Warum ein neuer Anlauf zur Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung diesmal gelin­gen könnte

Das Ver­spre­chen, die Kor­rup­tion zu besie­gen und es dem „kor­rup­ten poli­ti­schen Estab­lish­ment“ endlich zu zeigen, ist nicht neu und gehört inzwi­schen in das Reper­toire fast eines jeden Wahl­kamps, egal, wo auf der Welt. Vor allem Popu­lis­ten ver­su­chen damit Wäh­ler­stim­men zu gewin­nen (sind jedoch selbst regel­mä­ßig in Kor­rup­ti­ons­skan­dale ver­wi­ckelt). Von Eduard Klein

Nicht zuletzt der neue ukrai­ni­sche Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj wurde exakt wegen seiner TV-Rolle als inte­grer und kor­rup­ti­ons­be­kämp­fen­der „Fern­seh­prä­si­dent“ mit ein­drucks­vol­ler Drei­vier­tel­mehr­heit in sein Amt gewählt. Denn laut einer Umfrage von Juli 2019 sehen zwei von drei Ukrai­nern die Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung als wich­tigste Prio­ri­tät und fordern Reform­fort­schritte in diesem Bereich. Ent­spre­chend (erschre­ckend?) groß sind nun daher die Erwar­tun­gen an Selenskyj.

Zumeist bleiben die Ankün­di­gun­gen weit hinter den hoch­ge­steck­ten Erwar­tun­gen zurück: So haben prak­tisch alle Prä­si­den­ten im post­so­wje­ti­schen Raum die Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung zwar rhe­to­risch zu ihrer (oft sogar per­sön­li­chen) Prio­ri­tät erhoben, fak­tisch blieb es in der Regel jedoch eher bei Lip­pen­be­kennt­nis­sen, wenn man sich die gän­gi­gen Kor­rup­ti­ons­sta­tis­ti­ken und Studien ansieht. Oft sind sie selbst zu tief ver­strickt in die Kor­rup­ti­ons­netz­werke und zählen daher nicht nur zu den Pro­fi­teu­ren der von ihnen errich­te­ten oder zumin­dest gedul­de­ten kor­rup­ten Systeme, sondern auch zu deren Garan­ten. Und wer sägt schon gerne den Ast ab, auf dem er sitzt.

Posi­tive Aus­nah­men, wie Geor­gien, wo Michail Saa­ka­schwili infolge der Rosen­re­vo­lu­tion tat­säch­lich weit­rei­chende Erfolge bei der Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung erzie­len konnte, bestä­ti­gen ledig­lich die Regel. Doch Saa­ka­schwi­lis erfolg­lo­ses Enga­ge­ment in der ukrai­ni­schen Hafen­stadt Odessa, die im ukrai­ni­schen Ver­gleich beson­ders geplagt ist durch Kor­rup­tion, mafiöse Struk­tu­ren und Vet­tern­wirt­schaft, zeigt, dass selbst erfah­rene Refor­mer es schwer haben, über Jahr­zehnte gewach­sene infor­melle Berei­che­rungs­netz­werke und ver­krus­tete Struk­tu­ren aufzubrechen.

Eine ein­ma­lige Chance für die Ukraine

Die Ukraine steht aktuell vor ihrer viel­leicht größten Chance, den lang­wie­ri­gen Kampf gegen die Hydra Kor­rup­tion ent­schei­dend vor­an­zu­brin­gen. Doch was spricht dafür, dass gerade der uner­fah­rene Selen­skyj, dem zudem eine Nähe zu einem der ein­fluss­reichs­ten ukrai­ni­schen Olig­ar­chen (Ihor Kolo­mo­js­kyj) nach­ge­sagt wird, erfolg­rei­cher sein könnte als all die anderen post­so­wje­ti­schen Prä­si­den­ten, die mit der Bekämp­fung der Kor­rup­tion geschei­tert sind?

Ich sehe da vor allem zwei zen­trale Punkte:

1) Der Prä­si­dent, sein Team und seine junge Partei sind zwar poli­tisch uner­fah­ren und sie werden sich nach dem aktu­el­len Höhen­flug (laut Umfra­gen kratzt Selen­skyjs Partei „Diener des Volkes“ an der 50-Prozent-Marke) sicher­lich schnel­ler als ihnen lieb ist auf dem Boden der Tat­sa­chen des (schmut­zi­gen) ukrai­ni­schen poli­ti­schen Geschäfts wie­der­fin­den. Doch der Sorge, dass die mit Abstand größte Frak­tion in der Rada aus New­co­mern besteht, steht die Chance auf einen echten poli­ti­schen Auf­bruch gegen­über, die sich daraus ergibt: Da „Diener des Volkes“ expli­zit auf Kan­di­da­ten mit par­la­men­ta­ri­scher Lauf­bahn ver­zich­tet, zieht eine neue, relativ junge Gene­ra­tion (viele sind zwi­schen 30 und 40) und ein neuer Typus von Poli­ti­kern in die Rada ein – dar­un­ter viele Akti­vis­ten und klei­nere und mitt­lere Unter­neh­mer, die die Kor­rup­tion satt­ha­ben. Auch wenn die am 18. Juni von der Partei (ganz modern per „Tele­gram“) vor­ge­stell­ten ersten Schritte zur umfas­sen­den Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung auf den ersten Blick unvoll­stän­dig und unsys­te­ma­tisch erschei­nen und erst noch mit Leben gefüllt werden müssen, geht die Partei damit einen wich­ti­gen Schritt in die rich­tige Richtung.

Die Partei „Holos“ des popu­lä­ren Rock­mu­si­kers Swja­to­s­law Wakart­schuk, die laut Umfra­gen mit 6–8 Prozent ins Par­la­ment ein­zie­hen würde, setzt eben­falls auf junge Akti­vis­ten ohne poli­ti­sche Vita.

Somit werden mehr als die Hälfte der Abge­ord­ne­ten poli­ti­sche Neu­linge sein. Und bei den – wenigen – erfolg­rei­chen Bei­spie­len, in denen Kor­rup­tion signi­fi­kant gesenkt werden konnte, spielte genau dieser Aus­tausch der alten poli­ti­schen Eliten durch frische und pro­gres­sive Akteure eine wich­tige Rolle, siehe Georgien.

2) In den ver­gan­ge­nen Jahren wurde, trotz großer Wider­stände, bereits der Grund­stein für eine Infra­struk­tur zur Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung gelegt: Mit dem Natio­na­len Anti­kor­rup­ti­ons­büro (NABU) wurde eine effi­zi­ente Insti­tu­tion geschaf­fen, die selbst vor Ermitt­lun­gen gegen hohe poli­ti­sche Funk­tio­näre nicht zurück­schreckt. Das Problem bisher: Die aus den Ermitt­lun­gen her­vor­ge­hen­den Gerichts­ver­fah­ren ver­san­den regel­mä­ßig in den weit­ge­hend unre­for­mier­ten und kor­rup­ti­ons­an­fäl­li­gen Gerichten.

Nicht zuletzt vor diesem Hin­ter­grund wurde – unter großem Wider­stand der reak­tio­nä­ren Kräfte – ein spe­zi­el­les Obers­tes Anti­kor­rup­ti­ons­ge­richt (HACC) geschaf­fen, das die vom NABU ermit­tel­ten Fälle juris­tisch auf­ar­bei­ten und die der Kor­rup­tion über­führ­ten Amts­trä­ger zur Rechen­schaft ziehen soll. Der prä­ze­denz­lose, zivil­ge­sell­schaft­lich beglei­tete Aus­wahl­pro­zess macht Hoff­nung, dass die 38 Richter, die am 5. Sep­tem­ber ihre Arbeit auf­neh­men werden, die nötige Inte­gri­tät und Pro­fes­sio­na­li­tät für ihre wich­tige Aufgabe mit­brin­gen. Das HACC hat das Poten­zial, sich zu einem echten „game changer“ zu ent­wi­ckeln: Die Aus­sicht darauf, nicht nur der Kor­rup­tion über­führt zu werden, sondern sich dafür auch juris­tisch ver­ant­wor­ten zu müssen, ent­fal­tet bereits jetzt schon seine (prä­ven­tive) Wirkung, denn einige lau­fende Ver­fah­ren werden aktuell hastig vor­an­ge­trie­ben, damit die Fälle nicht vor dem HACC landen.

Zudem will Selen­skyj die Gene­ral­staats­an­walt­schaft rundum per­so­nell erneu­ern, inklu­sive eines Wech­sels der Leitung. Der äußerst unpo­pu­läre Gene­ral­staats­an­walt Jurij Luzenko gilt vielen eher als Teil des Pro­blems als der Lösung, wenn es um hoch­ran­gige Kor­rup­ti­ons­fälle geht. Den Leiter der inef­fi­zi­en­ten und poli­tisch instru­men­ta­li­sier­ten Natio­na­len Agentur zur Kor­rup­ti­ons­prä­ven­tion (NACP), die unter anderem die elek­tro­ni­schen Ver­mö­gens­de­kla­ra­tio­nen hoch­ran­gi­ger Beamter auf Unre­gel­mä­ßig­kei­ten kon­trol­lie­ren soll (dies fak­tisch jedoch sabo­tiert), will Selen­skyj eben­falls aus­tau­schen. Das würde die insti­tu­tio­nelle Infra­struk­tur zur effek­ti­ven Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung stärken.

Die Gret­chen­frage ist: Will Selen­skyj die sich ihm bie­tende Gele­gen­heit nutzen?

Wie bei vielen ehr­gei­zi­gen Reform­pro­gram­men gibt es auch in der Ukraine ein „Window of Oppor­tu­nity“, in dem die Umset­zung von Refor­men statt­fin­den muss, wenn diese ihre Wirkung ent­fal­ten sollen. So war es nach der Orangen Revo­lu­tion und nach der Revo­lu­tion der Würde, als jeweils die größten Reform­fort­schritte erzielt wurden.

Die schlechte Nach­richt: Wird dieser Zeit­punkt, der sich nicht genau fest­le­gen lässt, nicht genutzt, wird es immer schwie­ri­ger, Refor­men durch­zu­set­zen, wie man anhand der schlep­pen­den Reform­pro­zesse in der Ukraine in den letzten 2–3 Jahren ablesen kann.

Die gute Nach­richt: Selen­skyj bleibt ein halbes, viel­leicht ein ganzes Jahr Zeit. Und in diese Zeit fallen die beiden oben erwähn­ten Aspekte zusam­men: Selen­skyjs Leute werden in Regie­rung und Par­la­ment hinter ihm stehen und seine Anti­kor­rup­ti­ons­agenda unter­stüt­zen. Und sollte es (eher später als früher, da es oft kom­pli­ziert ist, Kor­rup­tion juris­tisch nach­zu­wei­sen) erste rechts­kräf­tige Ver­ur­tei­lun­gen „großer Fische“ geben, wäre das ein großer Fort­schritt für die Ukraine, denn fünf Jahre nach dem Maidan sitzen immer noch keine rang­ho­hen Beamten für ihre Kor­rup­ti­ons­de­likte hinter Gittern.

Die Prä­si­den­ten Juscht­schenko (nach der Orangen Revo­lu­tion) und Poro­schenko (nach der Revo­lu­tion der Würde) hatten zwar eben­falls kurze Gele­gen­heits­fens­ter für Refor­men. Aller­dings gab es damals weder eine effek­tive Infra­struk­tur zur Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung, noch einen ver­gleich­ba­ren Eli­ten­wech­sel: Ein Groß­teil der Par­la­men­ta­rier waren alt­ein­ge­ses­sene „Biz­nes­meny“, die vor­ran­gig wegen ihrer Geschäfts­in­ter­es­sen in der Politik waren. Auch hatten beide Prä­si­den­ten nicht so große Frak­tio­nen in der Rada hinter sich, wie Selen­skyj laut aktu­el­len Umfra­gen zu den vor­ge­zo­ge­nen Par­la­ments­wah­len am 21. Juli wohl haben wird – sogar eine abso­lute Mehr­heit ist nicht aus­ge­schlos­sen. Im semi­prä­si­den­ti­el­len System der Ukraine ist der Prä­si­dent vor allem dann mächtig, wenn er über eine große Par­la­ments­frak­tion verfügt (wie Kut­schma oder Janu­ko­wytsch). Poro­schenko und vor allem Juscht­schenko waren stets auf andere Par­teien ange­wie­sen, mit denen sie viel­fach im Clinch lagen – was Refor­men erschwerte.

Somit stehen Selen­skyj mit der neu­ge­wähl­ten Rada und dem Obers­ten Anti­kor­rup­ti­ons­ge­richt nach der Som­mer­pause zwei Schlüs­sel­in­sti­tu­tio­nen zur Ver­fü­gung, mit denen er seine Anti­kor­rup­ti­ons­po­li­tik vor­an­trei­ben kann – vor­aus­ge­setzt, er meint es damit ernst. Einige seiner bis­he­ri­gen Schritte, wie die Ernen­nung von Maxim Nef­yo­dov zum Chef der als noto­risch korrupt gel­ten­den Zoll­be­hörde, deuten zumin­dest darauf hin. Nef­yo­dov war als Vize­mi­nis­ter für wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung für die Ein­füh­rung des elek­tro­ni­schen Beschaf­fungs­sys­tems „Pro­zorro“ ver­ant­wort­lich, das dem Staat seit 2016 mehr als 2,5 Mil­li­ar­den US-Dollar ein­sparte, und will den ukrai­ni­schen Zoll nun eben­falls revolutionieren.

Und selbst wenn Selen­skyj kein genui­nes Inter­esse an der Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung haben sollte: Der Druck der Zivil­ge­sell­schaft, die Selen­skyj in weiten Teilen kri­ti­scher gegen­über­steht als Poro­schenko, sowie der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft, auf deren finan­zi­elle Hilfe die Ukraine ange­sichts mil­li­ar­den­schwe­rer Kre­dit­rück­zah­lun­gen in den nächs­ten zwei Jahren massiv ange­wie­sen sein wird, lastet auf ihm. Diese exter­nen und inter­nen Akteure werden, wie schon unter Poro­schenko, in gemein­sam koor­di­nier­ten Aktio­nen des erfolg­reich erprob­ten „Sand­wich-Modells“ die Umset­zung wei­te­rer Anti­kor­rup­ti­ons­re­for­men einfordern.

Selen­skyj als Showman lebt davon, dass das Publi­kum ihn liebt. Seinen immensen gesell­schaft­li­chen Ver­trau­ens­vor­schuss wird nicht leicht­fer­tig ver­spie­len wollen. Und da er vor­ran­gig an seinen Erfol­gen im Kampf gegen die Kor­rup­tion gemes­sen werden wird und seine Popu­la­ri­tät schnell sinken würde, wenn er diesen nicht in Angriff nimmt, stehen die Chancen tat­säch­lich nicht schlecht, dass dieser Anlauf, die poli­ti­sche und die All­tags­kor­rup­tion in der Ukraine ein­zu­däm­men, erfolg­rei­cher sein könnte als die bisherigen.

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