Ver­brannte Erde. Ein Augen­zeu­gen­be­richt von den Wald­brän­den im ost­ukrai­ni­schen Kriegsgebiet

© Kon­stan­tin Reutski /​ Vostok SOS

Der Osten der Ukraine erlebte Anfang Oktober einen außer­or­dent­lich hef­ti­gen Wald­brand. Nachdem es mona­te­lang nicht gereg­net hatte, brann­ten im Kriegs­ge­biet des Oblast Luhansk über 20.000 Hektar Wald ab. Durch starken Wind konnte sich das Feuer schnell ver­tei­len und war schwer zu löschen. Es zer­störte über 250 Wohn­häu­ser, ca. 1000 Wirt­schafts­ge­bäude und kostete 9 Men­schen­le­ben. Imke Hansen von Libe­reco Part­ner­ship for Human Rights war mit einem Team der ukrai­ni­schen Orga­ni­sa­tion Vostok SOS vor Ort, um huma­ni­täre und psy­cho­lo­gi­sche Hilfe zu leisten. Sie berich­tet hier von den ersten Tagen im Wald­brand­ge­biet, von der Orga­ni­sa­tion der Hilfe und ihren Erleb­nis­sen in den abge­brann­ten Dörfern.

Dieser Artikel erscheint in Koope­ra­tion mit Libe­reco e.V. 

Ankunft

Als wir um zehn Uhr morgens in der Oblast Luhansk ankom­men, ist die Land­schaft in einen leicht schwe­fel­far­be­nen Nebel gehüllt. Trans­pa­rent genug, dass man die Bäume am Hori­zont noch erkennt, dicht genug, um ein komi­sches Gefühl zu bekom­men. Rauch­ge­ruch kriecht langsam in den Bus. Er wird uns die nächs­ten Wochen begleiten.

Im Stütz­punkt von Vostok SOS, bestehend aus einem Ver­an­stal­tungs­raum, dem Büro, dem Zimmer für psy­cho­lo­gi­sche Hilfe, einer Küche und zwei Schlaf­räu­men treffen wir unsere Kolleg*innen, die 12 Stunden früher los­ge­fah­ren sind als wir. Die ganze Nacht haben sie Essen, Tee und Taschen­lam­pen ver­teilt, und gehol­fen, klei­nere Brand­herde zu ersticken.

Im Laufe des Nach­mit­tags kommen immer mehr Leute und bringen Sach­spen­den vorbei – vor allem Klei­dung, aber auch Bett­wä­sche und Decken. Wir besor­gen Vit­amine, bestel­len Nah­rungs­mit­tel, orga­ni­sie­ren Frei­wil­lige zum Sor­tie­ren der Klei­der­spen­den und schrei­ben einen Flyer über emo­tio­nale erste Hilfe mit der Tele­fon­num­mer unserer Hotline. Das Telefon klin­gelt die ganze Zeit, Hil­fe­su­chende kommen herein, frei­wil­lige Helfer*innen melden sich, und wir haben Mühe, den Über­blick zu behalten.

Am Abend bringt unsere Kol­le­gin Anja ihren Mann vorbei. Er betritt unser Zimmer mit den Worten: „Ich brauche psy­cho­lo­gi­sche Hilfe.“ Tanja und ich sind mehr als über­rascht, diese Worte aus seinem Mund zu hören. Wie die meisten Men­schen hier ver­tritt Ilja sonst eher die Ansicht, dass ein rich­ti­ger Mann mit seinen Pro­ble­men allein klar kommen muss.

Das Haus von Anja und Ilja steht ganz am Rand von Sever­odo­nezk. Drum herum sind alle Häuser abge­brannt. Warum gerade ihr Haus nicht gebrannt hat, wissen sie nicht. In den Ruinen des Nach­bar­hau­ses fängt es immer wieder an zu brennen. Ilja hilft seinen Nach­barn immer wieder beim Löschen. Er hat die letzten vier Nächte kaum geschla­fen. Selbst wenn er sich hinlegt, schläft er nicht ein. Er will das Haus nicht ver­las­sen, damit niemand plün­dert. Sein Zaun ist abge­brannt und er fühlt sich schutz­los und per­ma­nent unter Strom.

Als der Wald neben ihnen in Flammen stand, wusste er genau, was zu tun ist. Sachen packen, Doku­mente zusam­men suchen, weg­fah­ren. Er sagt, er habe das ja alles schon oft in Filmen gesehen. Jetzt ist er selbst in einem Film, sagt er, und der hört nicht auf. In seinem Körper scheint jeder Muskel ange­spannt. Er kann sich nicht freuen, dass sie über­lebt haben und ihr Haus noch steht. Er schämt sich dafür, vor denen, deren Häuser abge­brannt sind. Vor seinen Nach­barn. Wir machen Somatic Expe­ri­en­cing mit ihm, eine trau­ma­the­ra­peu­ti­sche Technik, die ideal dafür ist, solche Erleb­nisse zu verarbeiten.

Huma­ni­täre Hilfe

Der Sitz der Orga­ni­sa­tion Vostok SOS in Sever­odo­nezk hat sich in eine aus­ge­wach­sene Koor­di­na­ti­ons- und Sam­mel­stelle ver­wan­delt. Ständig kommen Men­schen mit Sach­spen­den rein, immer noch klin­gelt pau­sen­los das Telefon. Im Ver­an­stal­tungs­raum türmen sich Säcke mit Klei­dung, Bett­wä­sche, Hand­tü­chern, Decken und Kissen zu einem Gebirge. Hinter der Scharte zwi­schen zwei Bergen ragt ein Flip­chart heraus. Jemand hat Jurist darauf geschrie­ben und einen Pfeil nach rechts gemalt. Hinter dem letzten Klei­der­berg sitzt Sergej und berät Men­schen, die ihre Doku­mente im Feuer ver­lo­ren haben, die Kom­pen­sa­tio­nen bean­tra­gen wollen, ihr Eigen­tum nicht mehr nach­wei­sen können oder andere juris­ti­sche Problem haben.

Ehren­amt­li­che Helfer*innen sor­tie­ren die Spenden nach Frauen- Männer- und Kin­der­be­klei­dung, Schuhen und Heim­tex­ti­lien in Säcke, und beschrif­ten diese. Dabei ent­de­cken sie Blazer mit Leo­par­den­mus­ter, eine Nar­ren­kappe mit Glöck­chen, sil­berne Glit­z­erho­sen und ähn­li­ches. Aktuell werden aller­dings vor allem warme Jacken und Pull­over, feste Schuhe und Gum­mi­stie­fel gebraucht.

Eine ältere Frau bringt eine kleine Kiste vorbei. Als wir sie auf­ma­chen kommen eine Hand­seife, eine Kin­der­seife, eine Kin­der­zahn­bürste, Zahn­pasta, Shampoo, ein kleiner Kamm und ein Wasch­lap­pen zum Vor­schein – alles sorg­fäl­tig ver­packt. Es sind keine teuren Pro­dukte, aber die Auswahl und die Akku­ra­tesse ihrer Anord­nung sind so beein­dru­ckend, dass wir die Kiste am liebs­ten an die Wand hängen würden.

Als wir vor der Tür einen Kaffee trinken, kommt Ilja. Auf die Frage, wie er geschla­fen hat, ant­wor­tet er: „Super.“ Ich hake nochmal nach: „Ernst­haft?“ – „Ernst­haft. Und der Film ist vorbei.“

Wir beladen die Autos. Kostja steht auf dem Dach des Gelän­de­wa­gens und stapelt Decken. Zhenja und Julia kommen gerade mit den Ein­käu­fen an. Entlang des Hauses sind 30 Kisten auf­ge­stellt. In jede Kiste muss je eine Packung Reis, eine Packung Buch­wei­zen, zwei Packun­gen Hafer­flo­cken, zwei Büchsen Sar­di­nen, zwei große Gläser Büch­sen­fleisch, Zucker, Tee, Seife, Zahn­pasta, Spül­mit­tel und Toi­let­ten­pa­pier. Die müssen dann wieder in den Trans­por­ter, zusam­men mit Wasser, Spaten, Säcken mit Klei­dung, Decken, Bett­zeug, Töpfen, Geschirr und Besteck. Eine Gruppe entlädt den Trans­por­ter, eine andere schleppt Was­ser­ka­nis­ter, eine dritte packt die Kisten. Der Betrieb erin­nert an Ameisen. Wir bespre­chen, wer welches Dorf anfährt.

Woro­nowe

Das Feuer hat eine Grenze gezogen, die die ver­brann­ten Häuser von den ver­schon­ten trennt. Aus dem ver­brann­ten Teil kommt eine Frau auf uns zu. Wir regis­trie­ren ihren Namen und ihre Adresse und fragen, was sie braucht. Klei­dung hat sie von ihren Nach­barn bekom­men, aber Lebens­mit­tel nimmt sie gern. Über die Vit­amine und die Augen­trop­fen freut sie sich auch. Wir besich­ti­gen ihr stark beschä­dig­tes Haus. Ein Teil ist bewohn­bar. Dort schläft sie jetzt zusam­men mit ihrem Bruder. Sein Haus ist kom­plett niedergebrannt.

Sie zeigt uns ihren Garten, wo nur noch ver­ein­zelt ver­dorr­tes Gestrüpp steht. Bis vor ein paar Tagen wuchsen hier noch Toma­ten­pflan­zen, Kür­bisse und Paprika. Sie hält sich strikt an die Wege, die für uns nicht mehr sicht­bar sind, und tritt nicht auf die Beete, von denen nur noch Asche übrig geblie­ben ist.

© Imke Hansen /​ Libe­reco e.V.

Ein paar Häuser weiter räumt ein älteres Paar Schutt weg. Von ihrem Haus sind nur halb­hohe, ange­sengte Mauern übrig geblie­ben. Kein ein­zi­ger geschlos­se­ner Raum, kein Stück Dach. Letzten Monat, erzählt die Frau, hat ihr Mann ein neues Gebiss bekom­men. Es war sehr teuer. Sie haben dafür ihre gesam­ten Erspar­nisse aus­ge­ge­ben. Als sie in der Nacht eva­ku­iert wurden, ist das Gebiss im Glas geblie­ben. Jetzt ist es ver­brannt, das teure Gebiss. Und sie haben kein Geld für ein neues, geschweige denn dafür, ihr Haus wieder aufzubauen.

Das nächste Haus ist halb­wegs bewohn­bar geblie­ben. In zwei Zimmern sind die Wände geplatzt, alle Fenster sind geschmol­zen und überall ist ein Teil der Decke her­un­ter gekom­men, aber man kann darin über­nach­ten. Der Hund hat über­lebt. Die Hühner nicht.

Vor dem Haus hat sich eine Men­schen­traube gebil­det. Eine Frau weint heftig. Ihr Haus ist stehen geblie­ben. Sie weint um die Häuser ihrer Nach­barn. Mit einem etwas jün­ge­ren Mann gehe ich zu seinem Grund­stück. Er lebt ganz allein, erzählt er mir. Seine Eltern sind gestor­ben. Er hat keine wei­te­ren Ver­wand­ten. Er will das Haus wieder auf­bauen, genauso, wie es war. „Ich werde das ganz alleine machen“, sagt er. „Wer wird mir schon helfen? Ich habe ja niemanden.“

In der Nacht ist er davon auf­ge­wacht, dass der Zaun gebrannt hat. Er ist sofort in das gegen­über lie­gende Haus gerannt. Dort wohnten die beiden ältes­ten Nach­barn der Straße, die beide nicht mehr gut gehen. Er hat beide aus dem bren­nen­den Haus gerettet.

Modi­sches Urteil

Es dämmert und die Straßen leeren sich. Abends gehen die Leute in ihre Über­gangs­quar­tiere – in Schulen, zu Ver­wand­ten oder Nach­barn. Es gibt noch keine Elek­tri­zi­tät. Am Ende einer Straße sehen wir aber noch Funken sprühen.

Neben einer Tonne, in der ein Mann Metall­teile zusam­men­schweißt, treffen wir Anwohner*innen, die Schutt weg­räu­men. Von den umlie­gen­den Häusern stehen zwei noch zum Teil, der Rest ist voll­stän­dig nie­der­ge­brannt. Wir stellen uns vor, und sie rufen die Nach­barn aus den zwei halb abge­brann­ten Häusern.

Auf die Frage, was sie braucht, sagt Natalia, dass sei sehr schwer zu beant­wor­ten, wenn man gar nichts mehr hat. Wir packen aus, was wir mit­ha­ben. Swjeta und Natalia suchen sich aus den Geschirr­kis­ten Töpfe, Pfannen, Teller und Besteck aus. Maksim schmeißt Säcke mit Klei­dung aus dem Wagen. Wir richten zwi­schen den Flü­gel­tü­ren des Trans­por­ters eine impro­vi­sierte Anprobe ein, hängen eine Taschen­lampe an der oberen Ecke der Tür auf und begut­ach­ten gemein­sam jedes Stück. Das meiste ist zu klein. Immer­hin finden wir für Swjeta zwei Pull­over und eine Weste und für Natalia einen warmen Mantel, ein Hose für ihren Mann und Hosen und Pullis für die Kinder. Beim Aus­su­chen und Anpro­bie­ren kommt ein Eifer auf, der uns alle entspannt.

  • „Das ist hier wie bei dieser Fern­seh­show, wie heißt die nochmal?“
  • „Modi­sches Urteil.“
  • „Genau, wie bei Modi­sches Urteil!“
  • „Diese Hose ist zu groß für meinen Mann, aber die passt Vasili.“

Ich rufe zur Schweiß­tonne rüber: „Hier ist eine Hose für Vasili. Wer von Euch ist Vasili?“ Vasili kommt herüber, die anderen Männer schlie­ßen sich an. Die Hose ist zu kurz, aber jeder von ihnen findet eine Jacke und eine Mütze, zwei sogar Hand­schuhe. Danach lehnen sie ab, weiter zu suchen. Es soll auch noch etwas für andere bleiben. Wir erklä­ren, dass unser Büro bis zur Decke voll ist mit Sachen. Mit einigem Zureden nehmen sie noch zwei warme Westen und Decken mit.

Als wir fertig sind, mache ich mich auf die Suche nach einer Toi­lette. Drei Grund­stü­cke weiter ist erstaun­li­cher­weise das Plumps­klo nicht abge­brannt. Jetzt benutzt es die gesamte Straße. Natalia bringt mich hin. Unser Weg schlän­gelt sich durch Hügel aus Schutt und Scher­ben. Auf dem Weg erzählt sie mir, dass ihre zwei Hunde ver­brannt sind. Im Licht des Schweiß­ge­räts sehe ich, dass ihr Tränen übers Gesicht laufen.

Mura­towo

Am nächs­ten Tag sind wir im Dorf Mura­towo. Wir sind nicht die ein­zi­gen, die unter­wegs sind. Ver­schie­dene Frei­wil­lige bringen Kleider und Essen in die Dörfer. Die meisten sind im Zentrum des Dorfs unter­wegs. Wir kon­zen­trie­ren wir uns auf die abge­le­ge­nen Höfe, wo kaum Hilfe ankommt. Auf der Suche nach diesen Häusern werden die Wege immer unwegsamer.

Vor einem eiser­nen Tor steht ein Auto. Dahin­ter ist nichts mehr zu sehen. Das Haus ist bis auf die Grund­mau­ern nie­der­ge­brannt. Ein älteres Ehepaar hat hier gewohnt. Ihre Doku­mente sind ver­brannt, wie auch alles andere. Sie wollten ihr Haus nicht ver­las­sen, aber ihre Kinder sind gekom­men und haben sie über­zeugt, zum Über­nach­ten in die Stadt zu ihrem Sohn zu fahren. Nur deshalb haben wir noch das Auto, sagt der Mann. Nah­rungs­mit­tel wollen sie nicht. Es gibt keinen Ort, wo sie die auf­be­wah­ren könnten. Sie erzäh­len, dass sie drei Vor­rats­kam­mern hatten, die alle rand­voll waren. Gemein­sam besich­ti­gen wir einen Haufen ver­kohl­ter Kürbisse.

Sie sagen, dass ganz am Ende der Straße noch Häuser stehen. Beim Anfah­ren ver­sin­ken unsere Vor­der­rei­fen zur Hälfte im Sand. Nachdem wir Zie­gel­steine unter den Reifen ein­ge­gra­ben haben kommen wir los. Nach einem Kilo­me­ter kur­vi­ger Sand­piste sehen wir drei Häuser. Sie stehen alleine auf einer weiten Fläche, die von Kiefern und Birken gesäumt ist. Man sieht, dass es hier einmal sehr schön war.

Wir steigen aus. In der Luft hängt ein Geruch von ver­brann­ten Tieren. Durch den Wind ist die Luft voller Asche. Das erste Haus ist kom­plett abge­brannt, vor dem zweiten steht ein Auto. Wir rufen und klopfen. Ein Mann bittet uns herein. Seine Frau ist im Kran­ken­haus in Luhansk. Er braucht nichts, sagt er. Vit­amine nimmt er nicht, eine Taschen­lampe hat er. Als wir ihm Lebens­mit­tel anbie­ten, lacht er, und führt uns über einen Schutt­berg zu einer halb abge­brann­ten Vor­rats­kam­mer. Dort steht ein Meer von Ein­ge­mach­tem, Gläser in jeder Form und Größe. „Ihr könnt alles mit­neh­men. Was soll ich jetzt damit? Hier geht es nur kaputt.“ Wir nehmen ein Glas Honig und ein Glas ein­ge­machte Kir­schen mit.

Er erzählt, dass erst nur das Gras am Wald­rand gebrannt hat. Ein Feu­er­wehr­fahr­zeug sei vor­bei­ge­kom­men. Auf die Bitte, das Gras zu löschen, hätten sie ihn gefragt, ob er eine Pumpe zum Anschlie­ßen der Schläu­che habe. Die hatte er natür­lich nicht. Da seien sie wei­ter­ge­fah­ren, aber mit dem Ver­spre­chen, wie­der­zu­kom­men. Zwei Stunden habe er gewar­tet. Als alles in Flammen stand, habe er seine Angel­ru­ten in den Kof­fer­raum gewor­fen und sei durch die Flammen gefah­ren. Es war kein großes Feuer, sagt er. Das hätte ohne Pro­bleme gelöscht werden können. Dann würde das hier alles noch stehen. Den Winter werden wir woan­ders ver­brin­gen müssen, sagt er, aber er könne sich nicht mehr vor­stel­len, in der Stadt zu wohnen. Im Umkreis dieses Hauses sind 12 Seen, erzählt er. Er kann hier jeden Tag an einem anderen See angeln.

Bul­lerbü

Wir gehen zum letzten Haus. Es ist schwer beschä­digt. Erst kommt ein Mann aus dem Tor und stellt sich davor, seine Frau bleibt im Tor stehen. Es sieht aus, als ob sie ihr Reich ver­tei­di­gen wollen, von dem kaum etwas übrig geblie­ben ist. Wir fragen, ob sie Wasser haben. Ihr Brunnen funk­tio­niert noch, aber sie brau­chen Lebens­mit­tel und Arbeits­hand­schuhe. Während wir uns unter­hal­ten, fällt mir auf, dass die Frau wie erstarrt ist. Ich stelle mich zu ihr, und frage sie, wie sie sich fühlt.

„Gar nicht“, ant­wor­tet sie. Ich frage sie, ob sie mit mir ein paar Übungen machen wolle, um ihr Ner­ven­sys­tem zu stärken. Sie nickt. Wir ori­en­tie­ren uns in den Trüm­mern. Sie deutet auf ver­kohlte Pflöcke, zer­bro­chene Ziegel und Metall­teile und erzählt mir, was das einmal war. Aber das Schlimmste sei, dass die Nach­barn jetzt weg seien. Jeden Tag habe sie mit Irina und Natalia Tee getrun­ken, reihum auf den Bänken vor dem Haus, bei schlech­tem Wetter in der Küche. Alle Fei­er­tage haben sie gemein­sam ver­bracht, wie eine große Familie. Was sie erzählt, klingt wie die drei Höfe von Bul­lerbü. Der Gegen­satz zu den ver­kohl­ten Über­res­ten, die wir davon sehen, könnte kaum größer sein.

Nach etwa 20 Minuten Somatic Expe­ri­en­cing am Gar­ten­tor beginnt sie zu weinen, dann zu lachen. Dann sagt sie ver­wun­dert, dass sie ihren Kopf wieder bewegen kann. Ich will ihr noch Vit­amine dalas­sen. Sie habe ganz dre­ckige Hände, sagt sie. Ich zeige ihr meine, mit denen ich kurz zuvor die Vor­der­rei­fen unseres Busses aus­ge­gra­ben habe. Sie lacht, nimmt die Vit­amine und ver­spricht, die Hotline anzu­ru­fen, falls es ihr in den nächs­ten Tagen nicht besser gehen sollte.

Wir gehen zurück zum Auto. Vom Wald­rand weht Rauch rüber, unsere Augen brennen, die Schleim­häute sind geschwol­len, alles fühlt sich staubig an. Es riecht immer noch nach ver­brann­ten Tieren und uns alle erfasst die Trau­rig­keit, die über diesen drei Höfen liegt.

Kata­rina

Wir fahren zurück ins Zentrum von Mura­towo und suchen die anderen zwei Teams, die unter­wegs sind. Auf einer großen Frei­flä­che sitzen eine Frau und ihr erwach­se­ner Sohn auf einer Bank, vor dem, was einmal ihr Haus war. Sie sehen aus wie ein­ge­fro­ren. Das fällt umso mehr auf, als alle drum herum in Bewe­gung sind, mit Spaten und Schub­kar­ren, Schutt weg­räu­mend oder Gegen­stände suchend, die noch zu gebrau­chen sind. So sitzen sie schon seit drei Tagen, seitdem ihr Haus abge­brannt ist, sagen die Nach­barn. Wenn es dunkel wird, gehen sie in die Schule, wo sie über­nach­ten. Am nächs­ten Tag sitzen sie wieder genauso da. Wir gehen hin und spre­chen mit ihnen. Wenn wir hier nicht säßen, würden wir keine huma­ni­täre Hilfe bekom­men, sagen sie. Das ist zwei­fel­los richtig, denn die Hilfe wird in erster Linie an die ver­teilt, die bei ihren ver­brann­ten Häusern vor­ge­fun­den werden. Aus den Trüm­mern ihres Hauses ragen die Ske­lette ihrer Bett­ge­stelle hervor.

© Imke Hansen /​ Libe­reco e.V.

Das andere Team hat sich im Dorf erkun­digt, ob es jeman­den gibt, dem oder der es offen­sicht­lich psy­chisch schlecht geht. Alle ange­spro­che­nen hätten die gleiche Person genannt: Kata­rina, die Leh­re­rin der Dorf­schule. Die könne seit dem Brand nicht mehr sprechen.

Als das Feuer am Abend das Dorf erreicht hatte, war Kata­ri­nas Haus eines der ersten, was abbrannte. Die Feu­er­wehr­leute kamen zu spät um sie her­aus­zu­ho­len. Ihr Name wurde auf der Liste der Todes­op­fer auf­ge­nom­men. Zwei Uhr in der Nacht, als das Haus abge­brannt und das Feuer unter Kon­trolle war, fand ihr Sohn sie in einem gemau­er­ten Schup­pen. Lebendig.

Tanja hat schon kurz mit ihr gespro­chen, und sie möchte unsere Hilfe gerne in Anspruch nehmen. Ihr Grund­stück sieht von außen aus wie eine kleine Festung, mit Mauern und einem soliden Zaun. Das Eisen­tor ist mit bunten Blumen bemalt. Als wir ihren völlig ver­wüs­te­ten Hof betre­ten stockt mir erstmal der Atem. Wir gehen unter einem Bal­da­chin ver­kohl­ter Wein­re­ben hin­durch. Zwi­schen Schutt­hau­fen ein Kamin mit Orna­men­ten, eine halbe Por­zel­lan­tasse, Blu­men­töpfe. Ein Herd weist darauf hin, wo einmal die Küche war. Alles zeugt davon, dass Haus und Garten mit Liebe gestal­tet und sorg­fäl­tig gepflegt worden waren. Unter einem Haufen Steine kommen zwei Kat­zen­ba­bys hervor, beide gerade so groß wie meine Hand. Ihr Fell ist leicht ange­sengt, aber sonst schei­nen sie in Ordnung zu sein. Die Mutter der beiden ist ver­brannt, genau wie ihre Geschwis­ter, die Ziegen und die Hühner. Über­lebt haben nur der Hund und diese beiden Kätz­chen. Wie ihnen das gelun­gen ist, weiß Kata­rina nicht. Sie nimmt eines der beiden auf den Arm und lässt es nicht mehr los. Es sieht aus, als wenn sie sich an ihm fest hält.

Tanja, Maksim, Kata­rina und ich setzen uns auf die kleine Mauer, die die Blu­men­beete begrenzt. Andere Sitz­ge­le­gen­hei­ten gibt es nicht mehr. Zwei Stunden machen wir Somatic Expe­ri­en­cing. Erst auf dem Mäu­er­chen und dann vor der Eisen­tür, auf die sie immer wieder zu spre­chen kommt. Im Laufe der Sitzung wech­selt sie von schlim­mem Stot­tern zum Ver­stum­men und wieder zu fast flüs­si­gem Spre­chen – je nachdem ob wir uns in der Nähe des Schre­ckens bewegen, oder weit weg davon, in allem, was sie dem Gegen­teil zuord­net. Mit der Zeit werden die Peri­oden, in denen sie spre­chen kann, immer länger.

Am Ende ver­ab­schie­det Kata­rina uns herz­lich. Sie ist unend­lich müde, und auch wir sind völlig fertig. Alles an uns ist dreckig und voller Asche. Hände und Lippen sind von der tro­cke­nen Luft auf­ge­sprun­gen. Auf dem Weg zum Auto schwankt der Boden unter meinen Füssen.

Am nächs­ten Morgen brennen die Augen immer noch. Rusana sagt, ihr Hals fühle sich an als hätte sie die ganze Nacht geraucht. Tanja beginnt, die Spenden nach Hüten zu durch­su­chen. Denn das hat sich Kata­rina gewünscht, als wir sie gefragt haben, was sie ver­misst. Sie habe so einen schönen kirsch­ro­ten Hut gehabt, passend zu ihrem Mantel. Über­haupt habe sie viele schöne Kleider gehabt. Tanja findet einen wirk­lich ele­gan­ten Mantel, zwei Hüte und immer­hin eine kirsch­rote Handtasche.

Zusam­men mit einer wei­te­ren Ladung huma­ni­tä­rer Hilfe rücken wir wieder aus. Außer Vit­ami­nen und Augen­trop­fen haben wir heute auch Lip­pen­fett­stifte und Hand­creme im Gepäck – langsam lernen wir, was man in einem Wald­brand­ge­biet braucht.

Erstmal bringen wir Kla­mot­ten zu der Frau und ihrem Sohn, die auf der Bank vor den Trüm­mern ihres Hauses sitzen. Sie wün­schen sich noch einen Eimer und eine Schere. Wir notie­ren das fürs nächste Mal. Dann besu­chen wir Kata­rina. Sie freut sich wahn­sin­nig über unsere Mit­bring­sel. Und sie spricht. Ohne Stot­tern. Völlig normal. Das wie­derum freut uns wahn­sin­nig. Wir arbei­ten wie­derum eine Stunde mir ihr. Keine Spur mehr vom Stottern.

Nach einem wei­te­ren Arbeits­tag in Mura­towo fahren wir nach Trio­chiz­benka, einem Dorf direkt an der Front­li­nie. Dort haben nur vier Häuser gebrannt, und niemand ist zu Schaden gekom­men. Wir haben uns bei Lila und Wowa zum Abend­essen ange­mel­det. Lila leitet das Ambu­la­to­rium von Trio­chiz­benka – die einzige Anlauf­stelle für medi­zi­ni­sche Hilfe weit und breit. Zu Lila und Wowa zu fahren ist immer wie nach Hause kommen: Schuhe aus, Hände waschen und dann gibt es erstmal große Mengen an Essen und die neu­es­ten Geschich­ten. Heute erzählt Lila, dass sie gehört hat, die Leh­re­rin von Mura­towo könne nicht mehr spre­chen. Schein­bar mühelos hat diese Geschichte die 40 km nach Trio­chiz­benka zurück­ge­legt. Das ist nicht mehr aktuell, sagt Tanja lako­nisch. Jetzt spricht sie wieder.

  • Sam­mel­stelle für Spenden © Imke Hansen, Libe­reco e.V.
  • Zer­störte Häuser im Dorf Woro­nowe © Imke Hansen, Libe­reco e.V.
  • Zer­stör­tes Haus im Dorf Woro­nowe © Imke Hansen, Libe­reco e.V.
  • Gesprä­che im Dorf Mura­towo© Maksim Moi­seenko, Vostok SOS
  • Ver­brannte Kür­bisse © Imke Hansen, Libe­reco e.V.
  • Zer­stör­tes Grund­stück im Dorf Mura­towo © Imke Hansen, Libe­reco e.V.
  • Zer­stör­tes Haus im Dorf Mura­towo © Imke Hansen, Libe­reco e.V.
  • Eine Katze ohne Unter­kunft im Dorf Mura­towo © Imke Hansen, Libe­reco e.V.
  • Zer­stör­tes Grund­stück im Dorf Mura­towo © Imke Hansen, Libe­reco e.V.
  • Im Dorf Woro­nowe © Imke Hansen, Libe­reco e.V.
  • Huma­ni­täre Hilfe © Kon­stan­tin Reutski, Vostok SOS
  • Lösch­fahr­zeug unter­wegs zum Brand­herd © Kon­stan­tin Reutski, Vostok SOS
  • Ver­brann­ter Wald © Kon­stan­tin Reutski, Vostok SOS
  • Feu­er­wehr vor Ort © Kon­stan­tin Reutski, Vostok SOS
  • Lösch-Hub­schrau­ber unter­wegs © Kon­stan­tin Reutski, Vostok SOS

Spen­den­auf­ruf von Libe­reco e.V.

Die Pro­bleme, welche die Brände hin­ter­las­sen haben, sind auch heute noch hoch­ak­tu­ell. Viele Men­schen haben absolut alles ver­lo­ren – nicht nur allen mate­ri­el­len Besitz, sondern auch die Essenz dessen, was wir Heimat nennen. Nicht nur Gegen­stände des täg­li­chen Gebrauchs, sondern auch alle Dinge, mit denen sie sich iden­ti­fi­ziert haben: Fami­li­en­fo­tos, Schmuck, Kuschel­tiere, Erinnerungsstücke.

Es fehlt an Werk­zeu­gen und Mate­ria­lien, um Ordnung zu schaf­fen und Häuser wieder auf­zu­bauen. Men­schen, die in beschä­dig­ten Häusern leben, sind sich unsi­cher, wie sie über den Winter kommen. Manche brau­chen noch neue Fenster oder Öfen, Heiz­ma­te­rial, Werk­zeuge oder Baumaterial.

Libe­reco Part­ner­ship for Human Rights sammelt Geld, um den Opfern der Wald­brände zu helfen, über den Winter zu kommen. Jede Hilfe gelangt direkt in die Dörfer, die am meisten gelit­ten haben. Unsere Unter­stüt­zung ori­en­tiert sich an den indi­vi­du­el­len Bedürf­nis­sen der Betrof­fe­nen und ver­sorgt die Men­schen mit dem, was gerade drin­gend gebraucht wird. Helfen Sie uns dabei!

 

Textende

Dr. phil. Imke Hansen ist eine inter­dis­zi­pli­när arbei­tende His­to­ri­ke­rin für Ost­eu­ro­päi­sche Geschichte mit Schwer­punkt Oral History. Sie ist stell­ver­tre­tende Geschäfts­füh­re­rin der Orga­ni­sa­tion Libe­reco – Part­ner­ship for Human Rights und leitet den Bereich der psy­cho­so­zia­len Hilfe in der Ukraine. 

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