100 Tage Selen­skyj: Eine erste Bilanz

© Shut­ter­stock

Prä­si­dent Selen­skyj und seine neue Regie­rung haben ein his­to­ri­sches Mandat erhal­ten, drin­gend not­wen­dige Refor­men umzu­set­zen. Die Pläne der Regie­rung sind ebenso ambi­tio­niert wie umfas­send. Ener­gi­sche poli­ti­sche Führung und eine Per­so­nal­po­li­tik, die alleine auf neue Gesich­ter setzt, reichen aber nicht aus, um die zahl­rei­chen Refor­men zu ent­wer­fen und deren Umset­zung in der Fläche zu gewährleisten.

Portrait von Mattia Nelles

Mattia Nelles lebt nor­ma­ler­weise in der Ukraine, wo er zur Ost­ukraine arbeitet. 

Als Ende letzten Jahres mög­li­che Kan­di­da­ten für die ukrai­ni­sche Prä­si­dent­schaft dis­ku­tiert wurden, hatte kaum jemand Wolo­dymyr Selen­skyj auf dem Schirm. Nach der Ankün­di­gung seiner Kan­di­da­tur am Neu­jahrs­abend begann der kome­ten­hafte Auf­stieg des erfolg­rei­chen Medi­en­ma­na­gers, Schau­spie­lers und Come­dian. Knapp vier Monate später wurde der 41-jährige in der zweiten Runde der Prä­si­dent­schafts­wah­len mit einem his­to­ri­schen Ergeb­nis von 73 Prozent ins Amt gewählt. Hinter ihm lag ein extrem erfolg­rei­cher Wahl­kampf, in dem er einer­seits auf die volle Unter­stüt­zung des vom umstrit­te­nen Olig­ar­chen Ihor Kolo­mo­js­kyj kon­trol­lier­ten Fern­seh­sen­ders 1+1 zurück­grei­fen konnte, als auch auf die Auf­tritte seiner popu­lä­ren Sati­ri­ker-Truppe Kwartal95. Zudem ver­stand sein junges Wahl­kampf­team es besser als alle anderen, ihren Kan­di­da­ten mit­hilfe von Social Media in Szene zu setzen, Selen­skyjs Fol­lower in die Kam­pa­gne ein­zu­bin­den und mit ihrer Hilfe die Wähler zu mobilisieren.

Selen­skyj als erfolg­rei­cher Wahlkämpfer

Am Tag seiner Amts­ein­füh­rung löste Wolo­dymyr Selen­skyj in einer ful­mi­nan­ten Rede das Par­la­ment auf und ordnete vor­ge­zo­gene Neu­wah­len für den 21. Juli an. Den Groß­teil seiner ersten 100 Tage im Amt ver­brachte der neu­ge­wählte Prä­si­dent dem­entspre­chend im Wahl­kampf­mo­dus. Er tourte durch die Regio­nen, legte sich mit lokalen Offi­zi­el­len an, gei­ßelte diese teils als »inef­fi­zi­ent« oder »korrupt« und feuerte in einem Fall einen Beamten medi­en­wirk­sam vor lau­fen­der Kamera. Das ruppige Auf­tre­ten Selen­skyjs erin­nerte Kri­ti­ker an seine Rolle als Film-Prä­si­dent in der erfolg­rei­chen Fern­seh­se­rie »Diener des Volkes«, kam aber in der Bevöl­ke­rung gut an.

Selen­skyj hatte es eilig, auch innen­po­li­tisch schnell Akzente zu setzen und ver­ab­schie­dete – unter Umge­hung des Par­la­ments – eine Reihe von prä­si­den­ti­el­len Dekre­ten. Denn das kurz nach der Revo­lu­tion der Würde gewählte Par­la­ment lehnte alle von Selen­skyj ins Par­la­ment ein­ge­brachte Geset­zes­in­itia­ti­ven ab. Diese Tat­sa­che wusste das »Team Ze«, wie sich das Wahl­kampf­team von Selen­skyj nannte, bestens zu inszenieren.

Letzt­end­lich zahlte sich Selen­skyjs kon­fron­ta­tive Taktik gegen das alte Par­la­ment voll aus. Bei den Par­la­ments­wah­len im Juli gewann seine hastig auf die Beine gestellte und nach seiner Fern­seh­se­rie benannte Partei Diener des Volkes (Sluha Narodu) 254 Mandate. Die über­wie­gende Mehr­heit der Par­la­men­ta­rier Selen­skyjs sind selbst den erfah­rens­ten Politik-Exper­ten der Ukraine gänz­lich unbe­kannt – auch weil Selen­skyjs Partei kon­se­quent auf Neu­ein­stei­ger setzte, die nach eigenen Aus­sa­gen aus mehr als 3.000 Online-Bewer­bern aus­ge­wählt wurden.

Ins­ge­samt fand ein nie zuvor dage­we­se­ner Per­so­nen­wech­sel im Par­la­ment statt. Fast 80 Prozent der Man­dats­trä­ger aller Frak­tio­nen saßen vorher nicht im Par­la­ment. Zudem fand eine deut­li­che Ver­jün­gung statt. Das Durch­schnitts­al­ter beträgt nun 41 statt vorher 47 Jahre. Ob die neuen Gesich­ter im Par­la­ment weniger anfäl­lig sind für Kor­rup­tion als die alten Par­la­men­ta­rier, und ob sie tat­säch­lich bessere Politik machen, müssen sie nun beweisen.

Miss­trauen in Insti­tu­tio­nen als Schlüs­sel des Wahlerfolgs

Die Par­la­ments­wah­len fanden, genau wie die Prä­si­dent­schafts­wah­len, in einem Klima des gesell­schaft­li­chen Miss­trau­ens in die eta­blierte poli­ti­sche Klasse der Ukraine statt. Laut Umfra­gen des Raz­um­kov-Zen­trums von Ende März 2019 gehört das Par­la­ment zu den Insti­tu­tio­nen, die das geringste Ver­trauen im Land genie­ßen: Knapp 70 Prozent der ukrai­ni­schen Bür­ge­rin­nen und Bürger ver­trauen ihren Volks­ver­tre­tern kaum oder gar nicht.

Selen­skyj wusste die Anti-Estab­lish­ment Stim­mung und das tiefe Miss­trauen der Bevöl­ke­rung zu nutzen. Das Miss­trauen in die poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen im Land geht zurück auf die pre­kä­ren Lebens­ver­hält­nisse vieler Bürger, die große Distanz der poli­ti­schen Klasse zu den Wählern und das hohe Ausmaß der Kor­rup­tion. Selen­skyj wusste sich hier als Küm­me­rer und unver­brauchte Kraft zu inszenieren.

Miss­trauen in Insti­tu­tio­nen als Problem

Selen­skyj machte in seiner bis­he­ri­gen Amts­zeit keinen Hehl aus seiner Gering­schät­zung ver­schie­de­ner Insti­tu­tio­nen. Das drückt sich vor allem in dem gestör­ten Ver­hält­nis des Prä­si­den­ten und seiner Entou­rage zu kri­ti­schen Medien aus. Als Prä­si­dent­schafts­kan­di­dat vermied Selen­skyj Inter­views weit­ge­hend und auch nach seinem Amts­an­tritt gab er ukrai­ni­schen Medien kein ein­zi­ges rich­ti­ges Inter­view. Ein Inter­view mit der deut­schen »Bild« im Rahmen seines Berlin-Besuchs war eine der Aus­nah­men. Auch die groß ange­kün­digte Pres­se­kon­fe­renz nach 100 Tagen Amts­zeit wurde auf unbe­stimmte Zeit verschoben.

Beson­ders viel Kritik ver­ur­sachte eine Äuße­rung Andrij Bohdans, des umstrit­te­nen Chefs des Büros des Prä­si­den­ten  – früher Prä­si­di­al­ad­mi­nis­tra­tion  –, der ukrai­ni­schen Medien gegen­über sagte, dass Medien nicht die Stimme des Volkes seien und dass Selen­skyj und sein Team auch »ohne Inter­me­diäre« direkt mit der Öffent­lich­keit kom­mu­ni­zie­ren können.

Tat­säch­lich setzt Selen­skyj stark auf PR statt auf klas­si­sche Medien. Immer wieder ver­öf­fent­licht er kurze Videos, die er seinen Mil­lio­nen Fol­lo­wern bei Insta­gram, Face­book und Youtube kre­denzt. In einem seiner wenigen län­ge­ren Videos fährt Selen­skyj in einem Tesla durch Kyjiw und beant­wor­tet Fragen seiner Nutzer. Ähnlich kusche­lig ging es bei einem Ende August bei 1+1 aus­ge­strahl­ten Inter­view zu, das aus­ge­rech­net der Schau­spie­ler Sta­nis­law Boklan führte, der in der Fern­seh­se­rie Diener des Volkes den kor­rup­ten Pre­mier­mi­nis­ter an Selen­skyjs Seite spielt. Trotz einer großen Band­breite an Themen wurde das Inter­view von ukrai­ni­schen Medien scharf kri­ti­siert, da es sich bei Boklan um einen Schau­spie­ler und Ver­trau­ten des Prä­si­den­ten handelt und nicht um einen pro­fes­sio­nel­len Journalisten.

Das Ende des semi-prä­si­den­ti­el­len Systems?

Im poli­ti­schen System der Ukraine nahm das viel geschol­tene Par­la­ment his­to­risch eine wich­tige Rolle als Gegen­ge­wicht zum Prä­si­den­ten ein. Am deut­lichs­ten wurde das zuletzt Ende letzten Jahres, als Petro Poro­schenko nach dem Beschuss ukrai­ni­scher Mari­ne­boote und der Fest­set­zung 24 ukrai­ni­scher Matro­sen durch Russ­land vor der Straße von Kertsch das Kriegs­recht im ganzen Land ver­hän­gen wollte. Sein Vor­ha­ben wurde vom Par­la­ment aus­ge­bremst und das Kriegs­recht nur ein­ge­schränkt in Teilen der Ukraine ausgerufen.

Seit 1991 ver­fügte kein Prä­si­dent über so viel for­melle Macht und die Mög­lich­keit, die Exe­ku­tive und Legis­la­tive zu domi­nie­ren. Zum Aus­druck kommt das auch in der neuen Sitz­ver­tei­lung des Par­la­ments, die welt­weit unter eta­blier­ten Demo­kra­tien seines Glei­chen sucht. Selen­skyjs 254 Abge­ord­ne­ten beschlos­sen, künftig im Halb­kreis um das Red­ner­pult des Par­la­ments zu sitzen. Die Oppo­si­tion, ver­teilt auf fünf Frak­tio­nen, nimmt dahin­ter Platz.

Bereits am ersten Sit­zungs­tag des neuen Par­la­ments wurde klar, dass in den nächs­ten Wochen eine ganze Flut von Geset­zes­tex­ten ver­ab­schie­det wird. In der ersten, sich über 16 Stunden erstre­cken­den Sitzung, ver­ab­schie­dete das Par­la­ment mehr als 70 Geset­zes­texte in erster Lesung – dar­un­ter die Abschaf­fung der all­um­fas­sen­den Immu­ni­tät für Abge­ord­nete, die am 3. Sep­tem­ber in zweiter Lesung ver­ab­schie­det wurde. Für eine ernst­hafte Aus­ein­an­der­set­zung um die genauen Inhalte im Geset­zes­text blieb keine Zeit.

Jetzt bleibt offen, welche Rolle das Par­la­ment, die Regie­rungs­frak­tion sowie die kleine Oppo­si­tion künftig ein­neh­men werden. Viel deutet auf eine Ver­schie­bung der Macht weg von der Wer­chowna Rada hin zum Büro des Prä­si­den­ten hin. Inwie­fern die neue Macht­ver­tei­lung dem Reform­schub nutzt, und welche lang­fris­ti­gen Aus­wir­kun­gen sie auf die ukrai­ni­sche Demo­kra­tie haben wird, bleibt abzuwarten.

Selen­skyjs Personalpolitik

Selen­skyjs bis­he­rige Per­so­nal­ent­schei­dun­gen gelten als zen­trale Grad­mes­ser seiner künf­ti­gen Politik. Seit dem ersten Sit­zungs­tag des Par­la­ments am 29. August verfügt die Ukraine über einen neuen Pre­mier­mi­nis­ter und eine neue Regie­rung. Der neue Pre­mier­mi­nis­ter Olexij Hont­scha­ruk, zuvor stell­ver­tre­ten­der Chef des Prä­si­di­al­bü­ros, ist mit 35 Jahren der jüngste Pre­mier­mi­nis­ter in der Geschichte der Ukraine. Der pro­mo­vierte Jurist und Immo­bi­li­en­fach­mann kan­di­dierte 2014 erfolg­los für die libe­rale Syla Ljudej (Kraft der Men­schen) fürs Par­la­ment und wurde 2015 zum Leiter einer neuen Agentur, die die neue Regie­rung in Sachen Büro­kra­tie­ab­bau und Digi­ta­li­sie­rung beriet. Seine Ernen­nung wurde von der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft über­wie­gend begrüßt. Jetzt muss der junge und poli­tisch uner­fah­rene Pre­mier­mi­nis­ter bewei­sen, dass er dem Amt gewach­sen ist.

Auch das neue Kabi­nett ist das jüngste in der ukrai­ni­schen Geschichte. Das Durch­schnitts­al­ter der elf Männer und sechs Frauen liegt bei 39 Jahren. Das jüngste Mit­glied im Kabi­nett ist Vize-Pre­mier­mi­nis­ter und Digi­tal­mi­nis­ter Mycha­jlo Fedorow mit gerade erst 28 Jahren. Gemein­sa­mes Merkmal der 17 Minis­ter ist die geringe poli­ti­sche Erfah­rung. Aus dem Kabi­nett Hro­js­man ver­blei­ben ledig­lich zwei Minis­ter: die im Westen ange­se­hene Öko­no­min Oxana Mar­ka­rowa als Finanz­mi­nis­te­rin und Innen­mi­nis­ter Arsen Awakow. Warum Selen­skyj, der so kon­se­quent in fast allen Per­so­nal­ent­schei­dun­gen auf neue Gesich­ter oder enge Ver­traute setzt, aus­ge­rech­net an dem in der Ukraine hoch­um­strit­te­nen Innen­mi­nis­ter fest­hält, ist vielen Beob­ach­tern unklar.

Andere grund­sätz­lich posi­tive Ernen­nun­gen umfas­sen Olex­andr Dany­ljuk zum Vor­sit­zen­den des Natio­na­len Sicher­heits­ra­tes und Aivaras Abrom­a­vičius zum CEO von Ukroboron­prom, des von Skan­da­len geplag­ten staat­li­chen Rüs­tungs­kon­glo­me­rats. Beide sind in den post-Maidan-Regie­run­gen als Refor­mer in Erschei­nung getre­ten, müssen aber nun ihr Hand­lungs­ge­schick in sen­si­blen sicher­heits- und ver­tei­di­gungs­po­li­ti­schen Fragen unter Beweis stellen. Auch die Ernen­nung von Ruslan Rja­boschapka zum Gene­ral­staats­an­walt­schaft wurde von vielen als posi­ti­ves Zeichen begrüßt. Rja­boschapka gilt als erfah­re­ner Refor­mer mit tiefen Kennt­nis­sen in Justiz- und Anti­kor­rup­ti­ons­re­for­men und als jemand, der um die Pro­bleme seiner neuen Behörde bestens Bescheid weiß. Es wird inter­es­sant zu beob­ach­ten sein, wie viel Gestal­tungs­spiel­raum und Unter­stüt­zung die Refor­mer unter Selen­skyj erhal­ten werden.

Bohdan als umstrit­tenste Personalentscheidung

Die mit Abstand umstrit­tenste Per­so­nal­ent­schei­dung des neuen Prä­si­den­ten war die Ernen­nung von Andrij Bohdan zum mäch­ti­gen Chef des Büros des Prä­si­den­ten. Der aus­ge­bil­dete Jurist ist einer der wenigen in Selen­skyjs innerem Team mit nen­nens­wer­ter Poli­tik­erfah­rung, die er aus­ge­rech­net in der kor­rup­ten Regie­rung von Janu­ko­wytsch sam­melte – und zwar als Berater für Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung. Dem­entspre­chend fällt er eigent­lich unter das Lus­tra­ti­ons­ge­setz, was Selen­skyj jedoch nicht davon abhielt, ihn als seinen wich­tigs­ten Mit­ar­bei­ter ein­zu­stel­len. Zudem war Bohdan zuvor für den Olig­ar­chen Ihor Kolo­mo­js­kyj als Jurist und Berater tätig. Das Magazin Nowoe Wremja bezeich­nete Bohdan jüngst als »Schat­ten­prä­si­den­ten«. Viele der bis­he­ri­gen Schlüs­sel­in­itia­ti­ven des Prä­si­den­ten tragen seine Hand­schrift. Es gilt jetzt genau­es­tens zu beob­ach­ten, ob er seine Macht­fülle und sein Talent aus­schließ­lich im posi­ti­ven Sinne für das Durch­set­zen wich­ti­ger Refor­men nutzt.

Außen­po­li­tik

Bei seinen bis­he­ri­gen Aus­lands­be­su­chen in Brüssel, Paris, Berlin und Toronto sowie jüngst in War­schau ver­si­cherte Selen­skyj den inter­na­tio­na­len Part­nern, dass er den Reform­kurs des Landes beschleu­ni­gen will und dass er am »Weg Rich­tung Europa« fest­halte. Ernen­nun­gen erfah­re­ner Diplo­ma­ten, wie Wadym Prysta­jko zum Außen­mi­nis­ter und Dmytro Kuleba zum Vize­pre­mier­mi­nis­ter für euro­päi­sche und euro-atlan­ti­sche Inte­gra­tion, sowie den in der Ukraine unter Exper­ten ange­se­he­nen Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Andrij Saho­rodnjuk, spre­chen tat­säch­lich für eine außen- und sicher­heits­po­li­ti­sche Kon­ti­nui­tät der neuen Administration.

Bewe­gung in der Bei­le­gung des Donbas-Krieges?

Selen­skyj erklärte im Wahl­kampf die Been­di­gung des Donbas-Krieges zu einem seiner zen­tra­len Anlie­gen. Tat­säch­lich kam nach seinem Amts­an­tritt Bewe­gung in die Ver­hand­lun­gen. Der Fokus der ukrai­ni­schen Politik ist zwei­glei­sig: Zum einen setzt Selen­skyj auf eine neue diplo­ma­ti­sche Initia­tive und zum anderen auf eine Politik der kleinen Schritte entlang der Front.

Selen­skyj führte zwei Tele­fo­nate mit Wla­di­mir Putin und ver­zich­tete auf direkte Gesprä­che mit den Sepa­ra­tis­ten. Ende August bahnte sich ein großer ukrai­nisch-rus­si­scher Gefan­ge­nen­aus­tausch an. Anfang Sep­tem­ber fand das letzte Bera­ter­tref­fen in Vor­be­rei­tung auf ein anste­hen­des Gip­fel­tref­fen im Nor­man­die-Format statt, das Prä­si­dent Macron für Sep­tem­ber ankün­digte. Völlig unklar bleibt, zu welchen Zuge­ständ­nis­sen Russ­land bereit ist. Die jüngste Pass-Offen­sive, die es Bürgen in den besetz­ten Gebie­ten im Donbas ein­fa­cher macht, die rus­si­sche Staats­bür­ger­schaft zu erlan­gen, belas­ten die Gesprä­che. Bis Mitte August erhiel­ten nach Angaben des rus­si­schen Innen­mi­nis­te­ri­ums 25.000 Men­schen rus­si­sche Pässe. Weitere 60.000 bewar­ben sich für solche.

Selen­skyj setzt sich für die Ver­bes­se­rung der Bedin­gun­gen der Über­gänge entlang der Front­li­nie ein und kün­digte eine Reihe von Maß­nah­men, wie die Grün­dung eines rus­sisch-spra­chi­gen Fern­seh­sen­ders, an. Tat­säch­lich gelang es, am ein­zi­gen Über­gang in der Luhans­ker Oblast, einen lokalen Waf­fen­still­stand und ein Ent­flech­tungs­ab­kom­men durch­zu­set­zen, was zum Abzug schwe­rer Waffen und einem Minen­räu­mungs­pro­gramm um den Über­gang führte. Als nächs­tes stehen Ver­bes­se­run­gen der Infra­struk­tur bevor, um den beschwer­li­chen Über­gang zu erleichtern.

Anfang August spa­zier­ten über­ra­schend Wla­dis­law Deinego, der selbst­er­klärte »Außen­mi­nis­ter« der soge­nann­ten »Luhans­ker Volks­re­pu­blik« (LNR), zusam­men mit Olga Kopzewa, der »Ombuds­frau« der »LNR«, über die Kon­takt­li­nie nach Stanyzja Luhanska, um sich dort mit Ver­tre­tern der Ver­ein­ten Natio­nen aus­zu­tau­schen. Am 21. Juli einigte man sich dann auf eine Aus­wei­tung des Waf­fen­still­stan­des auf den gesam­ten Front­ver­lauf. Trotz mehr­fa­chen Bruches bezeich­nete der Son­der­be­auf­tragte der OSZE Martin Sajdik den Waf­fen­still­stand als »den bis dato effek­tivs­ten«. Tat­säch­lich gingen die Opfer­zah­len im Ver­gleich zum glei­chen Zeit­raum im Jahr 2018 zurück. Offen ist nun, welche Front­ab­schnitte als nächs­tes ent­flech­tet werden, wie die Politik der kleinen Schritte wei­ter­geht und wo sie an ihre Grenzen stößt.

Innen­po­li­tik

In einem Inter­view mit sechs ukrai­ni­schen Medien am 30. August kün­digte Pre­mier­mi­nis­ter Hont­scha­ruk an, dass das Wirt­schafts­wachs­tum oberste Prio­ri­tät für die neue Admi­nis­tra­tion habe. Durch ein ver­bes­ser­tes Geschäfts­klima für natio­nale und inter­na­tio­nale Unter­neh­men sollen Anreize für Inves­ti­tio­nen geschaf­fen werden, die dann unmit­tel­bar ver­bes­serte Lebens­ver­hält­nisse her­bei­füh­ren. Weitere Kern­an­lie­gen der neuen Regie­rung sind der Neu­start der Justiz- und Anti­kor­rup­ti­ons­re­form sowie eine groß­flä­chige Pri­va­ti­sie­rung von Staats­be­trie­ben und eine Agrarlandreform.

Bei einem gemein­sa­men Treffen am 2. Sep­tem­ber mit dem Kabi­nett machte Selen­skyj kräftig Druck und setzte kon­krete Dead­lines für die Umset­zung zahl­rei­cher Kern­an­lie­gen. So soll das Ende des Land­mo­ra­to­ri­ums, dass seit rund zwei Dekaden den Verkauf von Agrar­land ver­bie­tet, bis Ende Sep­tem­ber vor­be­rei­tet werden. Der erste Erfolg der Selen­skyj-Admi­nis­tra­tion war die eilig ver­ab­schie­dete Abschaf­fung der Abge­ord­ne­ten­im­mu­ni­tät, die zu Beginn des neuen Jahres in Kraft tritt. Ein Schritt, der in der Ukraine seit Langem gefor­dert wurde, da viele Abge­ord­nete die umfas­sende Immu­ni­tät miss­brauch­ten. Aller­dings berge die Abschaf­fung der straf­recht­li­chen Immu­ni­tät, wie die Venedig-Kom­mis­sion 2015 warnte, in einem Staat wie der Ukraine – mit schwa­chem Rechts­staat und poli­ti­sier­ter Justiz – Gefah­ren eines mög­li­chen Missbrauches.

Die enorme Geschwin­dig­keit bei zen­tra­len Reform­an­lie­gen ist einer­seits begrü­ßens­wert. Ande­rer­seits ergeben sich daraus auch Pro­bleme, denn bei vielen Reform­an­lie­gen steckt der Teufel häufig im Detail. Wenn die Geset­zes­ent­würfe im Eil­ver­fah­ren vom Par­la­ment schlicht durch­ge­wun­ken werden, ist unklar, inwie­fern noch genü­gend Zeit bleibt, um Gesetze im Par­la­ment und mit wich­ti­gen Stake­hol­dern zu diskutieren.

Aus­blick

Der Prä­si­dent und seine Regie­rung haben ein his­to­ri­sches Mandat erhal­ten, drin­gend not­wen­dige Refor­men durch­zu­set­zen. Eine der zen­tra­len Fragen nach den zwei erd­rutsch­ar­ti­gen Wahl­sie­gen ist, ob es Selen­skyj gelingt, das all­um­fas­sende Miss­trauen in fast alle staat­li­chen Insti­tu­tio­nen des Landes wieder zu stärken. Dys­funk­tio­nale Insti­tu­tio­nen müssen nach­hal­tig umor­ga­ni­siert, umge­baut oder gar neu geschaf­fen werden – die Zoll­re­form wird in dieser Hin­sicht ein wich­ti­ger Grad­mes­ser sein. Und funk­tio­nie­ren­den Insti­tu­tio­nen, wie der Zen­tral­bank der Ukraine oder dem Natio­na­len Anti­kor­rup­ti­ons­büro, müssen not­wen­dige Hand­lungs­spiel­räume erhal­ten bleiben. Sollte der Prä­si­dent seine umfas­sende Reform­agenda tat­säch­lich umset­zen, werden zahl­rei­che windige Geschäfts­leute und Olig­ar­chen als Günst­linge der bis­he­ri­gen wirt­schaft­li­chen Struk­tu­ren, wie im Ener­gie­markt, von ihren lukra­ti­ven Fut­ter­trö­gen ver­drängt. Spä­tes­tens dann braucht das Land ent­po­li­ti­sierte, funk­ti­ons­fä­hige Institutionen.

Ener­gi­sche poli­ti­sche Führung und eine Per­so­nal­po­li­tik, die alleine auf neue Gesich­ter setzt, reichen nicht aus, um die zahl­rei­chen anste­hen­den Refor­men zu ent­wer­fen und deren Umset­zung in der Fläche zu gewährleisten.

Dieser Artikel erschien zuerst in den Ukraine-Ana­ly­sen Nr. 221 vom 12.09.2019. 

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