Deutsch­land und der Westen müssen der Ukraine beistehen

Foto: Mike Schmidt /​ IMAGO

Russ­land lässt Truppen an der Grenze zur Ost­ukraine auf­mar­schie­ren, der Kreml droht unver­hoh­len mit Krieg gegen seine Nach­barn. Deutsch­land muss gemein­sam mit der EU und NATO der Ukraine bei­ste­hen und das jetzt sofort, fordert Igor Mitch­nik von der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion Libe­reco – Part­ner­ship for Human Rights.

Die Ukraine wird exis­ten­ti­ell bedroht. Seit Wochen befin­det sich der rus­sisch-ukrai­ni­sche Kon­flikt erneut am Rand einer Eska­la­tion. Während Russ­land die Ukraine mit mehr als 127.000 Sol­da­ten und schwe­rem Geschütz umzin­gelt, hat die Ampel-Koali­tion, kaum im Amt, bereits einiges ihrer inter­na­tio­na­len Ver­trau­ens­wür­dig­keit ein­ge­büßt – sowohl in der Ukraine wie auch bei inter­na­tio­na­len Ver­bün­de­ten wie der NATO.

Die rus­si­schen For­de­run­gen an die USA und die NATO sind abstrus:

  • Die Per­spek­tive einer NATO-Mit­glied­schaft der Ukraine soll ver­hin­dert werden.
  • Ein Selbst­be­stim­mungs­recht und die Unab­hän­gig­keit der Ukraine exis­tie­ren für die rus­si­sche poli­ti­sche Führung nicht mal auf dem Papier.

Dass der ukrai­ni­schen Führung selbst bei der Kom­mu­ni­ka­tion dieser For­de­run­gen keine Beach­tung zukommt, offen­bart das impe­riale Ver­ständ­nis von Russ­lands poli­ti­schem Apparat: In dessen Welt­vor­stel­lung bleibt die Ukraine – flä­chen­mä­ßig größer als Deutsch­land oder Frank­reich – reine geo­po­li­ti­sche Ver­hand­lungs­maße; Objekt statt Subjekt poli­ti­scher Verhandlungen.

Yevhen Vasy­l­iev, Vor­stands­mit­glied der ukrai­ni­schen Men­schen­rechts- und Hilfts­or­ga­ni­sa­tion Vostok SOS, ver­folgt wie viele zivil­ge­sell­schaft­li­che Vertreter*innen in der Ukraine gerade die Situa­tion sehr auf­merk­sam – und auch die Debatte dazu in den west­li­chen Staaten. „Ich würde gerne glauben, dass das alles nur ein Bluff Russ­lands ist, in dem sie die Debat­ten um North Stream 2 und die NATO-Mit­glied­schaft ein für alle Mal beenden wollen“, sagt Vasy­l­iev. „Leider bleibt aber das Risiko, dass die ange­spannte Situa­tion doch eska­liert, zum Bei­spiel durch par­al­lel­lau­fende, klei­nere bis mitt­lere hybride Pro­vo­ka­tio­nen an ver­schie­de­nen Orten in der Ukraine.“

Wie hybride Pro­vo­ka­tio­nen gegen die Ukraine aus­se­hen könnten

Gemeint sind damit ver­stärkte Schuss­wech­sel entlang der Kon­takt­li­nie und in Grenz­re­gio­nen der Ukraine sowie Bom­ben­dro­hun­gen, Cyber­an­griffe und andere Sabo­ta­ge­ak­tio­nen gegen kri­ti­sche Infra­struk­tur und admi­nis­tra­tive Gebäude. Das alles, beglei­tet von Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen.

Ein rus­si­scher Angriff würde die bereits jetzt schwie­rige huma­ni­täre Situa­tion und Ener­gie­eng­pässe in der Ost­ukraine noch weiter ver­schär­fen. Vasy­l­iev hofft daher auf eine ent­schlos­se­nere und strin­gen­tere deut­sche Posi­tion gegen­über Moskau. Eine völlig legi­time Erwartung.

Seien es die Äuße­run­gen des bay­ri­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Markus Söder, der eine Nato-Mit­glied­schaft der Ukraine öffent­lich aus­schloss, oder des inzwi­schen umstrit­te­nen Mari­ne­chefs Kay-Achim Schön­bach, der die Angst vor einer rus­si­schen Attacke einfach als „Nonsens“ abtat: Die unkla­ren wie wider­sprüch­li­chen Mel­dun­gen, die seit Wochen von deut­schen poli­ti­schen Akteu­ren aus­ge­hen, stiften in der Ukraine Unsi­cher­heit. Dortige Partner in der Zivil­ge­sell­schaft und der Politik rätseln über die Haltung Deutschlands.

Dass die Bun­des­re­pu­blik einer­seits selbst Lie­fe­run­gen von Defen­siv­waf­fen und von NATO-Part­nern an die Ukraine blo­ckiert, während aus der SPD nach wie vor Stimmen laut tönen, North Stream 2 sei ein rein pri­vat­wirt­schaft­li­ches Projekt, klingt in ukrai­ni­schen Ohren wie blanker Hohn. Der Hinweis, dass Deutsch­land auf­grund seiner Ver­gan­gen­heit grund­sätz­lich keine Waffen in Kriegs­ge­biete liefere, wirkt nicht nur ange­sichts der Export­zah­len der Rüs­tungs­in­dus­trie für das Jahr 2021 in Rekord­höhe – unter anderem an Länder mit einer bedenk­li­chen Men­schen­rechts­lage wie Ägypten – wie ein per­fi­des Scheinargument.

Moskau will Europas Sicher­heits­ar­chi­tek­tur umbauen

Aller­dings geht es in der Ukraine derzeit um weit mehr als nur Waffen: Die rus­si­sche Regie­rung zielt auf eine neue euro­päi­sche Sicher­heits­ar­chi­tek­tur ab. Moskau drängt kur­zer­hand sämt­li­che ehe­ma­lige Staaten der Sowjet­union 30 Jahre nach deren Zerfall zurück in die rus­si­sche Inter­es­sensphäre. Ein Aus­blick, wie eine solche Form von „Ordnung“ für die Ukraine im Falle einer rus­si­schen Inva­sion aus­se­hen könnte, sieht man bereits auf der annek­tier­ten Krim sowie in den besetz­ten Teilen der Regio­nen Donezk und Luhansk. Unab­hän­gige Stimmen, Aktivist*innen und Journalist*innen sind dort depor­tiert, inhaf­tiert oder anders zum Schwei­gen gebracht worden.

Men­schen­rechts­ver­bre­chen, Repres­sio­nen und Okku­pa­tion: Was die Zuge­hö­rig­keit zu einer „rus­si­schen Inter­es­sensphäre“ in der Rea­li­tät bedeu­tet, ist auch in der kol­lek­ti­ven Erin­ne­rung der bal­ti­schen Staaten noch sehr präsent. Des­we­gen unter­stütz­ten Litauen, Lett­land und Estland gemein­sam mit den USA die Ukraine am deut­lichs­ten sowohl mit Ver­tei­di­gungs­waf­fen als auch diplo­ma­tisch auf EU-Ebene.

Denn sowohl der Ukraine wie auch den bal­ti­schen Staaten ist bewusst, dass ein Ein­kni­cken vor den ver­meint­li­chen rus­si­schen „Sicher­heits­ga­ran­tien“ ein offenes Desas­ter wäre. Ein Desas­ter, das nicht nur die Zukunft der Ukraine betref­fen würde, sondern die gesamte euro­päi­sche Wer­te­ord­nung gefähr­det. Den sichers­ten Schutz dieser Ordnung bieten derzeit für die rus­si­schen Nach­barn Estland, Lett­land, Litauen und auch für das an Belarus gren­zende Polen allem voran ihre NATO- und EU-Mit­glied­schaf­ten. Dass die Ukraine sich genauso sicher fühlen will, darf ihr nicht per se ver­gönnt werden.

Für Frei­heit und Demo­kra­tie zusammenstehen

Derzeit steht die Sicher­heit der Ukraine auch durch die vola­tile Situa­tion im nörd­li­chen Nach­barn Belarus auf dem Spiel. Seit Wochen bringen sich rus­si­sche Truppen an der bela­ru­sisch-ukrai­ni­schen Grenze in Stel­lung. Belarus*innen, die im Kontext der Repres­si­ons­welle gegen die Zivil­ge­sell­schaft seit den gefälsch­ten Wahlen im August 2020 in die Ukraine fliehen mussten, fürch­ten nun, durch einen bela­ru­sisch-rus­si­schen Ein­marsch erneut alles zu verlieren.

„Falls Russ­land eine Groß­of­fen­sive startet, könnte die bela­ru­si­sche Regie­rung zum Alli­ier­ten des Aggres­sors werden“, sagt Palina Brodik, Koor­di­na­to­rin der bela­ru­si­schen Dia­spora-NGO Free Belarus Center in Kyjiw. Im Kon­trast zur bela­ru­si­schen Regie­rung teile „die Dia­spora in der Ukraine den ukrai­ni­schen Schmerz über ihren der­zei­ti­gen Gebiets­ver­lust“, so Brodik. „Wir ver­ste­hen, dass wir in unserem Einsatz für Frei­heit und Demo­kra­tie zusam­men­ste­hen müssen.“

Deutsch­land muss der Ukraine bei­ste­hen – und den Druck auf Russ­land erhöhen

Ein ver­trau­ens­wür­di­ges Bekennt­nis zur ter­ri­to­ria­len Inte­gri­tät der Ukraine erfor­dert nicht nur die Unter­stüt­zung von Dia­log­ka­nä­len mit der rus­si­schen Regie­rung, an denen es seit Jahren alles andere als mangelt, sondern auch die kon­krete Unter­stüt­zung der Ukraine durch Defen­siv­waf­fen für ihren Ver­tei­di­gungs­fall so wie die Ankün­di­gung im Angriffs­fall Russlands

  • rus­si­sche Banken sofort vom SWIFT-System auszuklinken,
  • massive diplo­ma­ti­sche wie finan­zi­elle Sank­tio­nen gegen rus­si­sche Akteure ein­zu­set­zen, die der rus­si­schen Führung nahe­ste­hen und die nach­weis­lich an der rus­si­schen Aggres­sion gegen die Ukraine betei­ligt sind,
  • Sank­tio­nen gegen den rus­si­schen Ener­gie­sek­tor ein­zu­füh­ren, mit dem die rus­si­sche Regie­rung gerade ganz Europa erpresst und letztlich
  • North Stream 2 gar nicht erst in Betrieb zu nehmen.

Deutsch­land sollte der rus­si­schen Regie­rung stär­kere Sank­tio­nen nicht nur vage in Aus­sicht stellen, sondern für den Fall der Aus­wei­tung der rus­si­schen Aggres­sion an der ukrai­ni­schen Grenze auch konkret benen­nen. Zur Unter­stüt­zung der Men­schen dieses eng und untrenn­bar mit der deut­schen und euro­päi­schen Geschichte ver­floch­te­nen Landes braucht es eine ent­schlos­sene Haltung zur Unter­stüt­zung der Ukraine. Das betrifft sowohl die Bun­des­re­gie­rung als auch die demo­kra­ti­sche Opposition.

Der Verein Libe­reco – Part­ner­ship for Human Rights enga­giert sich seit 2014 in der Ukraine und arbei­tet ebenso lange mit lokalen Part­ner­or­ga­ni­sa­tio­nen zusam­men. Gegen­wär­tig halten sich mehrere Mit­glie­der sowohl in Kyjiw als auch im Donbas auf und beob­ach­ten die Lage vor Ort. Mit einem Not­hil­fe­fonds sammelt Libe­reco Spenden zur Unter­stüt­zung hilfs­be­dürf­ti­ger Men­schen im Kon­flikt­ge­biet. Neben dem Not­hil­fe­fonds kann man auch expli­zit für einen neuen Kran­ken­wa­gen für Trechiz­benka, einem Dorf an der ost­ukrai­ni­schen Front­li­nie, spenden. 

Textende

Portrait Mitchnik

Igor Mitch­nik ist Pro­jekt­lei­ter bei der deutsch-schwei­ze­ri­schen NGO Libe­reco – Part­ner­ship for Human Rights e. V.

 

 

 

 

 

 

 

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