Europa beginnt in den Köpfen – Amts­ein­füh­rung Wolo­dymyr Selenskyjs

Am gest­ri­gen Vor­mit­tag wurde der ukrai­ni­sche Prä­si­dent Wolo­dymr Selen­skyj ins Amt ein­ge­führt. In seiner bemer­kens­wer­ten Rede im ukrai­ni­schen Par­la­ment gab sich der neue Prä­si­dent betont kon­zi­li­ant und zugleich angriffs­lus­tig. Außer einer neuen poli­ti­schen Epoche kün­digte er auch Neu­wah­len inner­halb zwei Monaten an. Ob und wann es zu den vor­ge­zo­ge­nen Neu­wah­len kommen wird, das ist jedoch unklar. Selen­skyjs Umgang mit dem Olig­ar­chen Ihor Kolo­mo­js­kyj und die Nomi­nie­run­gen für Schlüs­sel­po­si­tio­nen werden zeigen, ob er mehr zu bieten hat als nur einen neuen Stil und schöne Worte. Von Mattia Nelles

Zele­brierte Volksnähe

Bei ange­neh­men Früh­lings­wet­ter schlen­derte Wolo­dymyr Selen­skyj in bester Hol­ly­wood-Manier durch den Marin­skij Park an Unter­stüt­zern vorbei über einen roten Teppich ins ukrai­ni­sche Par­la­ment, schüt­telte Hände und posierte gelas­sen für Selfies – ein großer Kon­trast zu Prä­si­den­ten wie Wla­di­mir Putin, der auf men­schen­lee­ren Straßen Moskaus zum Kreml zu seiner Amts­ein­füh­rung gefah­ren wird. Die bewusst insze­nierte Bür­ger­nähe passt zu Selen­skyjs bis­he­ri­gen Wahl­kampf und lässt seine Unter­stüt­zer hoffen, dass er auch in Zukunft ein kom­mu­ni­ka­ti­ver Prä­si­dent sein wird.

Portrait von Mattia Nelles

Mattia Nelles lebt nor­ma­ler­weise in der Ukraine, wo er zur Ost­ukraine arbeitet. 

Als inter­na­tio­nale Gäste waren unter anderem die Prä­si­den­ten Est­lands, Lett­lands, Litau­ens, Ungarns und Geor­gi­ens anwe­send. Die USA waren durch den Ener­gie­mi­nis­ter Rick Perry, Polen durch seinen Außen­mi­nis­ter Jacek Cza­pu­to­wicz und Deutsch­land durch Chris­tian Wulff, den Bun­des­prä­si­den­ten a.D., ver­tre­ten. Die EU-Staaten Frank­reich, Kroa­tien und Groß­bri­tan­nien hatten Staats­se­kre­täre geschickt. Ins­ge­samt nahmen weniger hoch­ran­gige Ver­tre­ter an der Zere­mo­nie als noch 2014 bei der Amts­ein­füh­rung von Poro­schenko teil – was damit zu tun haben könnte, dass das Datum für die Amts­ein­füh­rung erst letzten Don­ners­tag bekannt­ge­ge­ben wurde.

Neben den inter­na­tio­na­len Gästen waren Ver­tre­ter der wich­tigs­ten ukrai­ni­schen Staats­or­gane sowie fünf der mitt­ler­weile sechs ehe­ma­li­gen ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten anwe­send. Nur Wiktor Janu­ko­wytsch, der in der Ukraine wegen Hoch­ver­rat ver­ur­teilte wurde, war abwe­send. Den Amts­schwur nahm erst­mals in der Geschichte der Ukraine eine Frau ent­ge­gen, die Vor­sit­zende des Ver­fas­sungs­ge­richts Natalia Shaptala.

Zwi­schen Kon­zi­li­anz und Angriffslust

Nachdem Selen­skyj den Eid auf die Ver­fas­sung hinter sich gebracht und die prä­si­den­ti­el­len Symbole der Macht, wie das tra­di­tio­nelle Kosa­cken-Zepter Bulawa, in Empfang genom­men hatte, begann er seine knapp 18-Minü­tige Rede zunächst mit ver­söh­nen­den Worten [eng­li­sches Tran­skript der Rede hier]. Selen­skyj rief den Beginn einer neuen Epoche und einen neuen Stil aus und sprach davon, dass alle Ukrai­ner – auch die­je­ni­gen die nicht für ihn gestimmt haben – zu Prä­si­den­ten gewor­den seien. Von nun an, so Selen­skyj, liege die Ver­ant­wor­tung zur Ver­än­de­rung bei allen, genau wie die Regeln für alle, also expli­zit auch für den Prä­si­den­ten gelten – ein Sei­ten­hieb gegen den Ex-Prä­si­den­ten Poro­schenko und die poli­ti­sche Klasse. Mit Hin­blick auf Europa sagte Selen­skyj, „Ein euro­päi­sches Land beginnt mit allen von uns. Ja, wir haben den Weg nach Europa gewählt. Aber Europa ist nicht einfach irgendwo dort. Europa ist hier” – dabei zeigte er auf seinen Kopf.

Der gemein­same Traum von Europa sei kein ein­fa­cher Weg, aber  wenn die Ukrai­ner sich einig seien, könnten er erreicht werden, sagte Selen­skyj kämp­fe­risch und fügte hinzu: „Von Usch­go­rod bis Lugansk, von Tsch­ni­hiw bis Sim­fe­re­pol, in Lwiw, Charkiw und Donezk, in Dnipro und Odessa. Wir alle sind Ukrai­ner und wir müssen zusam­men­ste­hen. Das ist der einzige Weg stark zu bleiben.“ All das, so Selen­skyj, sei nötig, um eine neue Epoche zu beginnen.

“Denken Sie an die islän­di­sche Natio­nal­mann­schaft während der Fußball-Euro­pa­meis­ter­schaft. Als ein Zahn­arzt, ein Film­re­gis­seur, ein Pilot, ein Student und eine Putz­kraft zusam­men kämpf­ten und die Würde ihres Landes ver­tei­dig­ten. Und sie schaff­ten es, erfolg­reich zu sein, obwohl niemand an sie glaubte.

Das ist unser Weg. Wir müssen zu Islän­dern im Fußball werden, zu Israe­lis bei der Ver­tei­di­gung ihres recht­mä­ßi­gen Landes, zu Japaner in Sachen der Tech­no­lo­gie und zu Schwei­zern bei der Frage, wie wir trotz aller Unter­schiede glück­lich mit­ein­an­der aus­kom­men können.“

Krieg im Donbas

Den Krieg im Donbas zu beenden erklärte er unter dem Applaus der Anwe­sen­den zu seiner wich­tigs­ten Prio­ri­tät. So wolle er eine unmit­tel­bare Feu­er­pause erwir­ken. Um das Blut­ver­gie­ßen im Osten zu beenden, sei er zu schwie­ri­gen Ent­schei­dun­gen auch auf Kosten seiner Beliebt­heit oder seines Amtes bereit, so Selen­skyj. Ein Passus, der Beob­ach­ter an Äuße­run­gen des ehe­ma­li­gen Pre­mier­mi­nis­ters Arsenij Jazen­juk erin­nerte, der 2014 seine Pre­mier­mi­nis­ter­amt mit einer „Kami­kaze Mission“ ver­gli­chen hatte. Seine Aufgabe sei der Dialog, sagte Selen­skyj, bevor er zum ersten Mal in seiner Rede ins Rus­si­sche wech­selte und sagte, dass der erste Schritt für einen Dialog die Frei­las­sung aller ukrai­ni­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen sei. Auf die besetz­ten Gebiete würde die Ukraine aber in keinem Fall ver­zich­ten können, betonte Selen­skyj. Inwie­fern der neue Prä­si­dent den Frie­dens­pro­zess akti­vie­ren kann, das hängt auch von dem Per­so­nal ab, das er für die Ver­hand­lun­gen nomi­niert. Außer­dem ist allen klar, dass der Schlüs­sel zur Lösung des Kon­flikts in Moskau und nicht in Kyjiw liegt. Die Ausgabe von rus­si­schen Pässen an Bewoh­ner der soge­nann­ten Volks­re­pu­bli­ken bietet wenig Anlass zu Hoff­nun­gen, dass Moskau derzeit an einem fried­li­chen Aus­gleich mit Selen­skyj inter­es­siert ist.

An die Bewoh­ner der Krim und des Donbas gerich­tet, sagte Selen­skyj „Sowohl die Krim als auch das Donbas sind ukrai­ni­sche Gebiete. Wir haben nicht nur die Ter­ri­to­rien ver­lo­ren, wir haben das Wich­tigste ver­lo­ren: die Men­schen.“ Als Selen­skyj das zweite Mal in seiner Rede ins Rus­si­sche wech­selte, sagte er: „Heute müssen wir – ich bin sicher, sie hören uns zu – ihr Gewis­sen zurück­be­kom­men. Wir haben dieses Gewis­sen ver­lo­ren. All diese Jahre hat die Regie­rung nichts getan, damit sie sich ukrai­nisch fühlen.“ Die Ukrai­ner auf der Krim und im Donbas besser anzu­spre­chen, das war schon Teil seines Wahl­kamp­fes gewesen. Jetzt wird es span­nend zu beob­ach­ten sein, wie er sich in seiner Amts­zeit auch um diese Ukrai­ner bemüht.

Fron­tal­an­griff auf die poli­ti­sche Klasse

Bei der Innen­po­li­tik ange­kom­men, schal­tete Selen­skyj vom kon­zi­li­an­ten, einen­den Prä­si­den­ten gänz­lich auf Angriff um und zitierte Ronald Reagan mit den Worten, dass die Regie­rung nicht dafür da sei, alle Pro­bleme zu lösen, sondern unser Problem sei. Seine Wahl, so der Prä­si­dent, sei ein Zeugnis dafür, dass die Wähler genug von den Poli­ti­kern und der Art und Weise hätten, wie in den letzten 28 Jahren durch Stehlen und Betrug Politik gemacht wurde.

„Ich will wirk­lich nicht, dass Sie meine Por­träts an Ihre Büro­wände hängen. Weil ein Prä­si­dent keine Ikone und kein Idol ist. Ein Prä­si­dent ist kein Porträt. Hängen Sie Bilder von Ihren Kindern auf. Und bevor Sie eine Ent­schei­dung treffen, schauen Sie ihnen in die Augen.“ 

Rück­tritte ermög­li­chen poli­ti­schen Handlungsspielraum

Nach diesem selbst­be­wuss­ten Fron­tal­an­griff sagte der Prä­si­dent, dass er wei­ter­re­den könne, die Leute nun aber Taten erwar­te­ten. Der neue Prä­si­dent for­derte die zuvor geschol­te­nen Abge­ord­ne­ten zum Arbei­ten auf. Sie mögen endlich die par­la­men­ta­ri­sche Immu­ni­tät auf­he­ben, ein neues Gesetz über die ille­gale Berei­che­rung sowie Ände­run­gen des Wahl­ge­set­zes ver­ab­schie­den, das es den Bürgern ermög­li­che, nach­zu­voll­zie­hen, wer bei den Par­teien auf welche Lis­ten­plätze komme. Zuletzt rief er das Par­la­ment auf, den Chef des Inlands­ge­heim­diens­tes, den Gene­ral­staats­an­walt und den Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter zu ent­las­sen. Bereits vor seiner Rede hatten der Chef des Natio­na­len Sicher­heits­ra­tes Olek­sandr Turtschy­now, der Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Stepan Pol­to­rak, der Außen­mi­nis­ter Pawlo Klimkin und der Chef des mäch­ti­gen Inlands­ge­heim­diens­tes (SBU) Wassyl Hryzak sowie der Chef­un­ter­händ­ler Minsk Tri­la­te­ral Contact Group (TCG) Yevhen Marchuk ihre Rück­tritte ange­kün­digt. Nur der stark kri­ti­sierte Gene­ral­staats­an­walt Jurij Luzenko äußerte sich nicht. Die Rück­tritte ermög­li­chen es Selen­skyj, Vor­schläge für die Neu­be­nen­nun­gen zu machen, die dann vom Par­la­ment bestä­tigt werden müssen. Auch wenn Selen­skyj kom­pe­tente Kan­di­da­ten nomi­niert, ist es möglich, dass das Par­la­ment die Ernen­nun­gen ver­zö­gert oder gar verhindert.

Selen­skyj will das Par­la­ment auflösen

Zuletzt kün­digte er an, das Par­la­ment auf­lö­sen zu wollen und inner­halb von zwei Monaten Neu­wah­len anzu­set­zen. Bis dato exis­tiert seine Partei „Diener des Volkes“ mehr auf dem Papier als in der Wirk­lich­keit, was dazu führt, dass er bis nach den Wahlen für die Umset­zung seiner Politik und die Ver­ab­schie­dung von Geset­zen auf die unge­liebte, alte poli­ti­sche Elite zurück­grei­fen muss. Aktuell liegt seine Partei bei knapp 40 Prozent in den Umfra­gen – auch deshalb wären schnelle Wahlen in seinem urei­ge­nen Interesse.

Ob es jedoch im Juli oder August zu Neu­wah­len kommen wird, ist mehr als unge­wiss, da ein gewief­ter Win­kel­zug der Par­la­ments­frak­tion der Narodny Front (Volks­front) des ehe­ma­li­gen Pre­mier­mi­nis­ters Jaze­niuk genau das ver­hin­dert haben könnte. Ob und wie es somit wei­ter­geht ist offen und könnte letzt­end­lich vom Ver­fas­sungs­ge­richt ent­schie­den werden. Nach Selen­skyjs Rede kün­digte Pre­mier­mi­nis­ter Wolo­dymyr Groy­s­man seinen Rück­tritt für Mitt­woch an, was wie­derum für vor­ge­zo­gene Neu­wah­len spricht. Mit­glie­der der Partei Poro­schen­kos ließen zudem ver­lau­ten, dass sie sich Neu­wah­len vor­stel­len könnten. Es scheint, als ob sich die Inter­es­sen Selen­skyjs mit Poro­schenko über­schnei­den. Letz­te­rer hofft, seine Unter­stüt­zer­ba­sis, die sich im Laufe der kom­men­den Monate auf andere Kan­di­da­ten teilen könnte, zu mobi­li­sie­ren, um so mit einer (starken) Frak­tion im Par­la­ment ver­tre­ten zu sein.

Folgen den Worten Taten?

Der Vor­sit­zende der Rada Andrij Parubij fasste die Amts­ein­füh­rung iro­nisch mit den Worten zusam­men, “Das war lustig “. Letzte Woche kehrte der umstrit­tene Olig­arch Ihor Kolo­mois­kyj, den Kri­ti­ker als Unter­stüt­zer, gar Strip­pen­zie­her Selen­skyjs wähnen, ins Land zurück, und kurz vor der Amts­ein­füh­rung ver­kün­dete auch der frühere Vize-Chef der Prä­si­di­al­ver­wal­tung aus der Janu­ko­wytsch-Zeit, Andrij Portnow, seine Rück­kehr. Der Umgang mit diesen zum Teil frag­wür­di­gen Per­sön­lich­kei­ten­wird zeigen, ob tat­säch­lich eine neue Epoche in der ukrai­ni­schen Politik begon­nen hat. Wenn Selen­skyj es ernst meint mit seinen Ankün­di­gun­gen, könnte dem Vor­sit­zen­den der Rada, Andrij Parubij, der Spaß schnell ver­ge­hen. Denn dann drohen harte Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen dem Par­la­ment, der poli­ti­schen Elite, und dem Prä­si­den­ten Selenskyj.

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