Poroschenkos letztes Vermächtnis?
Am 25. April wurde ein Sprachengesetz von der Werchowna Rada verabschiedet, das die Stellung des Ukrainischen als Staatssprache erneut unterstreicht, deren Gebrauch auf staatlicher Ebene vorschreibt und die Verwendung der russischen Sprache reduzieren soll. Eine Analyse von Lennart Jürgensen
Nach über 2.082 diskutierten Änderungsanträgen und einem wahren Sitzungsmarathon wurde kurz vor dem orthodoxen Osterwochenende im ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, das Gesetz „Über die Gewährleistung von Funktion und Anwendung des Ukrainischen als Staatssprache“ verabschiedet. Das neue Sprachengesetz sieht unter anderem vor, dass alle Staatsbediensteten Ukrainisch beherrschen und im Dienst verwenden müssen. Beamte und Abgeordnete, die sich in der Öffentlichkeit nicht daran halten, sollen laut Gesetz mit Strafen belegt werden. Die bereits bestehenden Quoten im Bereich der Massenmedien und Druckerzeugnisse wurden noch einmal zugunsten des Ukrainischen verschärft. So sollen landesweit ausgestrahlte TV-Sender zu 90 Prozent auf Ukrainisch senden, alle Webseiten sollen auch eine ukrainische Version aufweisen, die Hälfte des Angebots in Buch- und Zeitungsläden muss ukrainischsprachig sein. Print- und Online-Publikationen müssen jeweils auch eine ukrainische Version veröffentlichen, mit Ausnahme von solchen auf Krimtatarisch, Englisch oder anderen Sprachen der EU. Ferner müssen Antragsteller für die ukrainische Staatsbürgerschaft künftig eine Ukrainisch-Prüfung ablegen. Die „Beleidigung der ukrainischen Sprache“ sowie die Verhöhnung der ukrainischen Flagge oder Hymne können eine Haftstrafe von bis zu drei Jahren nach sich ziehen.
Dass ein Gesetz von solch gesellschaftspolitischer Reichweite kurz vor der Vereidigung des neuen Präsidenten durchs Parlament gebracht wurde, lässt darauf schließen, dass der scheidende Präsident Petro Poroschenko noch ein Vermächtnis hinterlassen und eine Weiche stellen wollte. Die Stärkung des Ukrainischen war Teil seines Wahlkampfslogans „Armee, Sprache, Glaube“, und vom bislang eher russischsprachigen Nachfolger Selenskyj ist in dieser Frage sicherlich weniger Nachdruck zu erwarten. Versuche der pro-russischen Opposition, die Unterzeichnung bis nach dem Amtsantritt Wolodymyr Selenskyjs zu verzögern, scheiterten. Wenige Tage vor der Amtseinführung Selenskyjs unterzeichnete Petro Poroschenko am 15. Mai das Sprachengesetz. Präsident Selenskyj kündigte an, dass Gesetz genau prüfen zu wollen. Seit seinem Amtsantritt äußerte er sich zurückhaltend über das Gesetz, was wahrscheinlich auch mit den am 21. Juli stattfindenden Parlamentswahlen zu tun hat.
Sprachenpolitik im Kontext des Krieges
Die Frage, wie die Ukraine mit ihrer de facto bestehenden Zweisprachigkeit umgeht, hat sich naturgemäß seit Beginn des Krieges im Donbas verschärft und spielt eine wesentliche Rolle bei der Betonung der nationalen Eigenständigkeit des Landes einerseits und im russischen Propagandakrieg andererseits. Für letzteren bietet sie idealen Stoff, um die Kyjiwer Führung als antirussisch, diskriminierend oder gar faschistisch darzustellen. So verbreiten russische Staatsmedien trotz der offensichtlichen Zweisprachigkeit häufig das Gerücht, dass der Gebrauch der russischen Sprache in der Ukraine gefährlich oder gar verboten sei. Sie reagieren bereits seit dem Sturz des ehemaligen Präsidenten Janukowitsch besonders empfindlich auf jegliche Gesetzesvorhaben zur Förderung des Ukrainischen und erzielen damit große Resonanz. Auch das russische Außenministerium reagierte auf das nun verabschiedete Sprachengesetz mit Ablehnung und bezeichnete es als skandalös. Und sogar deutsche Medien scheinen immer wieder den Duktus der Kreml-Propaganda zu übernehmen und sprechen auch aktuell wieder von einer Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung. Das ZDF etwa benannte eine kurze Mitteilung mit dem Titel „Ukraine will Russisch verdrängen“. Darin wird ausschließlich die Behauptung aufgestellt, dass die russische Sprache aus dem Alltag verdrängt werden solle, der Kontext des Gesetzes wird hingegen nicht erklärt. Dass das Gesetz den Gebrauch von Sprachen im privaten Raum und im religiösen Kontext gar nicht berührt, wird hier wie auch in den Kreml-Medien verschwiegen. Neben dem russischen Außenministerium äußerten sich auch andere internationale Vertreter und Institutionen zu dem Gesetz. Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó kritisierte die Verabschiedung des Gesetzes, da es die Rechte der ungarischen Minderheit in der Ukraine verletze. Er lege daher seine Hoffnungen auf den künftigen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, um das Verhältnis zwischen Ungarn und der Ukraine wieder zu verbessern. Ungarn hatte bereits eine nähere Zusammenarbeit der Ukraine mit der EU und NATO wegen der angeblichen Diskriminierung der ungarischen Minderheit im Westen der Ukraine blockiert. Die EU kündigte an, das Gesetz erst nach Inkrafttreten zu bewerten und forderte die Ukraine dazu auf, das Gesetz der Venedig-Kommission zur Bewertung vorzulegen.
Die allgemeine Förderung und Durchsetzung einer Staatssprache ist grundsätzlich ein Normalfall staatlicher Politik. In vielen Verfassungen ist eine Staats- und Verwaltungssprache für die allgemeine Staatskommunikation festgelegt. Die Besonderheit in der Ukraine liegt darin, dass die Zweisprachigkeit des Landes die flächendeckende Umsetzung einer Staatssprache besonders erschwert. Umfragen des Razumkow-Zentrums zufolge sehen 68 Prozent der Bevölkerung Ukrainisch als ihre Muttersprache an, 14 Prozent der Befragten Russisch, 17 Prozent geben beide Sprachen als Muttersprachen an. Im Alltag verstehen quasi alle Ukrainer beide Sprachen, die meisten sprechen auch beide und viele wechseln zwischen Russisch und Ukrainisch je nach Sprechsituation hin und her.
In der Tat gibt es gute Argumente für die Förderung des Ukrainischen. So könnte ein größerer Anteil an ukrainischsprachigen Veröffentlichungen den Einfluss der russischen Zensur auf dem Publikationsmarkt mindern. Bisher werden ausländische Publikationen, die von russischen Verlagshäusern ins Russische übersetzt werden, in der Regel übernommen und nicht kostspielige eigene Übersetzungen ins Russische innerhalb der Ukraine angefertigt. Damit finden aber auch zahlreiche durch Zensur veränderte Inhalte ihren Weg in die ukrainische Leserschaft. Durch Übersetzungen ins Ukrainische könnten solche Verzerrungen vermieden werden.
Eine andere sinnvolle Erwägung besteht darin, Chancengleichheit in einer multiethnischen Gesellschaft zu schaffen. Dies betrifft vor allem Minderheiten, die weder Russisch noch Ukrainisch, sondern etwa Ungarisch sprechen. Bereits 2017 wurde daher eine generelle Förderung des Ukrainischen in einer Schulreform festgehalten. Fundierte Ukrainisch-Kenntnisse sollen es allen Mitgliedern der Gesellschaft ermöglichen, Zugang zu staatlichen Universitäten zu bekommen oder eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst auszuüben. Nicht zuletzt kann ein Staat zu Recht erwarten, dass seine Bevölkerung bereit ist, die Landessprache zu erlernen ‒ genauso wie die deutsche Öffentlichkeit dies von Flüchtlingen oder ethnischen Minderheiten einfordert. Die Schulreform bestimmte etwa, dass Ukrainisch von 2020 an ab der fünften Klasse verpflichtende Unterrichtssprache ist, wobei der Unterricht teilweise auch in Sprachen der Europäischen Union abgehalten werden kann. Daran machte sich viel Kritik fest, denn das Russische wird so absehbar aus der Schule verbannt. Auch die Venedig-Kommission des Europarats kritisierte das Gesetz, da eine nicht ausreichende Berücksichtigung ethnischer Minderheiten zu unnötigen Spannungen in der Gesellschaft führen könnte.
Wenngleich also die Förderung einer Staatssprache an sich ein nachvollziehbares Ansinnen ist, schießt die ukrainische Sprachenpolitik möglicherweise in einigen Elementen übers Ziel hinaus. So ist vor allem fraglich, ob eine Bestrafung von Staatsbediensteten bei Nichtverwendung des Ukrainischen wirklich umsetzbar und zielführend ist. Es könnten in der Praxis Beamte auch im kleinen städtischen Postamt oder am Bahnhofsschalter angezeigt und bestraft werden, wenn sie Ukrainisch nicht verwenden. Solche Bestrafungen wären nicht zuletzt ein ergiebiges Futter für die russische Propaganda.
Warum das Ukrainische kein Dialekt des Russischen ist – eine historische Einordnung
In welcher Form auch immer sich die Sprach-Gesetzgebung in der Ukraine weiter entwickelt, sie trifft auf eine historisch gewachsene Gemengelage, die nähere Betrachtung verdient. Die Realität in der unabhängigen Ukraine ist heute ein weitgehend problemloses Nebeinanderexistieren des Ukrainischen und Russischen und einer aus dieser Koexistenz erwachsenen Mischsprache, dem sogenannten Surschyk. Die Verwendung variiert je nach Region. Vereinfacht gesagt, sind der Osten und Süden eher russischsprachig, während vor allem der Westen und das Zentrum der Ukraine ukrainischsprachig sind – die Grenzen sind fließend.
Die ukrainische Sprache gehört zusammen mit dem Belarussischen und dem Russischen zum Zweig der ostslawischen Sprachen (daneben existieren noch der westslawische Zweig, z.B. Polnisch, sowie der südslawische Zweig, z.B. Bulgarisch). Das Ukrainische und Russische existieren schon lange nebeneinander und haben durch gegenseitige Einflüsse viele sprachliche Gemeinsamkeiten. In Russland wird das Ukrainische dennoch bis heute zu Teilen als ein Dialekt des Russischen und nicht als eigene Sprache angesehen. Vertreter dieser Meinung ignorieren dabei allerdings den Fakt, dass es sich beim Ukrainischen um eine anerkannte Standardsprache handelt, die vieles nicht nur mit dem Russischen, sondern auch mit dem Polnischen und anderen slawischen Sprachen gemein hat. Auch auf kultureller Ebene floriert das Ukrainische und kann auf Nationaldichter und gegenwärtige Autorinnen und Autoren verweisen, die etwa mit Serhij Zhadan sogar über die Grenzen des eigenen Landes hinaus bekannt sind.
Zur Frage der Unterschiedlichkeit zwischen Ukrainisch und Russisch kann man, freilich unwissenschaftlich, etwa auf den Abstand des Deutschen vom Niederländischen verweisen. Für einen Nicht-Muttersprachler, der eine der Sprachen beherrscht, ist die andere von beiden nicht ohne weiteres zu verstehen. Die mehrheitliche Bilingualität der Ukrainer führt aber im Alltag dazu, dass Konversationen in beiden Sprachen gleichzeitig geführt werden und Gesprächspartner problemlos zwischen den Sprachen hin- und herwechseln.
Historisch begünstigten verschiedene politische Einflusssphären die Entwicklung der heutigen Bilingualität. So waren die Gebiete der heutigen Ost- und Südukraine für einen langen Zeitraum Teil des Russischen Reichs. Der westliche Teil der Ukraine unterlag lange dem Einflussbereich des Habsburger Reichs und zuvor dem des Unionstaates Polen-Litauen. Das Habsburger Reich versuchte sich daran, die Vormachtstellung des polnischen Adels zu brechen, und förderte daher die ukrainische Sprache. Auch wenn dies nicht aus reiner Selbstlosigkeit geschah, wurde Ukrainisch (in Österreich-Ungarn vorwiegend als „Ruthenisch“ bezeichnet) 1893 von der österreichischen Regierung als Lehrsprache in Galizien etabliert. 1914 existieren daher dort mehr als 2.500 ukrainischsprachige Schulen sowie sechzehn staatliche und private Hochschulen. Im Gegensatz dazu war die ukrainische Sprache im Russischen Reich starken Russifizierungs- und Unterdrückungswellen ausgesetzt. Der russischen Ansicht nach sprachen die Ukrainer auf dem Land (damals „Kleinrussen“ genannt) bloß einen „Dialekt“ des Russischen. Im 18. Jahrhundert war die Ukraine vor allem auf der höchsten staatlichen Ebene zu einem großen Teil russifiziert. Mit der beginnenden ukrainischen Nationsbildung im 19. Jahrhundert sah das Russische Reich seine Vormachtstellung am westlichen Rande des Reiches in Gefahr. Mit der Unterzeichnung der sogenannten Emser Depesche von Zar Alexander II. im Jahre 1876 wurden jegliche Publikationen auf Ukrainisch verboten. Nach der Russischen Revolution von 1905 sollte dieses Verbot zwar wieder gelockert werden, doch fanden ukrainischsprachige Publikationen aufgrund der massenhaften Migration von Russen in die östlichen Industriegebiete der Ukraine nur eine kleine Leserschaft.
Dieser Zustand wurde durch die Einführung der „Einwurzelungspolitik“ (korenizacija) in der jungen Sowjetunion und der Förderung von nationalen Kadern in den einzelnen Sowjetrepubliken erheblich verändert. So wurde das Ukrainische als Schrift- und Amtssprache eingeführt und als Lehrsprache etabliert. Während es vor 1917 keine einzige ukrainischsprachige Schule im Russischen Reich gab, besuchten im Jahre 1929 97 Prozent aller ukrainischen Kinder eine Grundschule mit Ukrainisch als Lehrsprache. Die ukrainische Kultur konnte sich in den Bereichen Kultur und Literatur freier entfalten und auch die ukrainische Wissenschaft wurde gefördert. Diese Einwurzelungspolitik sollte allerdings nicht als eine selbstlose Förderung der Sprache verstanden werden, sondern mehr als eine bolschewistische Alphabetisierungskampagne, welche vordergründig die Loyalität der geförderten Nationen sichern sollte. Mit der stalinistischen Epoche waren die ukrainische Sprache und Kultur jedoch wieder dem Konkurrenzdruck mit dem Russischen ausgesetzt, welches auf allen staatlichen Ebenen gefördert wurde. Das Publikations- und Bildungswesen wurde langfristig auf Russisch umgestellt. Die mittlerweile einverleibte West-Ukraine war diesen Tendenzen ebenfalls ausgesetzt, konnte sich diesen aber erfolgreicher widersetzen.
Auch wenn sich die post-stalinistischen Führungsriegen radikal von dem Führungsstil Stalins unterschieden, wurde die Russifizierung unter den folgenden Generalsekretären weiter intensiviert. Wurde dem Ukrainischen in der „Tauwetter-Periode“ unter Chruschtschow zunächst wieder ein größerer Freiraum zugesprochen, so änderte sich dies mit der Schulreform von 1958. Unter Breschnew wurden ab 1972 gar repressive Maßnahmen gegen Intellektuelle und Wissenschaftler durchgeführt, Amtsenthebungen, eine schärfere Zensur und russischer Publikationsdruck führten zur Zurückdrängung des Ukrainischen. Gleichzeitig stieg die Anzahl der russischen Bevölkerung durch Zuwanderung in die Industriegebiete der Süd- und Ostukraine enorm an. 1959 lebten noch etwa sieben Millionen (17 Prozent der Gesamtbevölkerung) ethnische Russen in der Ukraine, bis 1989 stieg diese Zahl auf elf Millionen an (22 Prozent).
Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 wurde das Ukrainische per Verfassung zur Staatssprache erklärt und hat sich seither in Politik, Literatur und Hochschulwesen weitgehend durchgesetzt. Russisch ist aber bis heute dominant in Unterhaltungsindustrie und Medien. Das neue Sprachengesetz, welches nur im Kontext der russischen Annexion seit 2014 verstanden werden kann, wird dies möglicherweise ändern.
Bilingualität als Chance, um der Kremlpropaganda zu trotzen
In der Praxis wird die Ukraine absehbar zweisprachig bleiben. Und jede Maßnahme zur weiteren Förderung des Ukrainischen wird von russischer Seite kritisiert und als Diskriminierung der Russischsprecher und angeblichen Angehörigen einer „russischen Welt“ (russkij mir) gegeißelt werden. Es bedarf deshalb eines guten Augenmaßes bei der Gesetzgebung und praktischen Umsetzung, um einerseits das Ukrainische als Staatssprache zu fördern, andererseits keine künstlichen Gräben in der Gesellschaft zu schaffen und der antiukrainischen Propaganda in die Hände zu spielen. Die Bilingualität ist in erster Linie eine Chance, und die Unkompliziertheit, mit der die Ukrainer beide Sprachen im Gespräch benutzen und Sprecher der anderen Sprache akzeptieren, ist für den außenstehenden Beobachter verblüffend. Würde die Sprachenfrage im Alltag noch mehr politisiert, könnte dies viele Russischsprecher dem Staat entfremden, die bislang patriotische Ukrainer sind. Die Kunst wird daher sein, das Ukrainische im staatlichen Bereich konsequent durchzusetzen und insgesamt zu fördern, aber dabei nicht in die Freiheiten des privaten und kulturellen Bereichs einzugreifen. Ob das jüngst verabschiedete Gesetz nun in Kraft tritt oder nicht, es ist der Ukraine zu wünschen, dass der neue Präsident hier positive Akzente setzt.
Der Text wurde zuerst in leicht veränderter Form bei der Friedrich-Naumann-Stiftung veröffentlicht.
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