Unglei­ches Kräf­te­mes­sen um den ukrai­ni­schen Rechtsstaat

© Danil Shamkin /​ Imago Images

Zwei Jahre nach dem Tod von Kateryna Hand­sjuk hat sich gezeigt, dass die Auf­klä­rungs­ar­beit der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft offen­bar das einzige Mittel gegen kor­rupte Struk­tu­ren in Justiz und Politik ist. Eine Analyse von Lennart Jürgensen

Heute vor zwei Jahren starb die zivil­ge­sell­schaft­li­che Akti­vis­tin und Lokal­po­li­ti­ke­rin Kateryna Hand­sjuk an den Folgen eines Mord­an­schla­ges. Sie enga­gierte sich in ihrer Hei­mat­stadt Cherson im Süd­wes­ten der Ukraine gegen Kor­rup­tion und machte auf zahl­rei­che Kor­rup­ti­ons­fälle auf­merk­sam. Die Vet­tern­wirt­schaft der lokalen Behör­den und der Polizei pran­gerte sie öffent­lich an. In einem beson­ders bri­san­ten Kor­rup­ti­ons­fall, bei dem es vor­der­grün­dig um die ille­gale Abhol­zung eines Natur­schutz­ge­biets ging, konnte Hand­sjuk bewei­sen, dass hohe Reprä­sen­tan­ten des Stadt­rats und des Cher­soner Gebiets­ra­tes in den Fall ver­wi­ckelt sind.

Durch das Publik­ma­chen dieser Miss­stände wurde Hand­sjuk im Juli 2018 Opfer eines poli­ti­schen Mordes und starb an den Folgen eines Angriffs mit Schwe­fel­säure, der knapp 40 Prozent ihres Körpers ver­ätzte. In der Folge grün­de­ten Akti­vis­tin­nen und Freunde von Hand­sjuk die Initia­tive „Wer hat Katja Hand­sjuk auf dem Gewis­sen?“ [wört­lich über­setzt „Wer hat Katja Hand­sjuk bestellt?“], die sich unnach­gie­big für die lücken­lose Auf­klä­rung des Mordes einsetzt.

Die Initia­tive kann seitdem beacht­li­che Erfolge vor­wei­sen, die jedoch nur durch eigene Recher­chen und bestän­di­gen Druck auf die Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den möglich wurden. 

Nachdem die Initia­tive die Ver­stri­ckun­gen ein­fluss­rei­cher Lokal­po­li­ti­ker in den Fall ver­öf­fent­licht hatte, nutzten diese ihre Macht­po­si­tio­nen aus, um Spuren mit Hilfe der lokalen Polizei zu ver­wi­schen und die Ermitt­lun­gen auf natio­na­ler Ebene zu ver­schlep­pen. Dazu gehört Wla­dys­law Manher, gegen­wär­tig noch Vor­sit­zen­der des Gebiets­ra­tes der Cher­sons­ker Region, der mitt­ler­weile als einer der Auf­trag­ge­ber des Mordes auf der Ankla­ge­bank sitzt. Neben ihm muss sich sein Hand­lan­ger und Orga­ni­sa­tor des Anschla­ges, Oleksij Lewin, eben­falls vor Gericht verantworten.

Ihor Paw­low­skyj, der als Kon­takt­mann zwi­schen den Mit­tä­tern und den Auf­trag­ge­bern agierte, wurde bereits 2019 im Aus­tausch für Infor­ma­tio­nen über weitere Täter zu einer milden Haft­strafe von zwei Jahren ver­ur­teilt. Er gestand außer­dem, Falsch­aus­sa­gen getä­tigt zu haben, weil er und seine Familie von Manher bedroht worden seien. Durch die Aus­sa­gen von Paw­low­skyj und wei­te­ren Tätern im Oktober hat sich der Tat­ver­dacht gegen Lewin und Manher erhär­tet. Da sich Manher für die Lokal­wah­len für das Cher­soner Gebiet im Oktober dieses Jahres nicht mehr auf­stel­len ließ, wird er seinen Posten nicht mehr miss­brau­chen können, um sich den Gerichts­ver­hand­lun­gen zu ent­zie­hen. Dafür ver­su­chen Manhers und Lewins Anwälte, durch absicht­li­che Ver­spä­tun­gen bei gericht­li­chen Anhö­run­gen und durch die Ver­brei­tung fal­scher Fakten über die Ermitt­lun­gen den Prozess weiter zu verzögern.

Weitere mit­tel­bare Täter des Mordes konnten einer Straf­ver­fol­gung bisher erfolg­reich ent­ge­hen. Die Akti­vis­ten rund um die Initia­tive für Kateryna Hand­sjuk bekla­gen, dass sich Auf­trag­ge­ber, wie der von Poro­schenko ent­las­sene stell­ver­tre­tende Gou­ver­neur der Region Cherson Jewhen Ryscht­schuk, durch ihre Netz­werke schnell wieder an ein­fluss­rei­che Posten gekom­men seien, die sie zur Ver­tu­schung ihrer Ver­wick­lung in den Fall nutzten. Demnach soll Ryscht­schuk dank poli­ti­scher Abspra­chen haupt­säch­lich mit der Partei Sluha Narodu von Prä­si­dent Selen­skyj nur schwa­che Gegen­kan­di­da­ten auf­ge­stellt bekom­men haben. Nachdem ihm der Einzug in die Wer­chowna Rada durch das Bekannt­wer­den dieser Taktik bei den Par­la­ments­wah­len 2019 nicht gelang, wurde er nun bei den Lokal­wah­len zum Vor­sit­zen­den des Rajons Olesch­kiw­skyj in Cherson gewählt. Nach Angaben der Initia­tive hat eine kri­mi­nelle Gruppe, die sich an dem Mord an Hand­sjuk betei­ligt haben soll, aus­ge­rech­net in diesem Bezirk eine Vor­macht­stel­lung und prak­ti­ziert ihre ille­ga­len Akti­vi­tä­ten. Die Akti­vis­ten sind daher über­zeugt, dass kri­mi­nelle Klans min­des­tens auf lokaler Ebene mit der Partei von Prä­si­dent Selen­skyj Abspra­chen getrof­fen hätten. Frag­lich ist auch, ob es über­haupt zu einer straf­recht­li­chen Ver­fol­gung von Ryscht­schuk und wei­te­ren Tätern kommen werde.

Der Fall Hand­sjuk steht reprä­sen­ta­tiv für die Gewalt gegen zivil­ge­sell­schaft­li­che Akti­vis­ten und Jour­na­lis­ten in der Ukraine. Allein 2019 gab es min­des­tens 37 Gewalt­ta­ten sowie zahl­rei­che Dro­hun­gen gegen zivil­ge­sell­schaft­li­che Aktivisten. 

Die Analyse dieser Fälle hat gezeigt, dass die Auf­trag­ge­ber solcher Angriffe mit der lokalen Staats­an­walt­schaft sowie der Polizei eng zusam­men­ar­bei­ten und sehr gut in den poli­ti­schen Eliten ver­netzt sind. Sie nehmen dabei auch direk­ten Ein­fluss auf die Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den und unter­mi­nie­ren den unab­hän­gi­gen Rechts­staat. Bis heute wurde kein ein­zi­ges rechts­kräf­ti­ges Urteil gegen Auf­trag­ge­ber eines poli­ti­schen Mordes gefällt. Sollte dies im Fall Hand­sjuk gesche­hen, so wäre das ein Mei­len­stein für den ukrai­ni­schen Rechts­staat. Gleich­zei­tig hat sich jedoch gezeigt, dass die Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den an einer Auf­klä­rung kaum inter­es­siert sind und aus­schließ­lich auf den uner­müd­li­chen Druck der Zivil­ge­sell­schaft reagie­ren. Unver­ständ­li­cher­weise hat Gene­ral­staats­an­wäl­tin Iryna Wene­dik­towa die Anklage gegen Manher und Lewin bereits erhoben, obwohl die Ermitt­lun­gen noch nicht abge­schlos­sen sind. Eine Ver­schlep­pung des Pro­zes­ses oder sogar ein Frei­spruch für die Mörder von Hand­sjuk sind daher wei­ter­hin denk­bare Szenarien.

Dass die Ukraine kein unab­hän­gi­ges Jus­tiz­sys­tem hat, ist kürz­lich durch ein Urteil des Ver­fas­sungs­ge­richts über das Anti­kor­rup­ti­ons­büro (NABU) erneut deut­lich gewor­den. Das Gericht erklärte das Gesetz, Ein­künfte von Staats­be­diens­te­ten offen­zu­le­gen, für nichtig und die Kom­pe­ten­zen des NABUs für ver­fas­sungs­wid­rig. Kri­ti­ker werfen den Ver­fas­sungs­rich­tern vor, das Urteil aus per­sön­li­chen Beweg­grün­den gefällt zu haben. Bei­spiels­weise soll der Vor­sit­zende des Ver­fas­sungs­ge­richts, Olek­sandr Tupyz­kyj, Eigen­tü­mer kost­spie­li­ger Immo­bi­lien sein und war bisher ver­pflich­tet, sein Ein­kom­men offen­zu­le­gen. Die offen­sicht­lich per­sön­li­che Moti­va­tion hat viele Akti­vis­ten aus der Zivil­ge­sell­schaft wieder auf die Straßen getrie­ben und macht deut­lich, dass das Jus­tiz­sys­tem sowohl auf lokaler als auch auf höchs­ter Ebene von kor­rup­ten Struk­tu­ren und per­sön­li­chen Inter­es­sen domi­niert wird.

Die Akti­vis­tin und Mit­be­grün­de­rin der Initia­tive „Wer hat Katja Hand­sjuk auf dem Gewis­sen?“, Maryna Chro­mych, beschreibt, weshalb es dennoch essen­ti­ell sei, sich für ein unab­hän­gi­ges Jus­tiz­sys­tem ein­zu­set­zen:  „In meinem Land besteht ein Jus­tiz­sys­tem, von dem ich weiß, dass es schlecht und im Fall von Katja Hand­sjuk unge­recht ist. Da das System kom­plett kor­rum­piert und von dem poli­ti­schen Willen ein­zel­ner Per­so­nen abhän­gig ist, sind wir nicht einmal sicher, ob es über­haupt zu einem Urteil kommen wird. Wir können auch nichts daran ändern, dass die Gene­ral­staats­an­wäl­tin die Anklage bereits ein­ge­reicht hat. Aber ich will, dass das System die Mörder meiner Freun­din hinter Gittern bringt. Es soll für die Bürger seines Landes arbei­ten und nicht für Olig­ar­chen oder Kri­mi­nelle. Ich möchte in einem bes­se­ren Land leben, also arbeite ich hart daran, dies mit zu errich­ten. Wenn du ein Haus haben möch­test, baust du es dir am besten selbst. Das gleiche gilt für die Eta­blie­rung einer Demo­kra­tie. Die Ukraine ist mein Hei­mat­land, und ich möchte hier leben. Des­we­gen kämpfe ich für Gerech­tig­keit und setze mich unbe­irrt für die Sache [Hand­sjuks] in der Hoff­nung ein, dass sich das System eines Tages ändern wird.“

Der unge­bro­chene Wille der Akti­vis­tin­nen wird ihnen hof­fent­lich Recht geben. Zu dem zweiten Todes­tag von Kateryna Hand­sjuk riefen sie heute in meh­re­ren Städten der Ukraine zu Demons­tra­tio­nen auf.

Textende

Portrait von Lennart Jürgensen

Lennart Jür­gen­sen ist Mas­ter­stu­dent am Ost­eu­ro­pa­in­sti­tut der Freien Uni­ver­si­tät Berlin. Zu seinen wis­sen­schaft­li­chen Schwer­punk­ten gehören Spra­chen- und Geschichts­po­li­tik im post-sowje­ti­schen Raum.

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