Ukrainische Kultur kämpft um ihre Rettung
Die ukrainische Regierung revidiert das Budget des Landes, um die Folgen der Coronavirus-Pandemie und der Quarantänebeschränkungen zu bewältigen. Der erste Gesetzesentwurf zur Kürzung sah wesentliche Budgetstreichungen im Kulturbereich vor. Zur Verhinderung dieser Maßnahme, die die Ukraine weit vor die Zeit des Euromaidan zurückwerfen würde, haben sich Vertreter des Sektors und andere AktivistInnen bei einem Protest im Internet zusammengeschlossen. Von Olena Makarenko
Die Information, dass die Regierung das Gesamtbudget für das Ministerium für Kultur, Jugend und Sport der Ukraine kürzen würde, wurde am 25. März bekannt gegeben. Dies betrifft insbesondere Institutionen wie die ukrainische staatliche Filmagentur, die Ukrainische Kulturstiftung, das Ukrainische Buchinstitut etc. Es war beispielsweise vorgesehen, 750 Millionen UAH (rund 24,2 Millionen EUR) aus dem Gesamtbudget von 775,6 Millionen UAH (rund 25 Millionen EUR) der staatlichen Filmagentur zu streichen.
Aufgrund der Quarantänemaßnahmen sind öffentliche Versammlungen in der Ukraine untersagt; Persönlichkeiten aus der Kulturwelt organisierten online eine Protestaktion im Format einer Zoom-Konferenz. Die OrganisatorInnen registrierten rund 10.000 Interessierte, die sich aktiv daran beteiligen wollten, aber aufgrund technischer Beschränkungen war die Teilnahme auf 1.000 TeilnehmerInnen gleichzeitig beschränkt. Die Aufzeichnung war aber über Facebook und YouTube abrufbar.
Diese Entscheidung der Regierung würde nicht nur potenziell Tausende von Arbeitsplätzen kosten, sondern der Ukraine insgesamt Strategie und Richtung für die Zukunft entziehen. Die Folgen einer mangelnden Kulturpolitik aus der Zeit der 1990iger Jahre bis zur Revolution der Würde erlebt die Ukraine bis heute.
Die Ignoranz des Staates gegenüber der Kulturpolitik nach dem Kollaps der Sowjetunion
Die Kultur sowie alle anderen Bereiche des Lebens in der Sowjetunion unterlagen strenger staatlicher Kontrolle. KünstlerInnen, DichterInnen, SchriftstellerInnen und andere VertreterInnen der Kreativszene, die sich von der Linie des Regimes entfernten, wurden zu DissidentInnen und riskierten Repressionen. Dennoch überlebte die ukrainische Identität und spielte eine bedeutsame Rolle während des Kollaps der Sowjetunion im Jahr 1991.
Die Ukraine bekam Freiheit und die Möglichkeit, ihre eigene Kulturpolitik zu entwickeln und damit die Weichen für die weitere Entwicklung des Landes mit ihrer Hilfe zu stellen. Aber der Staat verfolgte eine andere Linie.
In den 1990iger Jahren kamen Technokraten an die Macht. Sie setzten auf die Wirtschaft und versuchten, ein sowjetisches Entwicklungsmuster weiter zu verfolgen. Die Kommunistische Partei, welche die Betriebe besaß, unterschiedliche Institutionen und Organisationen wurden durch finanzielle und industrielle Gruppierungen ersetzt, die das Erbe der Sowjetunion unter sich aufteilten. Aus diesen Gruppierungen entstanden die Oligarchen.
Sehr oft dienten staatliche Einrichtungen, auch jene im Kulturbereich, mehr als bürokratische Dekoration, während die Oligarchen die wahren Geschäfte lenkten.
Unter diesen Umständen lebte die Kultur in zwei parallelen Welten. Die eine war getrennt vom wahren Leben, korrupt, intransparent und unter staatlicher Verwaltung. Die zweite existierte im Chaos und wurde von den wahren führenden Köpfen der Kulturszene beherrscht, die keinen Anspruch auf staatliche Finanzierung hatten.
Dennoch gab es einige Höhepunkte im kulturellen Leben. Als aber im Jahr 2010 Wiktor Janukowitsch zum Präsidenten gewählt wurde, erlebte die Kulturszene einen rasanten Absturz. Der Unterschied zwischen den offiziellen und den nicht-offiziellen Bereichen wuchs.
Insgesamt muss man sagen, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion die Kultur nicht zum gemeinsamen Nenner für die Gesellschaft der Ukraine wurde. Tatsächlich spielte sie keine entscheidende Rolle im Widerstand gegen die russische Invasion. Die Ignoranz gegenüber der Kulturpolitik machte die Ukraine für den Angreifer im Jahr 2014 zu einem viel leichteren Ziel.
Was sich nach der Revolution veränderte
Eine der Errungenschaften nach dem Euromaidan war eine Neuausrichtung der Rolle der Kultur im Leben des Landes.
„Die ukrainische Kultur ist diese subtile Dimension, durch die die Zweite ukrainische Front verläuft. Es ist die Front des Rechts der Ukraine auf die Zukunft,“ beschrieb Oxana Melnytschuk, Politikexpertin und Filmproduzentin, die Situation.
Jewhen Nischtschuk, die Stimme der Revolution, wurde der erste Kulturminister der Ukraine nach dem Maidan. Er wurde von seinen Kollegen häufig kritisiert, obwohl er zu Zeiten der Revolution es schaffte, der Richtung der neuen Kulturpolitik der Ukraine Ausdruck zu verleihen.
„Leider formieren sich die neuen inhärenten Werte eines europäischen Staates nur langsam. Deshalb richteten sich viele Kulturinitiativen während und nach dem Euromaidan hauptsächlich nach der Bildung einer neuen nationalen Identität, eines neuen Bürgers und seiner Einstellung zu seinem Land.“
Nach und nach kam ein kultureller Reformprozess in Gang. Ein bedeutender Schritt war die Einführung von Wettbewerben für Filmproduktionen und Gelder für die Branche, die vom Staat zur Verfügung gestellt wurden. Neue Institutionen wurden ebenfalls gegründet. Zu ihnen gehörte das Ukrainische Institut für Nationale Erinnerung, das Ukrainische Buchinstitut, das Ukrainische Institut für die Repräsentation ukrainischer Kultur im Ausland und die Ukrainische Kulturstiftung.
Die letztere gab die Instrumente für kulturelles Agendasetting im Land in die Hände derer, die tatsächlich in diesem Bereich arbeiten, nicht an die Leiter der großen Kabinette. Zu den unterstützten Projekten gehörten diejenigen, die Inhalte produzierten, Kunst förderten, Veranstaltungen und Bildungsprogramme organisierten. Im Jahr 2019 unterstützte die Stiftung 433 Initiativen mit rund 640 Millionen UAH (rund 20,7 Millionen EUR).
Dennoch war das nicht genug, da die Kultur für die ukrainische Bevölkerung noch immer nicht zur Priorität wurde.
Laut dem Bericht über die „Wirtschaftliche Attraktivität der ukrainischen Kultur“ lag der Anteil des Konsums kultureller Produkte und Dienstleistungen in den Ausgaben der ukrainischen Haushalte bei nur 0,88% im Jahr 2018. Das war viel weniger als in anderen europäischen Ländern.
„In der Kultur geht es um die wichtigsten Werte im Leben. So lange wir nicht die Rolle des Staates in den kulturellen Prozessen verändern, so lange wir nicht realisieren, dass die Wirtschaft durch kreative und nicht durch industrielle Dinge vorangetrieben wird, wird sich das nicht ändern,“ sagte Natalia Krywda, Professorin am Institut für ukrainische Philosophie und Kultur an der Nationalen Taras-Schewtschenko Universität Kyjiw beim „Reform-Forum: Auf dem Weg nach Vilnius“, organisiert vom Reanimierungspaket für Reformen.
Die Expertin stellt klar, dass die Rolle des Staates nicht darin besteht, die Kulturszene zu kontrollieren, sondern klare Spielregeln einzuführen.
Worum es beim Protest ging
Die wichtigste Botschaft des Online-Protests war, dass die Kürzung der Kulturbudgets zum Zusammenbruch und zur Zerstörung nicht nur aktueller, sondern auch künftiger Errungenschaften führen würden.
Mykola Knjazhytskyi, Parlamentarier und Mitglied des Ausschusses für humanitäre Hilfe und Informationspolitik, der am Protest teilnahm, unterstrich, dass die Ukraine, sollte sie ihr kulturelles Produkt nicht unterstützen, dieses durch russische Produkte ersetzt würden – durch die kulturellen Produkte des Aggressors.
Irma Witowska, eine der berühmtesten Schauspielerinnen der Ukraine, unterstrich der Erfolg des ukrainischen Films im vergangenen Jahr und sagte, dass allein im Januar 2020 vier ukrainische Filme Premiere feiern und dass endlich ein Wettbewerb um die Qualität begonnen habe. Die Schauspielerin warnte, dass die Entwicklung des Bereichs mehr Zeit erforderte.
„Ein Jahr Pause ist wie der Verlust von zehn Jahren Entwicklung,“ sagte Witowska.
Unterschiedliche Organisationen und Institutionen gaben ihre eigenen Stellungnahmen ab und setzten sich dafür ein, dass die Regierung die ukrainische Kultur nicht zerstören dürfe.
„Politisch gesehen scheint es sich hier um strafende Absichten zu handeln, da sie direkt den offen revanchistischen Kurs gegen die ukrainische Sprache, die nationale Filmproduktion und die Veröffentlichung von Büchern wendet“, heißt es in der Stellungnahme der Widerstandsbewegung gegen Kapitulation weiter.
Mit Stand 30. März ist die Zukunft des Kulturbudgets nicht geklärt. Am 29. März informierte Premierminister Denys Schmyhal darüber, dass die Regierung die vorläufigen Änderungen am Budget abgeschlossen habe und dass die Ausgaben für Infrastruktur und Entwicklung von Kultur und Bildung beibehalten werden. Am 30. März unterstützte das Parlament den Entwurf der Budgetänderungen der Regierung nicht. Das bedeutet, dass es nicht klar ist, ob das Kulturbudget demnächst gekürzt wird.
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