Deutschland und der Westen müssen der Ukraine beistehen
Russland lässt Truppen an der Grenze zur Ostukraine aufmarschieren, der Kreml droht unverhohlen mit Krieg gegen seine Nachbarn. Deutschland muss gemeinsam mit der EU und NATO der Ukraine beistehen und das jetzt sofort, fordert Igor Mitchnik von der Menschenrechtsorganisation Libereco – Partnership for Human Rights.
Die Ukraine wird existentiell bedroht. Seit Wochen befindet sich der russisch-ukrainische Konflikt erneut am Rand einer Eskalation. Während Russland die Ukraine mit mehr als 127.000 Soldaten und schwerem Geschütz umzingelt, hat die Ampel-Koalition, kaum im Amt, bereits einiges ihrer internationalen Vertrauenswürdigkeit eingebüßt – sowohl in der Ukraine wie auch bei internationalen Verbündeten wie der NATO.
Die russischen Forderungen an die USA und die NATO sind abstrus:
- Die Perspektive einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine soll verhindert werden.
- Ein Selbstbestimmungsrecht und die Unabhängigkeit der Ukraine existieren für die russische politische Führung nicht mal auf dem Papier.
Dass der ukrainischen Führung selbst bei der Kommunikation dieser Forderungen keine Beachtung zukommt, offenbart das imperiale Verständnis von Russlands politischem Apparat: In dessen Weltvorstellung bleibt die Ukraine – flächenmäßig größer als Deutschland oder Frankreich – reine geopolitische Verhandlungsmaße; Objekt statt Subjekt politischer Verhandlungen.
Yevhen Vasyliev, Vorstandsmitglied der ukrainischen Menschenrechts- und Hilftsorganisation Vostok SOS, verfolgt wie viele zivilgesellschaftliche Vertreter*innen in der Ukraine gerade die Situation sehr aufmerksam – und auch die Debatte dazu in den westlichen Staaten. „Ich würde gerne glauben, dass das alles nur ein Bluff Russlands ist, in dem sie die Debatten um North Stream 2 und die NATO-Mitgliedschaft ein für alle Mal beenden wollen“, sagt Vasyliev. „Leider bleibt aber das Risiko, dass die angespannte Situation doch eskaliert, zum Beispiel durch parallellaufende, kleinere bis mittlere hybride Provokationen an verschiedenen Orten in der Ukraine.“
Wie hybride Provokationen gegen die Ukraine aussehen könnten
Gemeint sind damit verstärkte Schusswechsel entlang der Kontaktlinie und in Grenzregionen der Ukraine sowie Bombendrohungen, Cyberangriffe und andere Sabotageaktionen gegen kritische Infrastruktur und administrative Gebäude. Das alles, begleitet von Desinformationskampagnen.
Ein russischer Angriff würde die bereits jetzt schwierige humanitäre Situation und Energieengpässe in der Ostukraine noch weiter verschärfen. Vasyliev hofft daher auf eine entschlossenere und stringentere deutsche Position gegenüber Moskau. Eine völlig legitime Erwartung.
Seien es die Äußerungen des bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder, der eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine öffentlich ausschloss, oder des inzwischen umstrittenen Marinechefs Kay-Achim Schönbach, der die Angst vor einer russischen Attacke einfach als „Nonsens“ abtat: Die unklaren wie widersprüchlichen Meldungen, die seit Wochen von deutschen politischen Akteuren ausgehen, stiften in der Ukraine Unsicherheit. Dortige Partner in der Zivilgesellschaft und der Politik rätseln über die Haltung Deutschlands.
Dass die Bundesrepublik einerseits selbst Lieferungen von Defensivwaffen und von NATO-Partnern an die Ukraine blockiert, während aus der SPD nach wie vor Stimmen laut tönen, North Stream 2 sei ein rein privatwirtschaftliches Projekt, klingt in ukrainischen Ohren wie blanker Hohn. Der Hinweis, dass Deutschland aufgrund seiner Vergangenheit grundsätzlich keine Waffen in Kriegsgebiete liefere, wirkt nicht nur angesichts der Exportzahlen der Rüstungsindustrie für das Jahr 2021 in Rekordhöhe – unter anderem an Länder mit einer bedenklichen Menschenrechtslage wie Ägypten – wie ein perfides Scheinargument.
Moskau will Europas Sicherheitsarchitektur umbauen
Allerdings geht es in der Ukraine derzeit um weit mehr als nur Waffen: Die russische Regierung zielt auf eine neue europäische Sicherheitsarchitektur ab. Moskau drängt kurzerhand sämtliche ehemalige Staaten der Sowjetunion 30 Jahre nach deren Zerfall zurück in die russische Interessensphäre. Ein Ausblick, wie eine solche Form von „Ordnung“ für die Ukraine im Falle einer russischen Invasion aussehen könnte, sieht man bereits auf der annektierten Krim sowie in den besetzten Teilen der Regionen Donezk und Luhansk. Unabhängige Stimmen, Aktivist*innen und Journalist*innen sind dort deportiert, inhaftiert oder anders zum Schweigen gebracht worden.
Menschenrechtsverbrechen, Repressionen und Okkupation: Was die Zugehörigkeit zu einer „russischen Interessensphäre“ in der Realität bedeutet, ist auch in der kollektiven Erinnerung der baltischen Staaten noch sehr präsent. Deswegen unterstützten Litauen, Lettland und Estland gemeinsam mit den USA die Ukraine am deutlichsten sowohl mit Verteidigungswaffen als auch diplomatisch auf EU-Ebene.
Denn sowohl der Ukraine wie auch den baltischen Staaten ist bewusst, dass ein Einknicken vor den vermeintlichen russischen „Sicherheitsgarantien“ ein offenes Desaster wäre. Ein Desaster, das nicht nur die Zukunft der Ukraine betreffen würde, sondern die gesamte europäische Werteordnung gefährdet. Den sichersten Schutz dieser Ordnung bieten derzeit für die russischen Nachbarn Estland, Lettland, Litauen und auch für das an Belarus grenzende Polen allem voran ihre NATO- und EU-Mitgliedschaften. Dass die Ukraine sich genauso sicher fühlen will, darf ihr nicht per se vergönnt werden.
Für Freiheit und Demokratie zusammenstehen
Derzeit steht die Sicherheit der Ukraine auch durch die volatile Situation im nördlichen Nachbarn Belarus auf dem Spiel. Seit Wochen bringen sich russische Truppen an der belarusisch-ukrainischen Grenze in Stellung. Belarus*innen, die im Kontext der Repressionswelle gegen die Zivilgesellschaft seit den gefälschten Wahlen im August 2020 in die Ukraine fliehen mussten, fürchten nun, durch einen belarusisch-russischen Einmarsch erneut alles zu verlieren.
„Falls Russland eine Großoffensive startet, könnte die belarusische Regierung zum Alliierten des Aggressors werden“, sagt Palina Brodik, Koordinatorin der belarusischen Diaspora-NGO Free Belarus Center in Kyjiw. Im Kontrast zur belarusischen Regierung teile „die Diaspora in der Ukraine den ukrainischen Schmerz über ihren derzeitigen Gebietsverlust“, so Brodik. „Wir verstehen, dass wir in unserem Einsatz für Freiheit und Demokratie zusammenstehen müssen.“
Deutschland muss der Ukraine beistehen – und den Druck auf Russland erhöhen
Ein vertrauenswürdiges Bekenntnis zur territorialen Integrität der Ukraine erfordert nicht nur die Unterstützung von Dialogkanälen mit der russischen Regierung, an denen es seit Jahren alles andere als mangelt, sondern auch die konkrete Unterstützung der Ukraine durch Defensivwaffen für ihren Verteidigungsfall so wie die Ankündigung im Angriffsfall Russlands
- russische Banken sofort vom SWIFT-System auszuklinken,
- massive diplomatische wie finanzielle Sanktionen gegen russische Akteure einzusetzen, die der russischen Führung nahestehen und die nachweislich an der russischen Aggression gegen die Ukraine beteiligt sind,
- Sanktionen gegen den russischen Energiesektor einzuführen, mit dem die russische Regierung gerade ganz Europa erpresst und letztlich
- North Stream 2 gar nicht erst in Betrieb zu nehmen.
Deutschland sollte der russischen Regierung stärkere Sanktionen nicht nur vage in Aussicht stellen, sondern für den Fall der Ausweitung der russischen Aggression an der ukrainischen Grenze auch konkret benennen. Zur Unterstützung der Menschen dieses eng und untrennbar mit der deutschen und europäischen Geschichte verflochtenen Landes braucht es eine entschlossene Haltung zur Unterstützung der Ukraine. Das betrifft sowohl die Bundesregierung als auch die demokratische Opposition.
Der Verein Libereco – Partnership for Human Rights engagiert sich seit 2014 in der Ukraine und arbeitet ebenso lange mit lokalen Partnerorganisationen zusammen. Gegenwärtig halten sich mehrere Mitglieder sowohl in Kyjiw als auch im Donbas auf und beobachten die Lage vor Ort. Mit einem Nothilfefonds sammelt Libereco Spenden zur Unterstützung hilfsbedürftiger Menschen im Konfliktgebiet. Neben dem Nothilfefonds kann man auch explizit für einen neuen Krankenwagen für Trechizbenka, einem Dorf an der ostukrainischen Frontlinie, spenden.
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