Die Mythen einer orthodoxen und russischen Ostukraine
Eine Ansichtskarte des vorrevolutionären Bachmuts mit einem Gruß zum jüdischen Neujahrsfest.
Ihor Koslowskyj erzählt im Buch von Oleksandr Mykhed „Dein Blut wird die Kohle tränken“ über die Mythen, die die Ostukraine geprägt haben, und wie sich Slowjansk, Swjatohirsk und Mariupol voneinander unterscheiden.
Ihor Koslowskyj und ich trafen uns in Kyjiw im Januar 2020 und sprachen über Angst und Sorgen, Totalitarismus und Konformismus, das geisteswissenschaftliche Defizit und die Psychologie des Geldverdienens. Außerdem ging es um Mythen, die mit der Zeit in sich zusammenfallen, sobald man sich bemüht herauszufinden, wie die Dinge wirklich gewesen sind.
Auch wenn dieses Gespräch chronologisch am Ende der Recherche für dieses Buch steht, scheint es mir angemessen, es an den Beginn der Einführung in die Ostukraine zu setzen.
Ich möchte nicht behaupten, dass dieses Theater um die Donezker Identität grundfalsch ist, doch es verallgemeinert wichtige Dinge, die es nicht wert sind, so reduziert zu werden. Vor einiger Zeit habe ich einen Artikel über die muslimische Identität verfasst. Die verschiedenen religiösen Zentren des Islam haben unterschiedliche Identitäten, obwohl es am Ende alles Muslime sind. Warum ist das so? Sie waren unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt, folgten anderen Führern, und hatten abweichende Identitäten. Bei den einen ist sie rein religiös geprägt, bei anderen ist sie das Zusammenspiel von ethnischer und religiöser Identität. Wieder andere stellen die ethnische Zugehörigkeit viel höher als die religiöse, und dann gibt es welche, bei denen gesellschaftliche und nationale Identitäten vermischt sind und die sich als Patrioten hervortun. Deshalb ist es falsch zu verallgemeinern und von „allen Muslimen“ zu sprechen, denn „die Muslime“ gibt es nicht.
Auch regional gibt es keine homogenen Gruppen. Es gibt subkulturelle Gemeinschaften, die sich vereinen, weil sie eine gemeinsame Vorstellung vom Leben und ihrem Platz darin haben.
Während meiner Zeit in den Gefängniskellern sah ich Leute, mit denen ich Jahrzehnte in derselben Nachbarschaft gelebt hatte. Wir sprachen zwar dieselbe Sprache, doch hatten wir komplett unterschiedliche Ansichten hinsichtlich unseres Platzes in dieser Welt und unserer Umgebung. Gänzlich gegensätzliche Werte und Prinzipien. Sie waren wie Außerirdische für mich und ich für sie. Warum war das so? Es zeigt, dass sie aus verschiedenen Siedlungen stammen, mit unterschiedlichen Identitäten.
In meinem Haus wohnte bis zur Revolution 1917 nur eine Familie, in meiner Kindheit waren es dann schon 13, eine wohnte sogar im Keller. Doch sie alle vereinte die gemeinsame Erinnerung an den Krieg. Später dann, 1956–57, kamen Menschen aus dem Gulag zurück. Es kam vor, dass in einem Innenhof ehemalige Machno¹- Leute, Anhänger Petljuras² und Rotarmisten Tür an Tür wohnten.
Sie stritten sich und spielten gemeinsam Domino. So war das Leben nach dem Krieg.
Wenn man nach Slowjansk, Swjatohirsk oder Mariupol fährt, fällt einem bald auf, dass dies ganz andere Städte sind.
Diese Region ist vielfältiger und weniger gleichförmig. Die Oblast Donezk zum Beispiel besteht aus sehr verschiedenen Landstrichen. Der „Donbass“ ist ein wirtschaftlicher und in seiner Aussagekraft begrenzter Begriff. Welche Beziehung haben denn bitte Slowjansk oder Bachmut zum Donbass? Diese Gebiete westlich des Kalmius von Bachmut bis Mariupol gehörten im 19. Jahrhundert zum Gouvernement Jekaterinoslaw und bildeten zwei eigene Landkreise.
Den Kreis Mariupol hier nannte man einst Griechenland, denn Ende des 18. Jahrhunderts wurden hier Griechen angesiedelt. Bei der Umsiedlung, oder Deportation, wie ich es nenne, starb ein Drittel von ihnen. Dies war ein Genozid. Sie wurden von dort vertrieben, wo sie jahrhundertelang gelebt hatten. Zunächst siedelte man sie in die Oblast Saporischja um und später auf dem Gebiet der heutigen Oblast Donezk. Nicht alle zogen hierher. Die meisten, die kamen, waren Vertreter der Urum und ein kleiner Teil Romei. Die turksprachigen Griechen sprachen verschiedene Dialekte: Kiptschakisch, Kiptschakisch-Oghusisch, Oghusisch-Kiptschakisch oder einfach Oghusisch. Ihre Sprache ähnelte also denen der Krimtataren, Karäer und Krimtschaken. Sie wurden hier in der Steppe angesiedelt, obwohl das ganz andere klimatische Bedingungen sind, doch irgendwie mussten sie ja überleben. Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Mariupol eine griechische Polizei, griechische Schulen und einen Teil Armenier und Juden.
Das 20. Jahrhundert brachte große Umbrüche. Die Städte veränderten sich. Es verschwand die Kultur, die Mariupol und umliegende Dörfer geprägt hatte. Nach und nach wurde hier alles sowjetisch. Es entstanden die Hochöfen und Metallurgie-Fabriken. Die Arbeitskräfte wurden jedoch nicht unter den Einheimischen rekrutiert. Man holte Leute aus anderen Regionen, die sich mit der Zeit an der Nordküste des Asowschen Meeres niederließen.
Den Kreis Bachmut zeichnet die Besonderheit aus, dass er komplett ukrainischsprachig ist. Hier gab es historisch viele Mennoniten, denen Katharina II. per Erlass die Ansiedlung erlaubte. Die meisten Mennoniten waren Lutheraner und kamen aus Preußen.
Mit der Unterwerfung der Saporoger Kosaken wurden die Bedingungen für die Ansiedlung geschaffen. Die neuen Siedler kamen, um hier ihr eigenes New York zu gründen. Noch heute kann man dies teils an der Architektur und der Straßenführung erkennen, denn sie verwirklichten in diesen Weiten ihre eigene Vorstellung von einer Stadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand sie, doch manches ist im kulturellen Kontext bis heute erhalten geblieben erhalten. Die Einwohnerschaft kann sich ändern, doch der kulturelle Code wird stets auch die beeinflussen, die hierherziehen.
Der nördliche Teil der Oblast Donezk gehörte früher zum Kreis Isjum im Gouvernement Charkiw und davor zur Sloboda-Ukraine. Diesen Einfluss spürt man dort viel stärker, als den von Donezk.
Jusiwka lag westlich des Kalmius, während Makijiwka und Tores, die früher unter dem Einfluss der Don-Kosaken standen, auf der anderen Seite lagen. Da galten ganz andere Regeln. Heute ist dort die „DNR“.
Im 19. Jahrhundert war Makijiwka eine große Stadt und Jusiwka nur ein Kaff. Es entstand am Ort der ehemaligen Kosaken-Winterquartiere Mandrykyne und Jasinuwate. John Hughes³ war der erste, der hier eine Fabrik baute. Sie befand sich in der Nähe Oleniwkas, wo sie durch einen Kanal mit dem Kalmius verbunden war. Diese Stelle bot sich an, da sich hier mehrere Handelswege kreuzten. Nun brauchte man nur noch Wasser und Kohle für die Metallurgie, und die waren hier vorhanden.
Ein Blick in die Kirchenbücher beweist, dass Jusiwka auch als Schtetl, also eine jüdische Kleinstadt, bezeichnet wurde. Der Kalmius war die östliche Grenze des Ansiedlungsrayons. Jusiwka war also ein Schtetl wie es im Buche steht. Hier lebten 11 000 Orthodoxe Christen und 16 000 Juden. Die drei Synagogen wurden so errichtet, dass man von einer zur anderen nie mehr als 900 Meter ging.
Auch wenn die Straßennamen schon lange nicht mehr dieselben sind, werden die Prospekte immer noch „Erste Linie“ bis „Neunte Linie“ genannt. Das hat auch einen Einfluss auf die Herausbildung einer gewissen Mentalität.
Das, was sich hier im 19. Jahrhundert herausbildet, lässt sich nur schwer als Identität bezeichnen. Viel eher waren es verschiedene Enklaven mit einer eigenen kulturellen Existenz und Mundart.
Später zog die Industrialisierung dann all jene an, die Arbeit suchten oder auch solche, die kamen, um reich zu werden.
Später kamen Leute, die sich vor dem Holodomor retten wollten.
Auch kamen Menschen, die ihren Nachnamen änderten und ihre früheren Wohnorte aus den unterschiedlichsten Gründen hinter sich lassen wollten. Hier wurde man nicht danach gefragt. Niemand wollte deine Dokumente sehen.
Dann kam der Krieg und anschließend der Aufruf zum Wiederaufbau des Donbass. Massenweise strömten die Leute hierher. Der Wiederaufbau begann schon 1943–44. Es kamen Leute aus der Ukraine – aus Poltawa und Tschernihiw.
Seit den 1950er Jahren kamen auch Leute aus der Westukraine.
Sie kamen entweder mit dem Interesse, Geld zu verdienen, oder um sich vor Repressionen zu retten. Und dann waren da noch diejenigen, die aus der Deportation oder Gefangenschaft wiederkamen. Vielen von Ihnen wurde verboten, in der Ukraine zu leben und dies war die erste Gegend, in der ihnen Ansiedlung wieder gestattet wurde.
Während der Massenumsiedlungen kamen im Rahmen der „Aktion Weichsel“ Ende der 1940er Jahre auch Lemken hierher. Nun gibt es im Kreis Bachmut mehrere lemkische Dörfer.
Statt ins Gefängnis zu müssen, gab man den Menschen die Möglichkeit, ihre Schuld in den Bergwerken „abzuarbeiten“, wo es besonders hart und gefährlich für die Gesundheit war. Auch dies hatte gewisse Auswirkungen auf das ein oder andere Viertel.
Diejenigen, die im Zentrum wohnten, waren ganz andere Menschen und nicht mit jenen zu vergleichen, die in einem der Außenbezirke Donezks lebten.
Erst in den 1960er Jahren begann man mit der Einrichtung von Hochschulen. Die Akademiker brachte man aus der ganzen Sowjetunion, von Nowosibirsk bis Lwiw. Es wurden Wissenschafts- und Forschungsinstitute gegründet, in denen Physiker und Chemiker für die Region arbeiten sollten.
Die Urbanisierung und Russifizierung nahm ihren Lauf und in der Stadt war die Arbeiterklasse in der Mehrzahl.
Heute leben mehr als 90 Prozent der Bevölkerung in Städten. Damals lebten in den Dörfern ukrainischsprachige Menschen oder Griechen, die sich immer weniger ethnisch definierten und ihre Sprache mit der Zeit vergaßen. Nur die Älteren bewahrten sie. Auch dies hinterließ Spuren in der Bevölkerung.
Diese Konzentration von Menschen mit den verschiedensten Ansichten und Prinzipien und ist wie ein großer Kessel, in dem die alles zu einer Masse zerkocht wird. Die gewaltige Metall- und Kohleindustrie brauchte stets neue Kräfte, neue Menschen.
Und die gab es hier.
Für die Stiftung regionaler Identität braucht es ein starkes Dorf- und Landleben. In Galizien, zum Beispiel, waren die Städte jüdisch und polnisch geprägt, doch die Dörfer waren größtenteils ukrainisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Lwiw neu besiedelt und die Menschen kamen aus den umliegenden Dörfern in die Stadt.
Wenn diese Menschen heute an die Geschichte Lwiws denken, werden sie wehmütig. Dabei haben die heutigen Bewohner der Stadt nichts mit dieser Geschichte zu tun.
Mein Vater kam aus Polesien in der Region Tschernihiw in den Donbass. Hier trafen verschiedenste kulturelle Vorstellungen der Menschen aufeinander, die sich im Einfachen ausdrückten. Wie esse ich? Wie betreibe ich Körperpflege? An diese Besonderheiten erinnere ich mich aus der Kindheit.
Natürlich gab es in der Sowjetunion Versuche, alle gleich zu machen. Ein gewisses Maß an Gleichheit erreichte man jedoch erst in den 1970er Jahren, als es kaum noch Zuzug gab.
In den 1980er Jahren kamen die Umbrüche der Glasnost und Perestroika. Die 1990er brachten kriminelle Clans hervor, aus denen später Oligarchen hervorgingen.
Dieses Rowdytum wurde zu einem Element der lokalen Psyche. Wenn du nicht für dich selbst sorgen kannst, gehst du unter. Dreistigkeit und Prinzipienlosigkeit äußerten sich im Slang der Straße.
Dennoch würde ich noch immer nicht von einer Identität sprechen. Nicht alle waren gleich. Jeder traf seine eigene Wahl.
Die Identität einer jeden Gemeinschaft beginnt mit der Einteilung in ein „wir“ und ein „sie“, schreibt Nikolai Gumiljow. „Aus welchem Dorf kommst du? Aus welchem Bezirk? Hier bei uns kommen auch jeden Monat 60 Leute ums Leben.“ Viele sind stolz auf „ihre“ Kriminellen und „ihre“ Banditen. Aus diesem Grund haben so viele Menschen Janukowytsch gewählt, denn der kam von hier. Er war einer von „uns“.
Es klingt primitiv und unterkomplex, doch so etwas gibt es in jeder Region.
Wenn man schon leiden muss, dann lieber unter den eigenen Leuten.
Genau dies führte zu den Problemen 2014. Auf dem Maidan stand der pro-ukrainische, gebildete Teil der Bevölkerung. Leute, die Geisteswissenschaften studiert und klare Werte hatten oder einfach in einer freien Ukraine leben wollten.
Doch es gab auch einen anderen, indifferenten Teil der Bevölkerung, der weiter nur materielle Interessen verfolgte.
Als man ihnen sagte, dass es in Russland mehr zu holen gäbe, wirkte das überzeugender als jedes andere Argument. Darauf aufbauend servierte man ihnen dann die Ideologeme der „Russkij Mir“⁴.
Man muss jedoch die Künstlichkeit dieser Ideologeme verstehen, denn so wirklich hatte sich vorher niemand für Russland interessiert.
Leute, die Verwandte dort hatten, standen natürlich mit ihnen in Kontakt. Aber die anderen hatten doch schon fast vergessen, dass hier einmal Russland regiert hatte.
Wir sind Zeugen der Rekonstruierung sowjetischer Mythen in Teilen der Ostukraine.
Dabei geht es noch nicht einmal um die echte Sowjetunion, sondern ausschließlich um ihre Mythen. Faktisch exportiert man ein ideologisches Klima aus Russland, das gar nicht charakteristisch für diese Region ist.
Neben Arbeitern gab es hier auch Dissidenten wie Iwan Dsjuba, Wasyl Stus, Oleksa Tychyj und Mykola Rudenko.
Doch im Sinne des neuen Mythos wird alles zu einer Masse zerkocht. Das russische Imperium wird dekoriert mit Elementen des Großen Terrors von 1937 und schließlich gibt man noch eine Prise „Entwickelter Sozialismus“ hinzu. Das war von Anfang an zu spüren, als diese Kämpfer und Ideologen hier den Boden betraten.
Alle, die dies nicht hinnehmen wollten, zogen weg. Geblieben sind nur jene, die es sich nicht leisten können wegzufahren, oder eben solche, die besagte Positionen unterstützen. Und dann sind da noch diejenigen, die Verbindungen zu Russland und somit tatsächlich eine andere Identität haben.
Die orthodoxe Kirche war in dieser Region nie die dominante Glaubensrichtung.
Hier siedelten vor allem Sieben-Tags-Adventisten, Pfingstler oder Baptisten. Die gibt es mittlerweile schon in der fünften Generation. Das hier war ein neues Land, ihr eigenes Amerika, ein Ort, an den man fliehen konnte.
Als in den neunziger Jahren Missionare kamen, fanden sie hier Traumbedingungen vor. Sie nannten die Ostukraine sogar analog zum amerikanischen Süden „Bible Belt“. Das ist kein Zufall, denn hier gab es mehr protestantische Gemeinden als orthodoxe.
Die Zeugen Jehovas gab es hier seit den 1940er Jahren und nun werden sie auf einmal verboten.
Dass dies orthodoxes Territorium sei, ist ein neuer Mythos.
Es gibt künstlich erschaffene Mythen, um Dinge zu erklären.
Einer davon war die privilegierte Stellung der Arbeiterklasse in der Sowjetunion. In der Realität war sie das nicht. Deshalb brauchte es Auserwählte aus den Reihen dieser Klasse.
Dazu erkor man den Bergarbeiter. Er ist ein Held, wenn er sich auf den Weg ins Erdinnere macht. Denn ob er es zurück ans Tageslicht schafft, ist ungewiss. Worin drückt sich sein Heldentum also aus? In dem hohen Lohn und dem Mythos, der sich um ihn rankt. Um eine ganze Generation von Menschen, ganze Familien zu dieser Arbeit zu bewegen, musste der Mythos mit Leben gefüllt werden.
Kultiviert wurde er seit den 1930er Jahren. Heldentum, Bergmanns-Ehre und die Stachanow-Bewegung. Das ist nichts Ungewöhnliches. Irgendwie müssen die Leute ja motiviert werden. Doch der Mythos verbreitete sich in der ganzen Region und auch in Kreisen, die eigentlich über gar keine Bergbauindustrie verfügten.
In meinem Umfeld, zum Beispiel, gibt es gar keine Bergarbeiter, dabei bin ich schon 66 Jahre alt. Ich weiß, dass viele Leute auch gar keine Bergarbeiter persönlich kennen, oder nur sehr flüchtig. In meiner Familie gab es Metallarbeiter, die ihren eigenen Mythos hatten, denn das ist auch harte Arbeit.
Doch gerade der Bergarbeitermythos wurde zum wirkmächtigsten.
Mit der Zeit begannen die Bergarbeiter selbst an den Mythos zu glauben und ihn in ihre Erzählungen aufzunehmen. Der „Tormosok“⁵ kommt aus dem Jargon der Bergleute.
Doch dieser Mythos ist zu allgemein und lässt sich nicht auf die ganze Region anwenden.
Als der Krieg ausbrach, war ein Teil der Bergwerke bereits geschlossen und die Arbeit dort wurde immer weniger geschätzt. Das idealisierte Bild des Bergarbeiters ist eine Folge dieses Mythos.
Man kann nicht sagen, dass die Bergarbeiter die Besetzung unterstützten.
Die Mehrheit von ihnen bewegte sich einfach nicht vom Fleck. Zu den Waffen griffen nur einzelne. Oft waren es Drogen- oder Alkoholabhängige, die darin eine Möglichkeit sahen, kostenlos an Stoff zu kommen.
Als ich später im Gefängnis war, traf ich auf Leute, die gleich zu Beginn Waffen bekommen hatten. Das waren kranke Menschen. Das ist ein Problem, denn der Staat versäumte es, Ideen und Ressourcen aufzubringen und mit den Menschen zu arbeiten und überließ die Region einfach den Clans der Oligarchen. Die meisten Leute lebten in großer Unwissenheit, sodass man jedes beliebige
Samenkorn in die nackte Erde hätte pflanzen können.
Meine Großmutter erzählte uns einst ihre Kindheitserinnerungen an das frühe 20. Jahrhundert. Damals tummelte sich hier die ukrainische Intelligenzija der Sloboda-Ukraine. Zusammen mit ihren Schwestern sangen sie ukrainische Lieder und mit der Zeit auch russische.
Ein weiteres Element der Zerstörung des nationalen Bewusstseins und der Schaffung einer sowjetischen Gesellschaft war der Übergang der Region zur russischen Sprache. Alle Bergwerke und das technische Personal waren russischsprachig. Das wurde so verlangt.
Zu Hause konnten sie Ukrainisch sprechen, doch auf der Arbeit sprach man Russisch.
Das sowjetische System arbeitete laut Viktor Frankl mit nur zwei Zutaten. Es stoppte die Persönlichkeitsentwicklung mithilfe von Totalitarismus und Konformismus.
Der Totalitarismus zwingt den Menschen dazu, die vorhandenen Gegebenheiten zu akzeptieren. Der Konformismus ist dagegen der Versuch, jedes Individuum zum Teil des Systems zu machen.
Diese zwei Aspekte sind auch heute noch im ukrainischen Kontext zu finden.
Der Mensch hat seine Grenzen, denn er ist psychologisch empfindsam und Krieg bedeutet Dauerstress. Viele Menschen hat der Krieg vor schwerwiegende Gewissensentscheidungen gestellt. Es hat sich herausgestellt, dass viel zu Verrat und Denunziation bereit war. Leute, denen du einst vertraut hast, wurden zu Feinden. Traurig ist das.
Doch ich trage es mit Fassung. Der Mensch ist schließlich kein perfektes Wesen.
Wir haben enormes Potenzial, und gleichzeitig sind wir faul und verlogen. Vor allem haben wir Angst.
Wir erschaffen verschiedene Mythen, mit denen wir das eigene Bewusstsein und Gewissen zu schützen suchen. Damit er auf die Fragen „Warum hast du das getan?“ oder „Warum hast du ihn verraten?“ eine Erklärung und eine Ausrede für sich bereit hat.
Wenn du weise bist, kannst du vergeben, denn auch du musstest der Versuchung widerstehen. Die Mehrheit der Menschen hält der Versuchung nicht stand.
Gerade weil du verstehst, wie zerbrechlich und infantil die Menschen sind, kannst du sie nicht verurteilen.
Stattdessen gilt es, auf den eigenen Mythos zu verzichten und auch keinem bereits Bestehenden zu folgen. Denn wir erschaffen ihn einzig zu dem Zweck, nicht verstehen zu müssen. Waren wir ehrlich mit uns selbst, müssten wir mit seiner Zerstörung beginnen.
—-
Ihor Koslowskyj ist eine der wichtigsten Stimmen ukrainischer Intellektueller. Der Historiker, Schriftsteller, Theologe und zivilgesellschaftliche Aktivist wurde 1954 in Makijiwka, in der Oblast Donezk, geboren. Er ist Autor von fast 50 Büchern und 200 wissenschaftlichen Artikeln und arbeitete mehr als 25 Jahre in der Donezker Gebietsverwaltung als Leiter der Abteilung für Religionsgemeinschaften.
Am 27. Januar 2016 wurde er von Kämpfern der „Donezker Volksrepublik“ aufgrund seiner pro-ukrainischen Einstellung entführt, die er vielen seiner Studenten weitergegeben hatte. Er verbrachte 700 Tage in Gefangenschaft. Am 27. Dezember 2017 kam er im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei.
Anmerkungen der Übersetzer:
¹ Nestor Machno (1888–1934) war ein ukrainischer Anarchist, der während des Bürgerkriegs (1917–1921) die nach ihm benannte Bauern- und Partisanenbewegung anführte.
² Symon Petljura (1879–1926) war ein ukrainischer Politiker, Truppenkommandant während des Bürgerkriegs und von 1919 bis 1920 Präsident der Ukrainischen Volksrepublik (UNR).
³ John Hughes (1815–1889) war ein walisischer Geschäftsmann, der die Industrialisierung im Russischen Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. vorantrieb. Nach ihm wurde Jusiwka, das spätere Donezk und Stalino, benannt.
⁴ Die Russische Welt (rus.: Russkij Mir) ist ein historischer und (kultur-)politischer Begriff, mit dem die Zusammengehörigkeit aller Russisch- Sprechenden, orthodoxen Gläubigen, oder Einwohner von ehemals zur Sowjetunion gehörenden Territorien behauptet wird.
⁵ Pausenbrot
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