Gefahr der bilateralen Verhandlungen zwischen Selenskyj und Putin
Um das Pariser Treffen im Normandie-Format bezüglich der möglichen Folgen für die Ukraine angemessen beurteilen zu können, sollte man das Augenmerk auch auf das bilaterale Gespräch zwischen Selenskyj und Putin richten, meint Wilfried Jilge
Um das Pariser Treffen im Normandie-Format (N4) zwischen Bundeskanzlerin Merkel, dem französischen Staatspräsidenten Macron, dem ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskyj und den russischen Präsidenten Putin bezüglich der möglichen Folgen für die Ukraine angemessen beurteilen zu können, sollte man das Augenmerk auch auf das bilaterale Gespräch zwischen Selenskyj und Putin richten. Von diesem Gespräch sind zwar kaum Einzelheiten veröffentlicht worden, aber die Vermutung einer Journalistin, dass in dem Gespräch der beiden Präsidenten auch die laufenden russisch-ukrainischen Verhandlungen über die Fortsetzung des Gastransits durch die Ukraine thematisiert worden seien, bestätigte der ukrainische Präsident Selenskyj mit bemerkenswerter Offenheit: „Ich habe nun nicht viel Erfahrung [!, W.J.]; es war das erste Mal, dass wir ein solches bilaterales Gespräch geführt haben. Es waren auch zahlreiche Mitarbeiter anwesend, und ich denke, unsere Berater werden diese Fragen ‑ Fristen, Preise usw., alle Details im Zusammenhang mit der Gastransitfrage ‑ weiter erörtern, denn sie ist wichtig für die Ukraine, aber auch für die Energieversorgungssicherheit in Europa.“
Der Gastransit ist für die Ukraine sowohl von herausragender ökonomischer als auch von sicherheitspolitischer Bedeutung. Die derzeit noch bestehende Abhängigkeit Russlands vom ukrainischen Gastransitsystem ist eine gewisse Bremse möglicher militärischer Eskalationen seitens Russlands und stärkt die Position der Ukraine im grundsätzlich asymmetrischen Konflikt mit dem Nachbarn. Es könnte sich jedoch als strategischer Fehler erweisen, sollte Präsident Selenskyj die am Montag offensichtlich begonnenen bilateralen Gespräche über die Fortsetzung des Gastransits durch die Ukraine auf der Ebene der Präsidenten oder ihrer Berater fortsetzen wollen – wie es Selenskyj in der Pressekonferenz bereits angedeutet hat. Und dies nicht nur wegen des von Selenskyj selbst eingestandenen Mangels an Erfahrung in dieser Frage; vielmehr könnte Russland versuchen, Fragen des Gastransits mit neuralgischen Punkten des Minsker Prozesses zu verbinden. Das gilt insbesondere für Bereiche, an denen Selenskyj aus persönlichen und innenpolitischen Gründen besonders großes Interesse hat, wo aber der Teufel häufig in den Details liegt – mit denen Putin ausgezeichnet vertraut ist, Selenskyj aber kaum. Zu nennen wäre beispielsweise der Gefangenenaustausch.
Mit russischen – häufig intransparenten und im Detail nicht genau geregelten – „Paketlösungen“ hat die Ukraine jedoch keine guten Erfahrungen gemacht, erinnert sei nur an die „Charkiver Verträge“ von 2010. Außerdem hat Präsident Selenskyj in der Frage des Gastransits keine Vollmachten. Die Verhandlungen werden von Gazprom und Naftohas unter Vermittlung der EU geführt. Dieses Format ist im Interesse der Ukraine, die sich in den europäischen Energiemarkt integrieren möchte, um ihre Energiesicherheit zu stärken. Kiews Ziel ist der Abschluss eines langfristigen Liefervertrages auf der Basis des europäischen Rechts, der der Ukraine Durchlaufkapazitäten gewährt, die ein angemessenes Betreiben der Pipeline auch in Zukunft sichern.
Russland könnte der Ukraine bei informellen bilateralen Gesprächen zwischen Selenskyj und Putin kurzfristig attraktive Versprechen machen (z.B. Ankauf von Gas zu sehr niedrigen Preisen), deren Umsetzung aber einer nachhaltigen Lösung auf der Basis europäischen Rechts und einer langfristigen Sicherung des Gastransits durch die Ukraine widersprechen könnten und die energiepolitische Abhängigkeit der Ukraine durch Wiederaufnahme von Gasimporten aus Russland wieder vergrößern könnten.
Auf der Pressekonferenz lockte Putin bereits unverhohlen mit billigen Gasimportpreisen für die Ukraine als Voraussetzung von Tauschgeschäften: „Ich kann an dieses Kindergedicht erinnern: Wir haben in unserer Wohnung Gas, und was habt ihr? Ihr werdet auch Gas haben, aber das Gas bei euch kann auch viel günstiger sein, wenn wir uns auf gemeinsame, ehrliche Arbeit einigen. ‑ Das Gas kann für den Endkonsumenten, aber vor allem auch für die Industriekunden um 25 Prozent günstiger sein, als es jetzt ist.“
Insgesamt besteht die Gefahr, dass informelle Vorabsprachen und „Deals“ auf der Ebene der Präsidenten und ihrer Berater den Konzern Naftohas vor vollendete Tatsachen stellen und die Bedeutung der dreiseitigen Gespräche zwischen der EU, der Ukraine und Russland über Gaslieferungen marginalisieren könnten. Dabei ist es nicht so sehr die Ukraine, die unter Druck steht, sondern der halbstaatliche russische Konzern Gazprom. Während die Ukraine für den kommenden Winter vorgesorgt hat, ist Gazprom noch für einige Zeit auf den Transit durch die Ukraine angewiesen – selbst wenn Nord Stream 2 zügig fertiggestellt wird. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der ukrainische Konzern Naftohas noch am Tag der Verhandlungen von Paris in einer Erklärung bekräftigte, an dem Gesprächsformat unter Vermittlung der EU festzuhalten.
Und darüber hinaus könnte eine „Paketlösung“ die Ukraine zu riskanten Schritten im Minsker Prozess verpflichten, z.B. bei den Themen Wahlen in den besetzten Gebieten oder beim Sonderstatusgesetz. Ich bin ziemlich sicher, dass der Kreml daran interessiert ist, die Frage des Gastransits mit den Verhandlungen im Minsker Format zu verknüpfen; die Ukraine sollte die Themen Donbas und Gastransit aber klar trennen und Deutschland sollte Kiew dabei unterstützen.
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