Die Winterproteste in Russland 2021 aus Sicht einer ukrainischen Menschenrechtlerin
Die landesweiten Proteste seit der Verhaftung von Alexej Nawalny in Russland werden auch in der Ukraine beobachtet. Eine politisch engagierte Minderheit solidarisiert sich mit den russischen Demonstranten. Die verdienten mehr Unterstützung durch die eigene Erfahrung mit den Maidan-Revolutionen, findet Oleksandra Matviichuk. Ein Kommentar zu den Winterprotesten Russlands aus Sicht einer ukrainischen Menschenrechtsaktivstin.
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Mit der Rückkehr von Aleksej Nawalny nach Russland haben sich die Ereignisse überschlagen. Allein zwischen dem 23. Januar und dem 2. Februar hat es bereits drei Massenproteste gegeben, die das gesamte Land erfasst haben. Der Kreml hat alles in seiner Macht Stehende getan, um sie zu zerschlagen. Über das Fernsehen sandte man die Drohung aus, dass Demonstrationen mit Gewalt aufgelöst und die Teilnehmenden strafrechtlich verfolgt werden würden. In mehreren Städten wurden Aktivistinnen und Aktivisten festgenommen und schon vor Beginn der Aktionen mit Strafen belegt. Schülerinnen und Schüler wurden auf Polizeiwachen zitiert, weil sie in TikTok-Flashmobs das Porträt des russischen Präsidenten in ihren Klassenzimmern abgehängt hatten. Drohungen, nach denen die Teilnahme des eigenen Kindes an den Protesten den Entzug des Sorgerechts zur Folge haben könnte, wurden sogar in Eltern-Chatgruppen einiger Kindergärten verbreitet. Nicht zuletzt wurden vor der Aktion am 31. Januar sieben Metrostationen im Zentrum Moskaus geschlossen und zudem alle Straßen um den Kreml und das Hauptquartier des FSB abgesperrt. Aber die Leute sind trotzdem auf die Straße gegangen.
Die offiziellen Angaben des Kremls über die Teilnehmerzahlen stehen in krassem Gegensatz zu den Einschätzungen durch die Organisatoren und unabhängige Beobachter. Die Zählung wird auch dadurch erschwert, dass, wie etwa in Moskau, die Protestierenden durch die Absperrung von Straßen und Plätzen voneinander getrennt wurden. Unabhängige Journalisten sprechen von mehreren zehntausend Teilnehmenden, was den größten Massenprotesten der letzten Jahre gleichkäme. Dabei muss vor allem der geografischen Ausbreitung der Proteste besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Bereits bei der Aktion am 23. Januar kam es nach Angaben von OWD-Info in 125 Städten Russlands zu Festnahmen. Sogar in Jakutien gingen die Menschen bei Temperaturen von ‑51 Grad Celsius auf die Straße.
Die Reaktion der Regierung auf die Proteste fiel ausgesprochen brutal aus. Die Zahl der Festnahmen überstieg alle Rekorde der letzten neun Jahre. Mindestens 11.000 Menschen wurden festgenommen.
Die Polizei prügelte die friedlich Demonstrierenden nieder, setzte Tränengas und Elektroschocker ein und quälte festgenommene Personen in Mannschaftswagen und auf den Polizeiwachen.
Opfer der Polizeigewalt wurden auch zufällig anwesende Menschen, die sich an diesem Tag im Zentrum aufhielten. Allein in Moskau erreichten die Gerichte 4908 angezeigte Ordnungswidrigkeiten wegen vermeintlicher Verstöße während der friedlichen Demonstrationen. Hinzu kamen 972 Festnahmen und 1232 verhängte Bußgelder. Nach der Urteilsverkündung im Fall Nawalny trat auf den Polizeiwachen der „Festungsplan“ in Kraft, was bedeutet, dass mehr als 1200 der während der Proteste am 2. Februar Festgenommenen das Recht auf einen rechtlichen Beistand verwehrt wurde. Die Zahl der Strafverfahren ist zum aktuellen Zeitpunkt noch schwer abzuschätzen, bekannt sind lediglich einige Dutzend. Jedoch kann die Regierung die Anschuldigungen gegen die Festgenommenen jeden Moment von einem Verstoß gegen die Pandemiemaßnahmen auf diverse ernsthafte Straftaten erweitern und den Kreis der Beschuldigten vergrößern.
Während der Revolution der Würde koordinierte ich die Initiative Euromaidan SOS, in der einige tausend Freiwillige organisiert waren. Über den Verlauf von drei Monaten waren wir tagein tagaus damit beschäftigt, jenen juristische und andere Unterstützung zu leisten, die wegen ihrer Teilnahme an den zahlreichen Protesten in der gesamten Ukraine Verfolgung ausgesetzt waren. Wir hatten es damals mit aberhunderten geschundener, festgenommener, gefolterter und in fabrizierten Strafverfahren beschuldigten Menschen zu tun. Dass jedoch an einem einzigen Tag mehrere tausend Personen festgenommen worden wären, das hat es während unserer gesamten Tätigkeit nicht gegeben.
Ich betone das, weil ich seit den Protesten in Chabarowsk 2020 in den sozialen Netzwerken eine Menge „gutgemeinte Ratschläge“ ukrainischer Aktivisten lese, was die russischen Protestierenden ihrer Meinung nach zu tun hätten. Ich befürchte, dass diese Leute die Dimensionen der Repressionsmaschinerie des russischen Staates, die gegen die Demonstrierenden in Gang gesetzt wurde, nicht begriffen haben.
Der Schmerz und das Trauma des Krieges, der bereits das siebte Jahr andauert und den uns Russland gebracht hat, spricht derzeit aus vielen Ukrainerinnen und Ukrainern. Zuweilen scheint es, als sei es uns gleichgültig, was dort passiert. Diese Haltung ist verständlich, aber ihr fehlt die Weitsicht. Hängt doch in Wahrheit so viel davon ab.
Seit der Orangenen Revolution interessierte man sich in der Ukraine nicht mehr sonderlich für die Situation in Russland. Der durch die Erfahrung der ukrainischen Revolution aufgeschreckte Kreml erfand den Skandal vom „Spionage-Stein“, über den britische Geheimdienstmitarbeiter angeblich Daten mit russischen Menschenrechtsorganisationen ausgetauscht hatten. Er nahm dies zum Anlass, die Medienlandschaft zu unterwerfen und eine zentralisierte Vertikale der Macht zu installieren. Mit dem Fall des autoritären Regimes Wiktor Janukowitschs und dessen Flucht nach Russland war die „demokratische Bedrohung“ endgültig vor den Pforten der Russischen Föderation angelangt, sodass Putin die Entscheidung traf, den ukrainischen Staat auf seinem Weg der demokratischen Transformation zu stoppen. Dies ist einer der Gründe, weshalb der Kreml die Krim besetzt und einen hybriden Krieg im Donbass entfacht hat.
Sozialwissenschaftliche Umfragen stellen derzeit einen erneuten Absturz in den Umfragewerten Wladimir Putins fest, in dem sich der Überdruss an den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und der anhaltende Fall des russischen Einkommensniveaus manifestiert. Nach Informationen des Allrussischen Zentrums der Erforschung der öffentlichen Meinung (WZIOM) sind die Vertrauenswerte des russischen Präsidenten bereits unter das Niveau zu Zeiten der äußerst unpopulären Pensionsreform im Sommer 2019 gesunken. Die Reform hatte eine Erhöhung des Pensionsalters vorgesehen. Seither kämpft die russische Regierung gegen diesen Trend an, indem sie neue repressive Gesetze verabschiedet und populistische Regulierungsmaßnahmen zur Kontrolle der Preisentwicklung vorantreibt. Noch ist unklar, was als das nächste „KrimNasch“¹ herhalten muss, mit dem Putin versuchen wird, die Aufmerksamkeit von den Problemen im eigenen Land abzulenken.
Doch gibt es für mich in all dem noch eine wichtige menschliche Komponente.
Ich erinnere mich noch sehr gut an eine der vielen Räumungsaktionen auf dem Maidan in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 2013. Damals bildeten die Männer einen Kreis um den Platz, indem sie sich fest an den Armen einhakten, damit die Polizei nicht durch die Menschenkette und in Richtung der Bühne und der Zelte in der Mitte des Platzes vordringen konnte. In Online-Übertragungen der Ereignisse war zu sehen, wie der Maidan von einem ganzen Meer an Sicherheitskräften in glänzenden schwarzen Helmen geflutet wurde. Bei Euromaidan SOS warteten wir ab, ob es wieder zu massiver Polizeigewalt und zu Festnahmen kommen würde. Denn damit hätte unsere Arbeit begonnen. Wir hätten Menschen in den Krankenhäusern und auf den Polizeiwachen aufgesucht, ihre Interessen vor Gericht bis zur Entlassung aus der Untersuchungshaft vertreten, und so weiter. Aber die Situation blieb für mehrere Stunden unverändert. Auf dem Platz standen unsere Liebsten und, ehrlich gesagt, war uns allen angst und bange. Just in diesem Moment gingen auf der Facebook-Seite von Euromaidan SOS Solidaritätsbekundungen ein: „Frankreich steht hinter euch“, „Die Schweiz steht hinter euch“, „Deutschland ist mit euch“. Da wurde uns bewusst, dass wir nicht allein sind, sondern dass in dieser tiefschwarzen Nacht viele Menschen auf der ganzen Welt gemeinsam mit uns die Online-Übertragung schauen, uns unterstützen und mit uns zittern. Es waren auch Nachrichten aus Russland dabei. Das ist viel wert.
Nein, es war bei Weitem nicht die Mehrheit. Doch unter jenen Russinnen und Russen, die unter den Knüppelschlägen der durch garantierte Straflosigkeit aufgepeitschten Sicherheitskräfte dennoch protestieren gegangen sind, und ganz besonders unter jenen, die die Geschädigten juristisch oder auch anderweitig unterstützt haben, sind viele meine Brüder und Schwestern im Geiste. Solche, die seit Beginn des Krieges auf die Friedensmärsche gingen, die Besetzung der Krim verurteilten und all die Jahre Aktionen zur Unterstützung der ukrainischen politischen Gefangenen organisierten.
Ihrerzeit haben diese Menschen uns unterstützt. Sie haben sich öffentlich gegen die militaristische Massenhysterie ausgesprochen und sich damit einem realen Risiko ausgesetzt.
Entschuldigung, aber es ist ein feiner Unterschied, ob man mit einem Plakat mit der Aufschrift „Hände weg von der Ukraine!“ durch das Moskauer Zentrum läuft, oder sich damit vor die russische Botschaft in Kyjiw stellt. Die Fälle von Darja Poljudowa, Denis Bacholdin und anderen Russinnen und Russen, die für ihre Solidarität mit der Ukraine im Gefängnis saßen, stehen als unwiderlegbares Zeugnis für diese Haltung.
Diese Zeilen habe ich bereits während der Proteste im Sommer 2019 niedergeschrieben, die sich damals an der Weigerung des Moskauer Wahlkomitees entzündeten, Oppositionskandidatinnen und ‑kandidaten zur Wahl der Stadtversammlung zuzulassen. Nun stehen die Dinge so, dass es angezeigt ist, diese Worte zu wiederholen.
Nein, ich teile die Meinung von Aleksej Nawalny zur Lösung der Krimfrage nicht, die den Ukrainerinnen und Ukrainern vor allem in Form der Metapher „Die Krim ist kein Stück belegtes Brot“ in Erinnerung geblieben ist. Für ebenso unzumutbar halte ich seine Äußerungen während des russisch-georgischen Krieges.
Aber Russland ist nicht nur das Land eines Putins oder eines Nawalnys. Russland ist auch das Land eines Sacharows. Das dürfen wir nicht vergessen.
Zudem sind es ukrainische Politiker und Politikerinnen, die ukrainische Interessen zu verteidigen haben. Sie haben dies mit Hingabe zu tun und je weitreichender, desto besser. Dann wird man auch in der ausländischen Politik mit uns rechnen. Es ist ein seltsamer Gedanke, diese Verantwortung auf den Schultern Außenstehender abzuladen und etwas Vergleichbares von Nawalny zu erwarten.
¹ Zu dt. „Die Krim ist unser“. Prominenter Slogan im Lager der Befürworter der Krim-Annexion.
Aus dem Ukrainischen von Dario Planert.
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