Ungleiches Kräftemessen um den ukrainischen Rechtsstaat
Zwei Jahre nach dem Tod von Kateryna Handsjuk hat sich gezeigt, dass die Aufklärungsarbeit der ukrainischen Zivilgesellschaft offenbar das einzige Mittel gegen korrupte Strukturen in Justiz und Politik ist. Eine Analyse von Lennart Jürgensen
Heute vor zwei Jahren starb die zivilgesellschaftliche Aktivistin und Lokalpolitikerin Kateryna Handsjuk an den Folgen eines Mordanschlages. Sie engagierte sich in ihrer Heimatstadt Cherson im Südwesten der Ukraine gegen Korruption und machte auf zahlreiche Korruptionsfälle aufmerksam. Die Vetternwirtschaft der lokalen Behörden und der Polizei prangerte sie öffentlich an. In einem besonders brisanten Korruptionsfall, bei dem es vordergründig um die illegale Abholzung eines Naturschutzgebiets ging, konnte Handsjuk beweisen, dass hohe Repräsentanten des Stadtrats und des Chersoner Gebietsrates in den Fall verwickelt sind.
Durch das Publikmachen dieser Missstände wurde Handsjuk im Juli 2018 Opfer eines politischen Mordes und starb an den Folgen eines Angriffs mit Schwefelsäure, der knapp 40 Prozent ihres Körpers verätzte. In der Folge gründeten Aktivistinnen und Freunde von Handsjuk die Initiative „Wer hat Katja Handsjuk auf dem Gewissen?“ [wörtlich übersetzt „Wer hat Katja Handsjuk bestellt?“], die sich unnachgiebig für die lückenlose Aufklärung des Mordes einsetzt.
Die Initiative kann seitdem beachtliche Erfolge vorweisen, die jedoch nur durch eigene Recherchen und beständigen Druck auf die Strafverfolgungsbehörden möglich wurden.
Nachdem die Initiative die Verstrickungen einflussreicher Lokalpolitiker in den Fall veröffentlicht hatte, nutzten diese ihre Machtpositionen aus, um Spuren mit Hilfe der lokalen Polizei zu verwischen und die Ermittlungen auf nationaler Ebene zu verschleppen. Dazu gehört Wladyslaw Manher, gegenwärtig noch Vorsitzender des Gebietsrates der Chersonsker Region, der mittlerweile als einer der Auftraggeber des Mordes auf der Anklagebank sitzt. Neben ihm muss sich sein Handlanger und Organisator des Anschlages, Oleksij Lewin, ebenfalls vor Gericht verantworten.
Ihor Pawlowskyj, der als Kontaktmann zwischen den Mittätern und den Auftraggebern agierte, wurde bereits 2019 im Austausch für Informationen über weitere Täter zu einer milden Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt. Er gestand außerdem, Falschaussagen getätigt zu haben, weil er und seine Familie von Manher bedroht worden seien. Durch die Aussagen von Pawlowskyj und weiteren Tätern im Oktober hat sich der Tatverdacht gegen Lewin und Manher erhärtet. Da sich Manher für die Lokalwahlen für das Chersoner Gebiet im Oktober dieses Jahres nicht mehr aufstellen ließ, wird er seinen Posten nicht mehr missbrauchen können, um sich den Gerichtsverhandlungen zu entziehen. Dafür versuchen Manhers und Lewins Anwälte, durch absichtliche Verspätungen bei gerichtlichen Anhörungen und durch die Verbreitung falscher Fakten über die Ermittlungen den Prozess weiter zu verzögern.
Weitere mittelbare Täter des Mordes konnten einer Strafverfolgung bisher erfolgreich entgehen. Die Aktivisten rund um die Initiative für Kateryna Handsjuk beklagen, dass sich Auftraggeber, wie der von Poroschenko entlassene stellvertretende Gouverneur der Region Cherson Jewhen Ryschtschuk, durch ihre Netzwerke schnell wieder an einflussreiche Posten gekommen seien, die sie zur Vertuschung ihrer Verwicklung in den Fall nutzten. Demnach soll Ryschtschuk dank politischer Absprachen hauptsächlich mit der Partei Sluha Narodu von Präsident Selenskyj nur schwache Gegenkandidaten aufgestellt bekommen haben. Nachdem ihm der Einzug in die Werchowna Rada durch das Bekanntwerden dieser Taktik bei den Parlamentswahlen 2019 nicht gelang, wurde er nun bei den Lokalwahlen zum Vorsitzenden des Rajons Oleschkiwskyj in Cherson gewählt. Nach Angaben der Initiative hat eine kriminelle Gruppe, die sich an dem Mord an Handsjuk beteiligt haben soll, ausgerechnet in diesem Bezirk eine Vormachtstellung und praktiziert ihre illegalen Aktivitäten. Die Aktivisten sind daher überzeugt, dass kriminelle Klans mindestens auf lokaler Ebene mit der Partei von Präsident Selenskyj Absprachen getroffen hätten. Fraglich ist auch, ob es überhaupt zu einer strafrechtlichen Verfolgung von Ryschtschuk und weiteren Tätern kommen werde.
Der Fall Handsjuk steht repräsentativ für die Gewalt gegen zivilgesellschaftliche Aktivisten und Journalisten in der Ukraine. Allein 2019 gab es mindestens 37 Gewalttaten sowie zahlreiche Drohungen gegen zivilgesellschaftliche Aktivisten.
Die Analyse dieser Fälle hat gezeigt, dass die Auftraggeber solcher Angriffe mit der lokalen Staatsanwaltschaft sowie der Polizei eng zusammenarbeiten und sehr gut in den politischen Eliten vernetzt sind. Sie nehmen dabei auch direkten Einfluss auf die Strafverfolgungsbehörden und unterminieren den unabhängigen Rechtsstaat. Bis heute wurde kein einziges rechtskräftiges Urteil gegen Auftraggeber eines politischen Mordes gefällt. Sollte dies im Fall Handsjuk geschehen, so wäre das ein Meilenstein für den ukrainischen Rechtsstaat. Gleichzeitig hat sich jedoch gezeigt, dass die Strafverfolgungsbehörden an einer Aufklärung kaum interessiert sind und ausschließlich auf den unermüdlichen Druck der Zivilgesellschaft reagieren. Unverständlicherweise hat Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa die Anklage gegen Manher und Lewin bereits erhoben, obwohl die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. Eine Verschleppung des Prozesses oder sogar ein Freispruch für die Mörder von Handsjuk sind daher weiterhin denkbare Szenarien.
Dass die Ukraine kein unabhängiges Justizsystem hat, ist kürzlich durch ein Urteil des Verfassungsgerichts über das Antikorruptionsbüro (NABU) erneut deutlich geworden. Das Gericht erklärte das Gesetz, Einkünfte von Staatsbediensteten offenzulegen, für nichtig und die Kompetenzen des NABUs für verfassungswidrig. Kritiker werfen den Verfassungsrichtern vor, das Urteil aus persönlichen Beweggründen gefällt zu haben. Beispielsweise soll der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Oleksandr Tupyzkyj, Eigentümer kostspieliger Immobilien sein und war bisher verpflichtet, sein Einkommen offenzulegen. Die offensichtlich persönliche Motivation hat viele Aktivisten aus der Zivilgesellschaft wieder auf die Straßen getrieben und macht deutlich, dass das Justizsystem sowohl auf lokaler als auch auf höchster Ebene von korrupten Strukturen und persönlichen Interessen dominiert wird.
Die Aktivistin und Mitbegründerin der Initiative „Wer hat Katja Handsjuk auf dem Gewissen?“, Maryna Chromych, beschreibt, weshalb es dennoch essentiell sei, sich für ein unabhängiges Justizsystem einzusetzen: „In meinem Land besteht ein Justizsystem, von dem ich weiß, dass es schlecht und im Fall von Katja Handsjuk ungerecht ist. Da das System komplett korrumpiert und von dem politischen Willen einzelner Personen abhängig ist, sind wir nicht einmal sicher, ob es überhaupt zu einem Urteil kommen wird. Wir können auch nichts daran ändern, dass die Generalstaatsanwältin die Anklage bereits eingereicht hat. Aber ich will, dass das System die Mörder meiner Freundin hinter Gittern bringt. Es soll für die Bürger seines Landes arbeiten und nicht für Oligarchen oder Kriminelle. Ich möchte in einem besseren Land leben, also arbeite ich hart daran, dies mit zu errichten. Wenn du ein Haus haben möchtest, baust du es dir am besten selbst. Das gleiche gilt für die Etablierung einer Demokratie. Die Ukraine ist mein Heimatland, und ich möchte hier leben. Deswegen kämpfe ich für Gerechtigkeit und setze mich unbeirrt für die Sache [Handsjuks] in der Hoffnung ein, dass sich das System eines Tages ändern wird.“
Der ungebrochene Wille der Aktivistinnen wird ihnen hoffentlich Recht geben. Zu dem zweiten Todestag von Kateryna Handsjuk riefen sie heute in mehreren Städten der Ukraine zu Demonstrationen auf.
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