Die Berichterstattung über die verlorene Krim
Die Journalistin Oksana Hrytsenko war während der Annexion auf der Krim. Sie schreibt über ihre persönlichen Erfahrungen und fragt sich, warum ukrainische und westliche Medien so wenig über die Krim berichten.
Vor sechs Jahren – am 18. März 2014 – war es windig in Simferopol, der Hauptstadt der Krim. Der Wind fuhr mir unter den Rock, und ich fühlte mich unwohl bei der Berichterstattung neben einem ukrainischen Militärstützpunkt. Der Stützpunkt war von russischen Soldaten ohne Hoheitsabzeichen umstellt, den sogenannten kleinen grünen Männern.
Natürlich kümmerte sich niemand um meinen Rock. Die meisten Soldaten hörten dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu. Einige russische Soldaten luden Kisten aus ihren Militärlastwagen aus. Auf der anderen Seite des Zauns lauschten ukrainische Soldaten mit betrübten Gesichtern derselben Rede auf ihrem kleinen Radio. Einer von ihnen sagte zu mir:
„Bald wird Putin erklären, dass die Krim russisch ist, und sie werden sagen, dass wir die Besatzer sind.“
Gegen jedes Gesetz erklärte Putin an dem Tag tatsächlich, dass die Krim russisches Gebiet sei. Es war die erste Annexion in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Weder die Ukraine noch ihre westlichen Verbündeten unternahmen zu dem Zeitpunkt irgendetwas. Niemand konnte und wollte zu den Waffen greifen, um Russlands faktischen Landraub zu stoppen.
Ich glaube, dass wir alle in diesem Moment die hilflose Wut der ukrainischen Soldaten teilten. Wir konnten nichts tun. Das ist ein Gefühl, als ob ein Gangster dich auf der Straße ausraubt; mit einem Lächeln dein Eigentum an sich nimmt, und du nichts dagegen tust, in dem Wissen, dass dir hier niemand helfen wird.
In den darauffolgenden Tagen sah ich, wie pro-russische „Selbstverteidigungseinheiten“ die ukrainischen Hoheitszeichen aus den Regierungsbehörden entfernten. Es war überraschend, wie schnell sie bei alldem vorgingen. In den folgenden Wochen wurden die ukrainischen Soldaten auf der Krim, die der Ukraine gegenüber loyal blieben, gezwungen, die Halbinsel zu verlassen.
Weniger als einen Monat später startete Russland seinen Krieg gegen die Ukraine im Donbas. Dieser Krieg kostete mehr als 14.000 Menschen das Leben und dauert immer noch an. Nun ist der Krieg in der Ukraine überall präsent: In den täglichen Nachrichten, in Büchern, in Filmen, in Liedern, im Theater und in Fernsehshows.
Aber wie ist es mit der Krim? Sie ist so gut wie vergessen. Im Februar handelten nur ein Prozent der Nachrichten in ukrainischen Onlinemedien von der Krim, laut einer Kontrollerhebung des Instituts für Masseninformation, einer ukrainischen Medienaufsicht.
In westlichen Medien ist es noch schlimmer. Die letzten prägnanten Nachrichten jenseits des Jahrestages der Annexion, die ich über die Krim bei Google finden konnte, waren aus dem Dezember letzten Jahres. In der ersten Nachricht ging es darum, dass Putin eine Eisenbahnverbindung mit der Krim in Betrieb genommen hat. Und die zweite handelte davon, dass Apple begonnen hat, auf seinen Karten die Krim als einen Teil Russlands darzustellen.
Warum wird über die Krim so wenig berichtet? Zunächst einmal ist es schwer, aus dem Gebiet der Ukraine dorthin zu reisen – besonders auf legale Weise. Zweitens ist es schwer, Menschen zu finden, die bereit sind, offen über das Leben auf der Krim zu sprechen, da sie das ins Gefängnis bringen kann. Und es wird fast täglich jemand aus politischen Gründen festgenommen. Der jüngste Fall war am 16. März in Dschankoj, als die russischen Behörden einen Krimtataren in seinem Haus verhafteten und mit ihm in unbekannte Richtung fortfuhren.
Der dritte Grund dafür, dass über die die Krim in der Ukraine wenig berichtet wird, ist meiner Meinung nach ein psychologischer. Die Annexion der Krim ist für die Ukraine eine Geschichte eines schmerzhaften Verlustes und niemand mag gern an Verluste erinnert werden. Der Krieg im Donbas hatte viele tragische Momente, aber ebenso viele Ruhmreiche. Die Krim wurde in nur wenigen Wochen genommen, ohne Kämpfe.
Es gab jedoch viele Fälle von Widerstand gegen die Annexion, obwohl ein Kampf gegen die russische Armee auf der Krim aussichtslos war. Ich bin froh, dass ich nur ein paar Tage, bevor die Kinos in Kyjiw für die Quarantäne geschlossen wurden, die Gelegenheit hatte, den neuen ukrainischen Film „Tscherkassy“ anzuschauen. Namensgeber des Films war das letzte ukrainische Kriegsschiff, das nach tagelangen Angriffen von der russischen Marine eingenommen wurde. Die Crewmitglieder verloren schließlich ihr Schiff und mussten die Krim verlassen, aber sie wurden zu Helden.
Der Kreml würde die Annexion der Krim gerne vergessen machen. Genau deshalb sollten wir alles dafür tun, damit dies nicht geschieht. Es sollte mehr Nachrichtenberichte, Bücher und Filme über sie geben. Ehrliche Geschichten wie der Film „Tscherkassy“, nicht Propaganda oder Gegenpropaganda.
Ich habe immer noch den Rock, den ich am 18. März 2014 trug. Ich behalte ihn nur, um mich daran zu erinnern, wie die Annexion geschah. Er gibt mir die Hoffnung, dass die Gerechtigkeit eines Tages siegen wird. Und dass die Krim, die Russland wie ein Gangster gestohlen hat, wieder zu ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben wird.
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