Das Gedenken muss über die Konzentrationslager hinausgehen
Wenn wir am Tag der Befreiung von Auschwitz den Opfern des Holocausts gedenken, dürfen wir auch jene von ihnen nicht aus den Augen verlieren, die in Osteuropa jenseits der Konzentrationslager unverschleierter Gewalt zum Opfer fielen. Ein Kommentar von Nikolai Klimeniouk.
Das Bild oben zeigt eine Erschießung von Einheiten der Einsatzgruppe C nähe der Stadt Ivanhorod in der Zentralukraine.
Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau von der sowjetischen Armee befreit, 2005 erklärte die UN-Generalversammlung den 27. Januar zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Die Wahl dieses Datums erscheint nahezu selbstverständlich: Auschwitz ist längst zum Symbol des Holocaust geworden. Mit seinen Eisenbahnrampen, Gaskammern und Krematorien, mit den Bergen von Goldzähnen, Haaren und gut sortierten persönlichen Gegenständen der Opfer, mit den Säcken voller menschlicher Asche, mit den unvorstellbar grausamen medizinischen Experimenten von Josef Mengele steht Auschwitz für die planmäßige, industriell geführte Vernichtung der europäischen Juden, für den Massenmord mit minimalen Kosten und maximaler Effizienz.
Genozid durch Kugeln
Das ist alles wahr, doch die Schoah verlief auch ganz anders, besonders auf dem Gebiet der damaligen UdSSR und teilweise in Polen. Dort wurde ein Großteil der europäischen Juden ermordet, fast eine Million von ihnen noch vor der Wannseekonferenz, die im Januar 1942 stattfand. Wie viele genau es aber waren, ist bis heute nicht bekannt, die sowjetischen Opferstatistiken sind notorisch inakkurat. Schätzungen zufolge befanden sich auf den besetzten Gebieten der UdSSR bis zu fünf Millionen Juden, sowohl sowjetische Bürger, als auch geflüchtete und deportierte Bürger Polens und Ungarns; etwa die Hälfte von ihnen könnten den Krieg nicht überlebt haben. Die Sowjetunion hatte keine separate Statistik der jüdischen Opfer, es wurde immer nur von „Sowjetbürgern“ gesprochen. Die Besatzer haben die Statistiken auch nicht immer exakt geführt.
Anders als in West- und Mitteleuropa folgte die Ermordung der Juden in der UdSSR keinem Plan, die Kosten- und Effizienzüberlegungen spielten anfangs überhaupt keine Rolle. In der westukrainischen Kleinstadt Kamjanez-Podilskyj haben die deutschen Besatzer Ende August 1941 23.000 Juden erschossen, meistens mit Genickschuss. Das so genannte Massaker von Kamenez-Podolsk gilt als die erste große Vernichtungsaktion des Holocaust. Einen Monat später wurden in der Schlucht Babyn Jar in Kyiw fast 34.000 Juden an nur zwei Tagen erschossen. In Odessa haben die rumänischen Truppen weniger als eine Woche nach der Besatzung der Stadt circa 25.000 Juden bei lebendigem Leib in ehemaligen Munitionsdepots der Roten Armee verbrannt. Die letzten beiden Hinrichtungsstätten befanden sich im Stadtgebiet, die jüdischen Bürger wurden vor den Augen ihrer Nachbarn ermordet. Die Überlegung, das Morden zu verbergen, spielte überhaupt keine Rolle. In den vielen kleinen Ghettos in der rumänischen Provinz Transtnistrien ließ man die Juden einfach verhungern.
Holocaust bestand nicht nur aus industriell organisierter Massenvernichtung
Die sowjetische Geschichtsschreibung lenkte nicht nur von der gezielten Vernichtung der Juden ab, sondern spielte auch die Beteiligung der Zivilbevölkerung und der Armeen der späteren Satellitenstaaten der UdSSR bei diesen Verbrechen herunter. Es gab kaum Gedenkstätten für die jüdischen Opfer, die nichtdeutschen Täter wurden nach Möglichkeit gar nicht erwähnt. Diese Geschichtsklitterung grenzte fast schon an Holocaustleugnung und hallt bis heute nach. In der allgemeinen Wahrnehmung der Deutschen, nicht zuletzt vermittelt durch den Geschichtsunterricht, ist der Holocaust vor allem industriell organisierte und durchgeführte Massenvernichtung, der Haupttäter der nationalsozialistische Staat. Diese Optik lässt nicht so deutlich erkennen, welche Rolle bei der Schoah der Antisemitismus der Bevölkerung in fast allen europäischen Ländern spielte, der pure Hass auf Juden oder einfach nur die verbreiteten Vorurteile, die die Nazis zwar befeuerten, die aber schon lange vor den Nazis existent waren. Eine im Sommer 2018 durchgeführte Umfrage zeigte, dass 22 Prozent der Deutschen der Behauptung zustimmen, Juden spielten in der Welt eine zu große Rolle. Die Massenverbreitung solcher Vorurteile trug zur Krise des europäischen Judentums nicht weniger bei als die Vernichtungspolitik der NS-Führung.
Deutungshoheit über Opfer und Täter
Die heutige russische Geschichtspolitik neigt dagegen dazu, die Kollaboration der ukrainischen oder polnischen Bevölkerung an den Nazi-Verbrechen über jedes Maß hinaus hervorzuheben. Die Ukraine und Polen werden bis in liberale Kreise hinein weniger als Opfer, sondern mehr als Mittäter von deutschen Nazi-Verbrechen dargestellt. Sehr symptomatisch dafür war die Empörungskampagne, die der Kreml am Vorabend des Jubiläums der Auschwitz-Befreiung 2015 inszenierte. Polen, behauptete man im Kreml, habe den russischen Präsidenten Wladimir Putin aus purer „Russophobie“ nicht eingeladen, dabei sei Russland doch der rechtmäßige Repräsentant der Sowjetunion, die Auschwitz befreit habe. Diese Behauptung enthielt gleich mehrere Unwahrheiten. Die Gedenkfeier war kein Staatsakt; der Veranstalter, die Gedenkstätte Auschwitz, verschickte keine Einladungen zur Teilnahme, sondern nahm Anmeldungen an, auch von Staatschefs. Die Sowjetunion hat zwar in der Tat Auschwitz befreit, doch die Befreiung war nicht wirklich geplant. Der Kommandant der Einheit, die als erste zum KZ vorgestoßen war, Major Anatolij Schapiro, wusste seinen späteren Erinnerungen zufolge nicht einmal von der Existenz des Lagers: Auf den sowjetischen Karten war an jener Stelle nur Wald eingezeichnet. Die Person des Kommandanten sorgte ebenfalls für wilde Spekulationen. Der jüdische Offizier wurde in der Ukraine geboren und verbrachte dort fast sein ganzes Leben, bis er 1992 in die USA auswanderte. Die Ukraine war bei der Gedenkfeier vertreten. In der Ukraine wird Schapiro als Held gefeiert, 2006 zeichnete ihn der damalige Präsident Wiktor Juschtschenko posthum mit dem höchsten Orden des Landes aus. In Russland unterstellte man der Ukraine, sie wolle die Leistung der gesamten UdSSR für sich reklamieren und so von den Verbrechen der ukrainischen Nationalisten (im russischen offiziellen Sprachgebrauch „Bandera-Faschisten“) ablenken. Auch war aus Russland zu vernehmen, der Staat Polen habe das KZ Auschwitz gebaut und erniedrige nun Russland durch die Nichteinladung des Staatsoberhauptes. Diese Auseinandersetzungen machen deutlich, dass der Zweite Weltkrieg offenbar kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte ist; seine Schrecken werden heute immer öfter für aktuelle politische Zwecke instrumentalisiert.
Der Internationale Gedenktag am 27. Januar ist alles andere als eine rituelle Trauerfeier. Wenn wir am Tag der Befreiung von Auschwitz den Opfern des Holocaust gedenken, dürfen wir auch jene von ihnen nicht aus den Augen verlieren, die in Osteuropa unverschleierter Gewalt zum Opfer fielen. Es waren Menschen, die ihre jüdischen Mitmenschen mordeten, und nicht der seelen- und gesichtslose Staat. Wir dürfen nicht vergessen, dass für die Schoah der Antisemitismus der Europäer ebenso verantwortlich ist wie die Politik der Nazis. Und dass dieser europäische Antisemitismus alles andere als tot ist.
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