„Monday Kitchen“: Gemeinschaft und Austausch ukrainischer Geflüchteter in Berlin
Das „Monday Kitchen“-Kollektiv lädt in Berlin und Umgebung zu Wareniki-Abenden ein. Bei der gemeinsamen Zubereitung des ukrainischen Nationalgerichts geht es auch um das kulturelle Erbe der Ukraine und politisch-nationale Selbstbestimmung.
In der hell ausgeleuchteten Küche stehen etwa 20 junge Leute, überwiegend schwarz gekleidet, um einen weißen, langen Tisch, dessen glatte Oberfläche von Mehl bedeckt ist. Nach längerer Pause hat das „Monday Kitchen“-Kollektiv an diesem Tag wieder über den Telegram-Kanal und Instagram zum Wareniki-Kochen und ‑Essen eingeladen. Die gemeinsame Zubereitung des ikonischen ukrainischen Nationalgerichts bringt besonders – aber nicht nur – geflüchtete Ukrainer:innen und Aktivist:innen zusammen und ist symbolisch aufgeladen. Es geht bei den Treffen auch um kulturelles Erbe und politisch-nationale Selbstbestimmung.
Die Kunst des Wareniki-Formens
An diesem Abend ist „Monday Kitchen“ zum ersten Mal in der Galerie der „Between Bridges Foundation“ in Berlin-Kreuzberg zu Gast. Die Stiftung stellt ukrainischen Geflüchteten und ihren Mitstreiter:innen die Räumlichkeiten drei Monate lang zur Verfügung. Die Blicke konzentriert und gesenkt, formen die Gäste mit ihren Händen aus feinem weißem Teig handballengroße Halbmonde mit welliger Innenseite.
Mischas Flucht aus Mariupol
Mischa* (22) und Vladik* (28) kommen aus Mariupol und bilden zusammen mit Mitya Churikov (37) aus Kyjiw das Kernteam von „Monday Kitchen“. Vladik ist als Tattoo-Künstler auch unter seinem Pseudonym Inter Vladik bekannt, Mitya ist eigentlich Filmemacher, und Mischa schrieb früher Beats für die russische Battle-Rap-Szene. Abseits von Mehl, Teig und Töpfen spricht Mischa später am Abend von seinem verlorenen Leben nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 und von der Flucht aus Mariupol:
„Der Krieg erwischte uns im Schlaf – als wir von den Sirenen aufwachten. Wir lebten jeden Tag mit dem Wissen, dass es unser letzter sein könnte. So ging das einen Monat lang.
Als dann die ersten Raketen in unserem Haus einschlugen, packten wir schnell ein paar Sachen und liefen in Richtung russischer Blockposten. Dort checkten die russischen Soldaten unsere Papiere und Tattoos, und wir wurden durchgelassen. Zusammen mit hunderten Leuten warteten wir draußen darauf, nach Russland gekarrt zu werden. Doch das war gar nicht so einfach, denn jeder ‚Befreite’ muss davor die sogenannte ‚Filtration’ über sich ergehen lassen.
So wurden auch meine Freunde und ich mit dem Bus in verschiedene Lager in der ‚Donezker Volksrepublik’ gebracht. Sie nahmen unsere Fingerabdrücke ab, machten Fotos, führten einen sehr genauen Handycheck durch und eine mündliche und schriftliche Befragung ‚zur aktuellen Situation‘. Wer die richtigen Dinge sagte, durfte nach Russland, und wer nicht – schlimm, sich auch nur vorzustellen, was dann mit dir passiert.
Russische Staatspropaganda für ukrainische Geflüchtete
An der Grenze zu Russland kam dann ein noch krasseres Verhör. Ich setzte mich in einen Zug für Geflüchtete nach Rjasan, denn dort in der Nähe hatte ich Bekannte. Nach 20 Stunden Fahrt wurden wir von Journalisten mit Kameras empfangen. Sie berichteten, wie man uns gerettet habe und jetzt in für uns vorbereitete Wohnstätten bringen werde. Ein neues Lager, diesmal eine Sporthalle. Im Speisesaal stand ein großer Fernseher, das russische Staatsfernsehen berichtete über die ‚Befreiung’ von Mariupol und die ‚Fakes von Butscha‘ – es war surreal.
Endlich in Sicherheit
Schließlich konnte ich über Estland nach Berlin ausreisen. Dort verstand ich: Ich bin in Sicherheit. Die Angst vor dem Unbekannten – nie davor in Europa gewesen zu sein, die Sprache nicht zu sprechen – ist nicht vergleichbar mit der ununterbrochenen Todesangst, die ich in den Monaten davor erlebt hatte. In Berlin traf ich dann Vladik und wurde so Teil von ‚Monday Kitchen‘ – schon seit dem ersten Treffen bin ich in das Projekt verliebt. Ich kann das nächste Montagstreffen immer kaum erwarten – um mich wieder geborgen zu fühlen. Inzwischen sind meine Schwester und ihr Freund ebenfalls in Deutschland, der Krieg hatte uns getrennt. Auch sie habe ich natürlich gleich zu ‚Monday Kitchen‘ geschleppt, und mittlerweile bin ich hier Koch.“
Im Safe Space Geschichten erzählen
Wie ging es mit Monday Kitchen los? „Es war im zweiten Monat der russischen Invasion”, erzählt Vladik, „wir hatten die Idee, uns zum Abendessen zu treffen, Erfahrungen auszutauschen. Wir fanden einen geeigneten Ort und wollten uns explizit montags treffen, sozusagen als Gegengewicht zum ‚allerhärtesten Tag der Woche‘, zum Beginn der Arbeitswoche.“
Das Kollektiv erreicht über Instagram eine heterogene, überwiegend ukrainische Community, für die die Küche an wechselnden Orten Berlins zu einem Ort der Gemeinschaft und Solidarität geworden ist. Es ist ein Ort, an dem im unfreiwilligen Exil die ukrainische Kultur gepflegt wird, ein Ort, an dem das Kochen als symbolischer Akt politischer Aussprache im geschützten Rahmen zelebriert werden kann. „Monday Kitchen wurde zu einer Art Safe Space”, so Vladik.
Bei den Wareniki-Treffen werden jetzt, in der kalten Jahreszeit, auch Spenden für die Ukraine gesammelt, zum Beispiel für Generatoren. Das Projekt ist in Bewegung, ein Videoarchiv mit den persönlichen Fluchtgeschichten der Mitglieder soll geschaffen werden. Persönliche Geschichten erzählen, zuhören und diskutieren, Solidarität zeigen – darin besteht der soziale Aspekt der Wareniki-Abende.
Das Rezept von Vladiks Großmutter
Auf die Frage, was Wareniki und die Monday Kitchen für ihn persönlich bedeuten, sagt Mischa, der jetzt in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein lebt, einen Integrationskurs besucht und für Monday Kitchen regelmäßig nach Berlin kommt: „So sehr ich es auch versuche, ich kann nicht alles wiedergeben, was ich fühle. Das Einzige, was ich sagen kann, ist: Das hier ist mein zweites Leben.“
Stolz präsentiert er ein Blech frisch geformter Wareniki-Monde, bevor er den letzten Arbeitsschritt vollzieht. Im Edelstahltopf schwimmen bereits Kräuter und Gewürze, Petersilie und Lorbeerblätter im kochenden Wasser: Das verwendete Rezept stamme noch von Vladiks Großmutter, man habe es lediglich ein wenig optimiert, verrät Mischa, während er die Wareniki vorsichtig in das siedende Wasser gibt. Wareniki, die ukrainische Variante der in vielen Kulturen vorhandenen Teigtaschen, gibt es mit Füllung aus Sauerkraut, Kartoffeln und Pilzen, Käse oder Fleisch – oder auch mit süßer Füllung, zum Beispiel mit Kirschen. Im ukrainischen Volksglauben wird den Wareniki eine symbolische, mythologische und sogar schützende Bedeutung zugeschrieben.
Dampfende Teigtaschen an der langen Tafel
An der langen Tafel im Ausstellungsraum nehmen nach und nach Wareniki-Liebhaber:innen Platz, vor sich Teller mit dampfenden mondförmigen Teigtaschen. Dazu wird eine Art Kräuterquark gereicht – „vegan“, hebt Vladik mit einem Lächeln hervor. Zum ersten Mal mit dabei sind Anne (32) aus Südkorea und ihr bester Freund Oleksij (34). Anne hat auf Instagram von Monday Kitchen erfahren und Oleksij vorgeschlagen, gemeinsam hinzugehen.
„Sie schaffen nicht nur ein Gefühl von Zuhause und Vertrautheit für die, die direkt vom Krieg betroffen sind, sondern heißen auch Außenstehende wie mich willkommen – und teilen diese Wärme“, sagt Anne. Oleksij erzählt, dass er 2014 nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem Beginn des russischen Krieges im Donbas nach Deutschland gekommen sei. Er arbeite jetzt in Berlin als IT-Spezialist. „Die Idee gefiel mir sehr: Wareniki kochen wie damals in der Kindheit mit meiner Mutter und anschließend eine Diskussion über politische Themen führen“, so Oleksij, „mir war wichtig, diese Veranstaltung zu unterstützen, denn es wird unter anderem auch Geld für einen Generator und für die ukrainische Armee gesammelt.“
Kritischer Kommentar auf Instagram: „Wir brauchen definitiv mehr Luftabwehrsysteme“
An diesem Montag erreicht ein kritischer Kommentar auf Instagram das Wareniki-Kollektiv: „Es ist toll, dass ihr uns Medizin und Generatoren und solches Zeug schickt, aber ehrlich gesagt ist es egal, ob du mit oder ohne warme Decke von einer russischen Drohne getötet wirst“, schreibt Sashko Protyah unter einen neuen Post von Monday Kitchen. Vladik kennt den Filmemacher, der jetzt in Saporischschja lebt, noch aus Mariupol-Zeiten. „Mein Viertel wurde gerade von den Russen attackiert, wahrscheinlich mit Drohnen“, schreibt Protyah, „wir brauchen definitiv mehr Luftabwehrsysteme: einfach fürs Überleben, um unser Leben zu retten.“ Er besinnt sich offenbar und konkretisiert seine Kritik: „Diese Nachricht geht natürlich an alle Deutschen und nicht an die Freiwilligen von Monday Kitchen – wir schätzen eure Unterstützung wirklich.“
* Mischa und Vladik möchten nicht mit vollem Namen genannt werden.
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