„Wich­ti­ger als unser eigenes Leben“ Der Säu­re­an­schlag auf Katja Hand­sjuk ist auch nach einem Jahr ungesühnt

Am 31. Juli 2018 wurde die ukrai­ni­sche Akti­vis­tin Katja Hand­sjuk in Cherson im Süden der Ukraine mit einem Liter kon­zen­trier­ter Schwe­fel­säure über­gos­sen. Sie erlitt schwere Ver­bren­nun­gen und starb nach drei Monaten und elf Ope­ra­tio­nen im Kran­ken­haus. Ein Jahr nach dem Anschlag sind die Auf­trag­ge­ber noch immer nicht ermit­telt. Von Lennart Jürgensen

Für die Akti­vis­ten der Initia­tive „Wer hat den Mord an Katja Hand­sjuk bestellt?“ ist die Sach­lage ein­deu­tig: Lokale Poli­ti­ker aus der Region Cherson sind für den Mord ver­ant­wort­lich, da Katja Hand­sjuk die ille­gale Abhol­zung eines Waldes in Cherson auf­ge­deckt hat. Die Unter­su­chun­gen des Falls durch die ukrai­ni­schen Behör­den ziehen sich in die Länge und werden offen­sicht­lich auf allen Ebenen ver­schlei­ert. Lennart Jür­gen­sen hat mit der Akti­vis­tin Maryna Chro­mych aus der Initia­tive gespro­chen. Ihrer Meinung nach sabo­tiert die Gene­ral­staats­an­walt­schaft rund um Gene­ral­staats­an­walt Lut­senko die Ermitt­lun­gen und ist an der Auf­klä­rung des Falls nicht interessiert.

Maryna, stellen Sie sich bitte kurz vor. In welchem Ver­hält­nis standen Sie zu Katja Handsjuk?

Ich arbeite als Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­ra­te­rin und war mit Katja befreun­det. Ich war zwar nicht per­sön­lich sehr eng mit ihr befreun­det, dafür aber, wie wir auf Ukrai­nisch sagen, „pobra­tym“ [ver­brü­dert]. Das bedeu­tet, dass wir bestimmte poli­ti­sche Werte geteilt haben. Wir kannten uns seit 2006 und waren beide als Jugend­lei­te­rin­nen in unseren kleinen Hei­mat­städ­ten aktiv. Obwohl wir aus sehr unter­schied­li­chen Regio­nen kommen, hatten wir mit ähn­li­chen Pro­ble­men in unseren Hei­mat­städ­ten zu kämpfen, so dass wir zusam­men viele Trai­nings und Semi­nare besucht haben, bei denen wir wegen begrenz­ter Finanz­mit­tel oft das Zimmer oder sogar das Bett teilen mussten. In diesen Nächten haben wir oft lange Dis­kus­sio­nen darüber geführt, wie wir unser Land ver­bes­sern können.

In der Folge fingen wir an uns Schwes­tern zu nennen. Ich habe nur einen leib­li­chen Bruder und habe niemals jeman­den als meine Schwes­ter bezeich­net, Katja habe ich aber meine „ältere Schwes­ter“ genannt, und sie mich ihre jüngere. Beson­ders in den letzten Jahren vor ihrem Tod hat sie eine beson­ders große Rolle in meinem Leben gespielt und das ist der Grund, warum ihr Tod für mich eine per­sön­li­che Tra­gö­die ist. Ich wünschte, es gäbe mehr Katja Hand­sjuks in unserem Land. Sie ist natür­lich nicht ersetz­bar und deshalb will ich, dass alle Per­so­nen, die mit dem Mord in Ver­bin­dung stehen, zur Rechen­schaft gezogen werden. Ich kann mir mein Leben nicht mehr vor­stel­len, ohne dass diese Gerech­tig­keit voll­zo­gen wird. Auch die Arbeit in unserer Initia­tive ist wich­ti­ger für mich als mein Job oder mein Pri­vat­le­ben, weil ich nicht in einem Land leben möchte, in dem solche Ver­bre­chen möglich sind und die ver­ant­wort­li­chen Per­so­nen ihrem Job wei­ter­hin nach­ge­hen können und auf freiem Fuß sind.

Die Schwe­fel­säure-Attacke auf Katja Hand­sjuk liegt genau ein Jahr zurück. Was ist seitdem pas­siert und wie gehen die Ermitt­lun­gen voran?

Was das Ver­bre­chen angeht, so wurde dies auf drei Ebenen orga­ni­siert. Auf der unters­ten Ebene stehen die Per­so­nen, die die Tat aus­ge­führt haben. Die Täter wurden zwar gefasst, haben aber im Aus­tausch für die Wei­ter­gabe von Infor­ma­tio­nen an die GPU [Gene­ral­staats­an­walt­schaft der Ukraine] nur kurze Haft­stra­fen bekom­men, maximal sechs­ein­halb Jahre. Auf der mitt­le­ren Ebene befin­den sich ver­schie­dene Mit­tels­män­ner und Orga­ni­sa­to­ren des Mordes. Und auf der höchs­ten Ebene befin­den sich Per­so­nen, die den Mord in Auftrag gegeben haben. Im Ukrai­ni­schen sagen wir dazu „Wer hat den Mord bestellt?“. Das ist das größte Problem, mit dem wir uns kon­fron­tiert sehen: Per­so­nen, die einen Mord an Akti­vis­ten aus der Zivil­ge­sell­schaft in der Ukraine „bestel­len“, werden nicht zur Ver­ant­wor­tung gezogen. Oftmals liegt das daran, dass diese Per­so­nen ein öffent­li­ches Amt wie das Bür­ger­meis­ter­amt oder die Poli­zei­di­rek­tion beklei­den. Für uns ist es beson­ders wichtig, dass diese Per­so­nen auf der höchs­ten Ebene bestraft werden.

In Katjas Fall sind wir über­zeugt, dass drei Per­so­nen für den Auf­trags­mord ver­ant­wort­lich sind: Wla­dys­law Manher, Vor­sit­zen­der des Gebiets­ra­tes der Cher­sons­ker Region, der ehe­ma­lige stell­ver­tre­tende Gou­ver­neur der Region Jewhen Ryscht­schuk und der eben­falls mitt­ler­weile zurück­ge­tre­tene Chef der Regio­nal­ver­wal­tung der Cher­sons­ker Region Andrij Hordjejew.

Wla­dys­law Manher ist immer noch im Amt und hat daher wei­ter­hin Ein­fluss auf die regio­na­len Insti­tu­tio­nen und Gerichte. Er ließ sich sogar von einem lokalen Kran­ken­haus in Cherson eine Krank­heits­be­schei­ni­gung aus­stel­len, um von einer Gerichts­vor­la­dung nach Kyjiw befreit zu werden. Aller­dings wird immer noch gegen ihn ermit­telt, was uns die Hoff­nung gibt, dass er seine Strafe bekommt. Gegen die anderen beiden hin­ge­gen wird nicht ermit­telt. Wir haben die Infor­ma­tion, dass die GPU Bestechungs­gel­der von Ryscht­schuk und Hord­je­jew ange­nom­men haben soll, um keine Ermitt­lun­gen gegen sie voranzutreiben.

Solange der jetzige Gene­ral­staats­an­walt Lut­senko und bestimmte SBU-Beamte im Amt sind, wird sich in dem Fall leider nicht viel tun. Wir haben daher die Hoff­nung, wenn sich das System nach den Wahlen ver­än­dern sollte und diese Per­so­nen ersetzt werden, dass der Fall auf­ge­klärt werden kann.

In welcher Form war Katja Hand­sjuk als Akti­vis­tin vor Ort in Cherson engagiert?

Zunächst muss man sagen, dass Cherson eine Stadt ist, in der es beson­ders viele Pro­bleme gibt. Für solche Städte sind Per­so­nen wie Katja ein wirk­li­cher Licht­blick. Sie hat auf ihrer Face­book­seite über Pro­bleme und Machen­schaf­ten in der Stadt berich­tet. Viele Bewoh­ner der Stadt und auch lokale Nach­rich­ten lasen ihre Posts. Ihre Art und Weise, wie sie über die Pro­bleme schrieb, waren immer beson­ders und sehr unter­halt­sam, da sie nicht vor ordi­nä­ren Wörtern zurück­schreckte. Sie nannte die Pro­bleme beim Namen.

In der Ukraine herrscht das große Problem, dass die soge­nannte Polizei stiehlt und sich berei­chert. Dies trifft in beson­de­rem Maße auf Cherson zu, und Katja machte das zu ihrem Thema. Ihr wurden auch Bestechungs­gel­der ange­bo­ten, einmal von einem ört­li­chen Poli­zei­an­ge­hö­ri­gen. Nachdem sie ihm eine Abfuhr erteilt hatte, postete sie dies auch sofort auf Face­book. Fälle wie diese sind in der Ukraine leider sehr häufig. Per­so­nen die Bestechungs­gel­der anbie­ten, sind meist in den 1990er Jahren an ihre Posten gekom­men und daran gewöhnt, ihre Posi­tio­nen zu nutzen, um sich über Bestechungs­gel­der zu berei­chern. Katja geriet des­we­gen mit vielen Offi­zi­el­len aneinander.

Man könnte auch sagen, dass da unter­schied­li­che Welten auf­ein­an­der­prall­ten, da Katja eine Person der „neuen Welt“ war. In dieser Welt wollen wir alle ohne Bestechungs­gel­der und per­sön­li­che Berei­che­rung leben. 

Was den Kor­rup­ti­ons­fall rund um den Wald betrifft, ist es nur einer von vielen Fällen, über den sie aus­führ­lich berich­tet hat. Abge­se­hen von den poli­ti­schen Fällen, über die sie schrieb, war Katja große Lokal­pa­trio­tin. Sie hat an der Erneue­rung des lokalen Fuß­ball­klub Krystal Cherson mit­ge­ar­bei­tet, sie setzte sich dafür ein, dass der natio­nale Vor­ent­scheid zum Euro­vi­sion Song Contest 2017 in Cherson statt­fand. Ferner arbei­tete sie in einem Projekt der UN mit, das sich um Bin­nen­mi­gran­ten kümmert, und ver­suchte, Klei­dung für bedürf­tige Kinder in der Stadt über Face­book zu beschaf­fen. Viele denken, dass es nicht wichtig ist, so etwas wie den lokalen Fuß­ball­klub wie­der­auf­zu­bauen. Sie ver­stand aber, dass so etwas bedeu­tende Aus­wir­kun­gen für die Lokal­be­völ­ke­rung haben kann. Sie war niemals eine Lei­te­rin, die sich auf der Arbeit der anderen aus­ruhte. Sie war wirk­lich eine Per­sön­lich­keit, die eine Poli­ti­ke­rin von morgen hätte sein können.

Auf Ihren Ver­an­stal­tun­gen und Demons­tra­tio­nen kommen Akti­vis­ten mit sehr unter­schied­li­chen poli­ti­schen Über­zeu­gun­gen zusam­men. Wie ist das möglich und wie arbei­ten Sie zusammen?

Wir haben im Sep­tem­ber 2018 unsere Initia­tive gegrün­det und waren nur eine kleine Akti­ven­gruppe. Zu einer brei­te­ren Bewe­gung wurde es erst, als wir anfin­gen, mit dieser Gruppe auf das Ver­bre­chen auf­merk­sam zu machen und das sys­te­ma­ti­sche Problem dahin­ter zu erklä­ren. Es war ziem­lich schwie­rig das an die Gesell­schaft her­an­zu­tra­gen. Wir mussten anfangs erstmal erzäh­len, wer Katja Hand­sjuk über­haupt ist und dass sie mit Schwe­fel­säure über­gos­sen wurde.

Dann an einem Abend wurden drei Akti­vis­ten ange­grif­fen, einer von ihnen ist Oleh Michaj­lyk aus Odesa. Am glei­chen Abend haben wir noch einen Chat eröff­net, der jetzt wahr­schein­lich der wich­tigste Chat im gesam­ten Land ist (lacht). Alle Leute, die sich aktiv enga­gie­ren, sind in diesem Chat. Ich erin­nere mich noch genau, wir haben an einem Sams­tag­abend den Chat erstellt und am Sonn­tag­mor­gen dis­ku­tiert, was wir machen werden. Am glei­chen Abend haben wir uns bereits für eine Demons­tra­tion vor der Prä­si­di­al­ad­mi­nis­tra­tion ver­sam­melt und haben gefor­dert, dass der Prä­si­dent den Angrif­fen auf Akti­vis­ten Beach­tung schen­ken soll. Katja hat zu dieser Zeit leider ihre einzige und letzte Video­bot­schaft aus dem Kran­ken­haus auf­ge­nom­men. Hier ver­stan­den die Leute irgend­wie, dass das alles kein Spaß ist, und fingen an zu fragen, wie sich Poro­schenko und andere Poli­ti­ker zu dem Thema äußern. Und dann ver­ei­nig­ten sich die Leute hinter dieser Aktion. Bei anderen Aktio­nen kam es dann zwar vor, dass manche Akti­vis­ten nicht auf­tre­ten wollten, weil bestimmte andere Per­so­nen vor Ort waren. Ich ver­su­che aber immer zu erklä­ren, dass es Dinge gibt, die wich­ti­ger sind als solche Diskrepanzen.

Hat sich ihrer Meinung seit 2014 in der Zivil­ge­sell­schaft und in der Arbeit von poli­ti­schen Akti­vis­ten etwas ver­än­dert? Fühlen Sie irgend­eine Art von Druck, Gefahr oder Angst, weil Sie sich poli­tisch engagieren?

Genau das hat sich seit 2014 ver­än­dert: Ich habe keine Angst. 2014 konnten wir Janu­ko­wytsch aus dem Amt treiben. Hätte mir jemand 2012 gesagt, dass wir in zwei Jahren Janu­ko­wytsch ver­trei­ben werden, hätte ich mir das unter keinen Umstän­den vor­stel­len können. Da wir es 2014 geschafft haben, das von den „Regio­na­len“ [„Partei der Regio­nen“ des ehe­ma­li­gen Prä­si­den­ten Janu­ko­wytsch] errich­tete System zu stürzen, können wir jetzt auch alles andere errei­chen. Natür­lich sehen wir das nicht immer, da das System wei­ter­hin nicht voll­kom­men ist. Aber so etwas wie Angst vor irgend­wel­chen Poli­zis­ten oder dem „Berkut“ [Spe­zi­al­ein­heit der Polizei] haben wir nicht, auch wenn diese Ein­hei­ten vor fünf Jahren unsere Freunde und Bekann­ten getötet haben. Wir haben ver­stan­den, dass sich etwas geän­dert hat und wir das Land ver­än­dern können. Das ist für uns viel wich­ti­ger als unser eigenes Leben.

Was erwar­ten Sie von der neuen Regie­rung und dem neuen Präsidenten?

Ich habe gar keine Erwar­tun­gen. Meine Erfah­run­gen als poli­ti­sche Akti­vis­tin haben mich gelehrt, dass man nichts von ihnen erwar­ten sollte. Wenn man etwas ver­än­dern will, muss man sich an sie wenden und sie dazu zwingen, etwas zu ver­än­dern. Das Problem ist auch, dass viele Poli­ti­ker ihre Atti­tüde ver­än­dern, sobald sie im Amt sind. Auch diese Per­so­nen muss man immer wieder dazu auf­for­dern das zu tun, was sie lange gepre­digt haben. Deshalb erwarte ich absolut nichts von ihnen. Ich erwarte von der Zivil­ge­sell­schaft hin­ge­gen, ihre Lehren aus Katjas Fall zu ziehen, und sich zu engagieren.

Es reicht nicht aus, einmal für ein paar Monate auf den Maidan zu gehen, die Macht an jemand anderes zu über­ge­ben und dann zu erwar­ten, dass diese neuen Macht­ha­ber sich für das Wohl der Gesell­schaft ein­set­zen. So ist es bisher nicht gelau­fen. Dafür müssen wir noch ein paar Gene­ra­tio­nen erzie­hen und als Gesell­schaft neue Poli­ti­ker „her­an­züch­ten“.

Was das neue Par­la­ment angeht, so erwarte ich genauso wenig. Es gibt Per­so­nen, die 2014 ins Par­la­ment kamen. Manche davon erkenne ich heute nicht mehr, weil sie sich in eine schlechte Rich­tung ent­wi­ckelt haben. Es gibt auch posi­tive Bei­spiele, aber das sind leider nur sehr wenige. Wir als Gesell­schaft müssen diesen Per­so­nen auf die Finger schauen und ihnen sagen, dass es so nicht geht. Und des­we­gen werde ich auch den neuen Abge­ord­ne­ten schrei­ben. Einige kenne ich besser, andere schlech­ter, aber ich werden ihnen mit­tei­len, dass ich genau ver­fol­gen werde, wie sie arbei­ten und wofür sie im Par­la­ment stimmen. Und wenn ich mit ihren Abstim­mun­gen nicht zufrie­den bin, werde ich ihnen schrei­ben. Mög­li­cher­weise hält sie das davon ab, falsche Schritte zu wagen. Wenn wir als Gesell­schaft so arbei­ten, dann werden auch unsere Poli­ti­ker eine andere Denk­weise ent­wi­ckeln. Ich bin über­zeugt, dass wir als Zivil­ge­sell­schaft jetzt etwas ver­än­dern können und das hängt alles von uns selbst ab.

Textende

Portrait von Lennart Jürgensen

Lennart Jür­gen­sen ist Mas­ter­stu­dent am Ost­eu­ro­pa­in­sti­tut der Freien Uni­ver­si­tät Berlin. Zu seinen wis­sen­schaft­li­chen Schwer­punk­ten gehören Spra­chen- und Geschichts­po­li­tik im post-sowje­ti­schen Raum.

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