde bestätigt, dass Patienten in den Krankenhäusern an Beatmungsgeräten oder mit Lungenentzündungen positiv auf das SARS-COV-2-Virus reagierten. Über Ostern hatten die Kirchen der Russischen Orthodoxen Kirche geöffnet und die Anzahl der durchgeführten Tests war geringer. Das führt wahrscheinlich zu höheren Infektionszahlen in ein bis zwei Wochen.
Aber für wann erwarten Sie diesen Höhepunkt der Pandemie?
Das Gesundheitsministerium schätzt, dass das Anfang Mai sein wird, aber bis wir genug Informationen und ausreichende Daten haben, um zu sehen, wie lang die Verdopplungszeit ist, wie hoch die Zahl positiver Tests und die Anzahl von Patienten mit Symptomen sind, das ist schwer zu sagen. Eines der größten Probleme ist wiederum der Mangel an Transparenz und Informationsaustausch. Wir wissen nicht, wie viele Patienten künstlich beatmet werden, und es gibt nicht einmal verlässliche Zahlen, wie viele Beatmungsgeräte verfügbar sind. Es ist schwer, diese Angaben zu bekommen, ohne selbst in Krankenhäuser zu gehen und jedes Gerät selbst zu überprüfen und zu zählen. Im Moment übernimmt die Zivilgesellschaft diese Aufgabe.
Wie würden Sie die Krisenkommunikation der Regierung und der Gesundheitsfachkräfte einschätzen? Ist sie effektiv, was wurde versäumt?
Sie war von Anfang an ineffektiv, als mehr als 80.000 Ukrainer*innen aus dem Ausland zurückkehrten. Ihnen wurden keine Informationen gegeben, was sie tun sollen. Ihnen wurde nur gesagt, sie sollten sich in häusliche Isolation begeben, aber ihnen wurden keine Erklärungen gegeben, was das genau bedeutet. Das führte unter anderem dazu, dass diese Menschen weiterhin Gäste empfingen, und sich der Virus so weiterverbreiten konnte. Der Mangel an Kommunikation war von Anfang an erheblich, und dann hat die Regierung das kompensiert, indem sie zu viele Leitstellen und Kommunikationskanäle einrichtete, die Informationen ausgaben. Die Leute bekamen einfach widersprüchliche Botschaften von verschiedenen Stellen. So etwas führt zu Verwirrung, und die Menschen wissen nicht mehr, auf wen sie hören sollen. Der Mangel an koordinierten und genauen Informationen zu COVID-19 für die Bevölkerung hat dazu geführt, dass die Ukraine in eine solch strenge autoritäre Quarantäne gehen musste, die unsere Wirtschaft stark schwächt.
Das Antikorruptions-Aktionszentrum ZPK warnte kürzlich vor dem Korruptionsrisiko bei den Beschaffungsplänen des Gesundheitsministeriums für medizinische Ausrüstung. Wie sehen Sie die Korruptionsrisiken jetzt in der Krise und darüber hinaus?
Die Risiken sind groß, da das Gesundheitsministerium und andere staatliche Stellen die Quarantäne dafür nutzen, ihr Tun wesentlich weniger transparent zu gestalten. Es gibt zwei Probleme. Erstens hat der Einkauf von Medikamenten und medizinischen Geräten bei internationalen Organisationen noch nicht begonnen, die routinemäßige Beschaffung, die nicht im Zusammenhang mit COVID-19 steht. Das muss die Regierung jedes Jahr für 1,5 Millionen Ukrainer organisieren, für die diese Medikamente lebensnotwendig sind. Es wurde noch nichts eingekauft für Krebspatienten, für HIV-Patienten oder für andere schwer kranke Menschen. Zum Beispiel gibt es in der Ukraine für HIV-Patienten nur Medikamente bis September. Danach werden sie aufgebraucht sein. Und der Beschaffungsprozess dauert ziemlich lange. Was wird passieren, wenn diese Beschaffung nicht wie geplant über internationale Organisationen abläuft? Man wird irgendwo einkaufen, unter Zeitdruck, und das führt zu Korruption.
Zweitens wird der Einkauf für COVID-19, für die dafür bestimmten Ausrüstungen und Medikamente, außerhalb der normalen Regeln für die Auftragsvergabe ablaufen. Dann wird nicht mehr gründlich überprüft. So hat der neue Gesundheitsminister Stepanow selbst ein Angebot gefunden und in Südkorea zu einem Preis von 488 UAH eingekauft, für eine Ausrüstung, die die medizinische Beschaffungsagentur in der Ukraine für 245 UAH hätte bekommen können. Ein weiteres Problem mit dem neuen Gesundheitsminister ist, dass seine Ehefrau am Tag vor seiner Ernennung ein Unternehmen registriert hat, das medizinische Geräte in Odessa verkauft. Dieses Unternehmen nimmt an einigen dieser Ausschreibungsverfahren teil und wurde nicht von vornherein aufgrund von Interessenkonflikten ausgeschlossen. Die Medien sind so auf COVID-19 und die Pandemie fokussiert, dass diesen Routineprozessen in der Regierung und im öffentlichen Leben nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Die staatlichen Verwaltungen geben sich große Mühe, die Privatwirtschaft und auch einige Oligarchen in die Bekämpfung der Pandemie einzubinden. Wie sehen Sie das, was sind die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft?
Kein Oligarch ist ein guter Oligarch. Man trifft eher auf eine mafiöse Struktur, wo man um Hilfe bittet, und diese muss man dann mit Zinsen zurückzahlen. Die Ukraine hat Rücklagen, und die Wirtschaft der Ukraine sowie legitime Unternehmen könnten das gut mit Hilfe der Zivilgesellschaft organisieren. Das ist, was bei Ausbruch des Krieges 2014 geschah. Und etwas Ähnliches geschah zu Beginn der COVID-19-Pandemie. Die Zivilgesellschaft der Ukraine und die Wirtschaft sind zusammengekommen und helfen jetzt ziemlich effektiv – nicht durch Regierungskanäle, sondern durch ihre eigenen Geber- und Wohltätigkeitsnetzwerke. Und es scheint, zumindest wenn man sich die Berichterstattung anschaut, dass die Graswurzelbewegung viel mehr erreicht hat als die Regierung oder vermeintliche Oligarchen. Doch eines der Probleme dabei ist, dass wir vom Präsidenten hören, dass jede Woche viele Flugzeuge aus China eintreffen und irgendwelche Ausrüstung liefern, aber dass es keine Berichte darüber gibt, was eigentlich angekommen ist, wohin es gegangen ist und wofür es benutzt wird. Wir wissen also nicht, was eingeführt wurde, und nun besteht der Verdacht, dass vieles von schlechter Qualität war, dass Gelder nicht sinnvoll eingesetzt wurden, weil oft das Erstbeste, was erhältlich war, gekauft wurde, anstatt erst einmal einen Plan oder eine Strategie zu entwerfen.
Sie sagten bereits, dass nicht genug getestet wird. Aber wie stellen Sie sich die Ausstiegsstrategie oder den Hammer-und-Dance-Ansatz bei der Bewältigung der Pandemie vor, ohne viele Tests?
Wir müssen mehr Menschen testen, und wir brauchen eine bessere Verfügbarkeit dieser Tests. Transparenz und eine datenbasierte Berichterstattung extem wichtig für uns, um angemessen reagieren zu können. Bis das nicht der Fall ist, können wir nicht zuversichtlich diese Quarantäne verlassen, weil wir nicht wissen, wo wir wirklich stehen. Heute Morgen habe ich auch gelesen, dass laut der American Medical Association in den Vereinigten Staaten vier wesentliche Voraussetzungen gegeben sein müssen, bevor man die Quarantäne beenden kann. Erstens muss das Übertragungsrisiko in der Bevölkerung minimiert werden, basierend auf einem erwiesenen anhaltenden Abwärtstrend bei Neuansteckungen und Todeszahlen. Zweitens muss ein robustes, gut koordiniertes und bestücktes Testnetzwerk vorhanden sein. Drittens ein gut ausgestattetes öffentliches Gesundheitssystem zur Überwachung und Kontaktrückverfolgung. Sowie viertens voll ausgestattete Krankenhäuser und ausreichend Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Von all dem sind wir weit entfernt. Das Ministerkabinetts muss diese Voraussetzungen organisieren, erst dann kann darüber gesprochen werden, welche Einrichtungen geöffnet werden können und welche nicht. Wenn wir das nicht schaffen, haben wir wahrscheinlich nach Ende der Quarantäne eine große Anzahl an Ansteckungen, Erkrankungen und auch Toten. Ein Testnetzwerk muss vorhanden sein, zusammen mit klaren Vorgaben für Ärzte und Krankenhäuser, wen sie testen sollen, wie sie testen sollen und wie sie das melden sollen. Und wir brauchen ein öffentliches Gesundheitssystem zur Überwachung und zur Kontaktrückverfolgung. Und dann müssen unsere Krankenhäuser auch voll ausgestattet sein und unser gesamtes Personal darin ausgebildet, wie Schutzausrüstung einzusetzen ist.
Wie lange glauben Sie wird es dauern, bis ein Impfstoff entwickelt ist, und wie lange würde es dauern, diesen in großem Umfang in der Ukraine zu verteilen?
Nun, anscheinend gehen in der internationalen Wissenschaft die meisten davon aus, dass es ungefähr ein Jahr dauern wird, bevor ein Impfstoff entwickelt und im großen Umfang produziert wird. Sobald ein Impfstoff massenhaft produziert wird, wird die Ukraine natürlich ihre Bestellungen aufgeben. Aber wann er in der Ukraine massenhaft zur Verfügung steht und wann flächendeckend geimpft wird, steht in den Sternen. Gerade die große Skepsis vieler Ukraine gegenüber Impfungen, wie Masern, könnte ein großes Problem darstellen.
Was denken Sie über die Situation in den besetzten Gebieten in Bezug auf das Coronavirus. Sollte die Ukraine in diesen Gebieten helfen, und wenn ja, wie?
Zunächst einmal gab es von russischer Seite die Anschuldigung, dass die OSZE das Coronavirus in die besetzten Gebiete gebracht habe. Die OSZE und die an der Mission beteiligten Länder bestritten das natürlich. Es war ein Versuch, die OSZE-Mission aus den besetzten Gebieten auszuschließen, mit der Begründung, dass sie die Krankheit einschleppen würde. Wir hören jetzt nur von einigen gemeldeten Fällen dort. Unserer Staatssicherheitsdienst beobachtet die Medien in diesen besetzten Gebieten, sie sammeln Informationen. Wir sehen einige Zahlen, aber wir wissen nicht, wie genau diese sind, und ob sie wahr sind oder nicht. Ich denke, das Wichtigste, was wir tun können, ist, wahre Information zu verbreiten. Denn in den besetzten Gebieten schauen die Menschen auch ukrainisches Fernsehen oder hören ukrainisches Radio. Oder sie informieren sich im Internet. Präzise Informationen, was man tun soll oder wie man sich schützen kann, welche Programme oder Fakten die Regierung zu Verfügung stellt, können dazu beitragen, dort die Anzahl der Infektionen zu senken und denen, die sich angesteckt haben, zu helfen. Ich denke, das ist im Moment das Einzige, was die ukrainische Regierung tun kann. Und das tut sie.
Dr. Ulana Suprun war vom 27. Juli 2016 bis 29. August 2019 Gesundheitsministerin in der Ukraine. Sie wurde in den USA geboren und wanderte 2013 in die Ukraine aus. Während des Maidans machte sie sich als Ärztin, die den Verletzten half, einen Namen. Sie gründete die NGO Patriot Defence, eine Schule für Rehabilitationsmedizin an der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw und die NGO Arc.UA.
Der Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt von Meike Temberg und erschien im Original bei LibMod.de
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