Risiken der Aufhebung parlamentarischer Immunität
In einer aufstrebenden Demokratie wie der Ukraine, mit schwacher Rechtsstaatlichkeit und einer unzuverlässigen und überwiegend korrupten Justiz, würde die vollständige Abschaffung der parlamentarischen Immunität das Parlament gegenüber einem ohnehin bereits starken Präsidenten schwächen. Ein Kommentar von Manfred Richter und Miriam Kosmehl
Gleich nachdem er am Tag der Parlamentswahl seine eigene Stimme abgab, wiederholte der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seinen Wunsch, ein neues Gesetz möge die Immunität der neu in die Werchowna Rada einziehenden Abgeordneten aufheben. Bereits während seiner Präsidentschaftskampagne hatte er mehrfach betont, die parlamentarische Immunität (neben der des Präsidenten und der Richter) gehöre abgeschafft.
„Auch wenn es populistisch klingt, aber in den Programmen anderer Kandidaten war nirgends zu lesen, die Immunität des Präsidenten, der Abgeordneten und der Richter abzuschaffen. Es ist ratsam, all das mit einem Gesetz zu tun“, sagte er etwa in der Sendung „Interview mit dem Präsidentschaftskandidaten“ auf ICTV, dem beliebten Fernsehsender des ukrainischen Oligarchen Wiktor Pintschuk.
Parlamentarische Immunität abzuschaffen ist in der Ukraine populär
Der Vorschlag trifft einen Nerv, weil die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger der Werchowna Rada von allen ukrainischen Institutionen mit am wenigsten vertrauen. Das liegt daran, dass einige Abgeordnete ihr Mandat nutzen, um Partikularinteressen zu verfolgen, eigene und von reichen Auftraggebern, bei gleichzeitigem Schutz vor Strafverfolgung. Politik mitgestalten zu wollen und für die Belange von Wählern einzutreten hat bislang nur eine Minderheit motiviert.
Doch die Abschaffung der Immunitätsregeln hätte die Kehrseite, dass das Parlament dem Wohlgefallen der Exekutive unterworfen wäre. Was das bedeuten könnte, zeigt ein aktuelles Beispiel aus Kambodscha. Als es für die Partei von Präsident Hun Sen schlecht aussah für die Parlamentswahl 2018, schaffte die noch bestehende parlamentarische Mehrheit der Präsidentenpartei die Immunität ab. Kurz darauf fanden sich alle gewählten Oppositionsabgeordneten unter abenteuerlichen Umständen vor Gericht und im Gefängnis wieder, wenn sie nicht entkommen konnten. Am Ende hatte die Partei von Präsident Hun Sen 100 Prozent der Sitze im Parlament.
Wenn Mandatsträger außerhalb des Gesetzes stehen liegt das Problem woanders
In der Ukraine ist die Immunität der Abgeordneten in der Verfassung verankert. Sie abzuschaffen erfordert eine qualifizierte Mehrheit. Zwar wird die Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ in der neuen Rada keine Zweidrittelmehrheit haben, doch mit ihrem überragenden Ergebnis ist es gut möglich, dass sich der Rest noch findet für die notwendigen 300 Stimmen.
Der Plan mag sogar gut gehen – solange verantwortungsbewusste Menschen in den richtigen Positionen sind. Sollte aber jemand, der machthungrig und rücksichtslos ist, an die entscheidenden Stellen kommen, wäre es ein Leichtes, ein Parlament, das im Weg steht, auszuschalten. Angesichts etwa grundloser Strafverfahren oder politisch motivierter Anschuldigungen ist es schwer, sich das Parlament als funktionierendes Gegengewicht und mit unabhängigen Volksvertretern vorzustellen.
Wenn Mandatsträger außerhalb des Gesetzes stehen, liegt die Herausforderung in der Handhabung der Immunitätsregeln. Die gegenwärtige Praxis in der Ukraine widerspricht dem Sinn der Immunität vollständig. Die soll ja nicht den einzelnen Parlamentarier schützen, sondern das Parlament als Ganzes und in seiner parlamentarischen Funktion. Mit anderen Worten: die Immunität muss die Meinungsfreiheit der Mandatsträger schützen und darf nicht zu deren Straflosigkeit in Angelegenheiten führen, die gar nichts mit ihrem Mandat zu tun haben.
Das Verfahren in entwickelten parlamentarischen Systemen ist immer gleich
In länger bestehenden parlamentarischen Systemen wird bei polizeilichen Ermittlungen an einem bestimmten Punkt das Parlament befasst. Es prüft dann, ob seine parlamentarische Funktionsfähigkeit durch die betreffenden Untersuchungen beeinträchtigt sein könnte. Kommt es zu dem Schluss, dass das nicht der Fall ist, hebt es die Immunität des betreffenden Abgeordneten auf; gegebenenfalls wird gegen ihn Anklage erhoben oder Untersuchungshaft angeordnet. Prüfung und Aufhebung der Immunität erfolgen schnell und geräuschlos, so dass ein rechtsstaatliches Verfahren gegen den Abgeordneten nicht lange aufgehalten wird.
Im Deutschen Bundestag ist der sog. 1. Ausschuss zuständig, der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. In diesem zahlenmäßig kleinen „de-luxe“-Ausschuss befassen sich die Spitzen der Fraktionen auf der Ebene der Parlamentarischen Geschäftsführer mit Fragen der Immunität. Sie sind zu strikter Vertraulichkeit verpflichtet und erstellen, fast immer im Konsens, einen Beschlussvorschlag für das Plenum. Die liest sich in der Regel wenig spannend, etwa: „Der Deutsche Bundestag möge beschließen: Die Immunität des Abgeordneten Meyerdierks wird hinsichtlich der Durchführung des Ermittlungsverfahrens xyz aufgehoben.“ Das Plenum entscheidet meist ohne Debatte, ebenfalls einstimmig. In der Regel sickert kein Detail des Verfahrens an die Öffentlichkeit durch. Erst wenn ein öffentliches Stadium erreicht ist, etwa mit dem Beginn eines Gerichtsverfahrens, beginnt die Presseberichterstattung. Das Gros der Immunitätsfälle ist wenig dramatisch, zum Beispiel Verkehrsdelikte und Alkohol am Steuer. Manchmal gibt es auch Fahrerflucht und gelegentlich echte Kriminalität, beginnend mit Betrug oder Konkursverschleppung. Das Verfahren ist immer gleich.
Durch eine Abschaffung der parlamentarischen Immunität in der Ukraine würde man das Kind nicht nur mit dem Bade ausschütten, sondern es dazu mit der Badewanne erschlagen
Dass in der Ukraine aktuell eine Lösung wie die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität diskutiert wird, deutet bestenfalls auf ein grundlegendes Unverständnis dieser parlamentarischen Schutzklausel hin oder den unbedingten Wunsch, eine Mammutaufgabe abzukürzen: Rechtsstaatlichkeit zu schaffen.
Aber mit einer Justiz, deren Unabhängigkeit es erst noch aufzubauen gilt, ist die Abschaffung parlamentarischer Immunität nicht das Wundermittel, um die Straffreiheit einzelner Mächtiger mit Mandat zu unterbinden. Die problematische Verflechtung von Oligarchengruppen und Wahlkreismandaten kann die Immunitätsabschaffung nicht aufbrechen. Sie kann ebenso wenig die bestehenden Mängel in der Justiz ausgleichen und wird Korruption nicht verhindern.
An Justizreform führt kein Weg vorbei, und Abkürzungen gibt es keine. Im Hinblick auf das Parlament ist empfehlenswert, bestehende Immunitätsregeln achtsam zu handhaben und so die Effekte der Straffreiheit einzelner Mächtiger zu eliminieren. Langfristig geht es darum, die faktische Straffreiheit einzelner Abgeordneter zu unterbinden, ohne die Funktion des Parlaments und die Unabhängigkeit der Abgeordneten zu gefährden.
Zu diesem Zweck ist es unerlässlich, die Ausschüsse der neuen Werchowna Rada mit Achtsamkeit zu besetzen und ihre Arbeit mit Aufmerksamkeit zu begleiten. So sollten allgemein respektierte, unabhängige Personen den wichtigsten parlamentarischen Ausschüssen wie demjenigen zur Geschäftsordnung zugewiesen und mit der Behandlung von Immunitätsfragen betraut werden. Erfahrene Expertenkollegen etwa aus EU-Parlamenten könnten eine kontinuierliche Partnerschaft anbieten, ihre Kollegen konsultieren und mitverfolgen, dass Immunitätsverfahren fair und einheitlich durchgeführt werden.
In einer aufstrebenden Demokratie wie der Ukraine, mit schwacher Rechtsstaatlichkeit und einer korrupten Justiz, würde die Abschaffung der parlamentarischen Immunität das Parlament gegenüber einem ohnehin bereits starken Präsidenten schwächen. Wenn verantwortliche Personen Immunitätsregeln sinnvoll umsetzen, wird das eher dazu beitragen, die Gewaltenteilung zu sichern und das Risiko verringern, dass Abgeordnete unter Druck geraten, falls sie sich kritisch äußern.
Manfred Richter war von 1990 bis 1994 Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion im Bundestag. Derzeit ist er Vorstandsmitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und berät regelmäßig Parlamente und politische Parteien auf der ganzen Welt.
Miriam Kosmehl ist die Osteuropa-Expertin der Bertelsmann Stiftung. Von 2012 bis 2017 leitete sie das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in der Ukraine.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder und repräsentiert nicht notwendigerweise die Position der Redaktion von Ukraine verstehen bzw. dem Zentrum Liberale Moderne.
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