Verbrannte Erde. Ein Augenzeugenbericht von den Waldbränden im ostukrainischen Kriegsgebiet
Der Osten der Ukraine erlebte Anfang Oktober einen außerordentlich heftigen Waldbrand. Nachdem es monatelang nicht geregnet hatte, brannten im Kriegsgebiet des Oblast Luhansk über 20.000 Hektar Wald ab. Durch starken Wind konnte sich das Feuer schnell verteilen und war schwer zu löschen. Es zerstörte über 250 Wohnhäuser, ca. 1000 Wirtschaftsgebäude und kostete 9 Menschenleben. Imke Hansen von Libereco Partnership for Human Rights war mit einem Team der ukrainischen Organisation Vostok SOS vor Ort, um humanitäre und psychologische Hilfe zu leisten. Sie berichtet hier von den ersten Tagen im Waldbrandgebiet, von der Organisation der Hilfe und ihren Erlebnissen in den abgebrannten Dörfern.
Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit Libereco e.V.
Ankunft
Als wir um zehn Uhr morgens in der Oblast Luhansk ankommen, ist die Landschaft in einen leicht schwefelfarbenen Nebel gehüllt. Transparent genug, dass man die Bäume am Horizont noch erkennt, dicht genug, um ein komisches Gefühl zu bekommen. Rauchgeruch kriecht langsam in den Bus. Er wird uns die nächsten Wochen begleiten.
Im Stützpunkt von Vostok SOS, bestehend aus einem Veranstaltungsraum, dem Büro, dem Zimmer für psychologische Hilfe, einer Küche und zwei Schlafräumen treffen wir unsere Kolleg*innen, die 12 Stunden früher losgefahren sind als wir. Die ganze Nacht haben sie Essen, Tee und Taschenlampen verteilt, und geholfen, kleinere Brandherde zu ersticken.
Im Laufe des Nachmittags kommen immer mehr Leute und bringen Sachspenden vorbei – vor allem Kleidung, aber auch Bettwäsche und Decken. Wir besorgen Vitamine, bestellen Nahrungsmittel, organisieren Freiwillige zum Sortieren der Kleiderspenden und schreiben einen Flyer über emotionale erste Hilfe mit der Telefonnummer unserer Hotline. Das Telefon klingelt die ganze Zeit, Hilfesuchende kommen herein, freiwillige Helfer*innen melden sich, und wir haben Mühe, den Überblick zu behalten.
Am Abend bringt unsere Kollegin Anja ihren Mann vorbei. Er betritt unser Zimmer mit den Worten: „Ich brauche psychologische Hilfe.“ Tanja und ich sind mehr als überrascht, diese Worte aus seinem Mund zu hören. Wie die meisten Menschen hier vertritt Ilja sonst eher die Ansicht, dass ein richtiger Mann mit seinen Problemen allein klar kommen muss.
Das Haus von Anja und Ilja steht ganz am Rand von Severodonezk. Drum herum sind alle Häuser abgebrannt. Warum gerade ihr Haus nicht gebrannt hat, wissen sie nicht. In den Ruinen des Nachbarhauses fängt es immer wieder an zu brennen. Ilja hilft seinen Nachbarn immer wieder beim Löschen. Er hat die letzten vier Nächte kaum geschlafen. Selbst wenn er sich hinlegt, schläft er nicht ein. Er will das Haus nicht verlassen, damit niemand plündert. Sein Zaun ist abgebrannt und er fühlt sich schutzlos und permanent unter Strom.
Als der Wald neben ihnen in Flammen stand, wusste er genau, was zu tun ist. Sachen packen, Dokumente zusammen suchen, wegfahren. Er sagt, er habe das ja alles schon oft in Filmen gesehen. Jetzt ist er selbst in einem Film, sagt er, und der hört nicht auf. In seinem Körper scheint jeder Muskel angespannt. Er kann sich nicht freuen, dass sie überlebt haben und ihr Haus noch steht. Er schämt sich dafür, vor denen, deren Häuser abgebrannt sind. Vor seinen Nachbarn. Wir machen Somatic Experiencing mit ihm, eine traumatherapeutische Technik, die ideal dafür ist, solche Erlebnisse zu verarbeiten.
Humanitäre Hilfe
Der Sitz der Organisation Vostok SOS in Severodonezk hat sich in eine ausgewachsene Koordinations- und Sammelstelle verwandelt. Ständig kommen Menschen mit Sachspenden rein, immer noch klingelt pausenlos das Telefon. Im Veranstaltungsraum türmen sich Säcke mit Kleidung, Bettwäsche, Handtüchern, Decken und Kissen zu einem Gebirge. Hinter der Scharte zwischen zwei Bergen ragt ein Flipchart heraus. Jemand hat Jurist darauf geschrieben und einen Pfeil nach rechts gemalt. Hinter dem letzten Kleiderberg sitzt Sergej und berät Menschen, die ihre Dokumente im Feuer verloren haben, die Kompensationen beantragen wollen, ihr Eigentum nicht mehr nachweisen können oder andere juristische Problem haben.
Ehrenamtliche Helfer*innen sortieren die Spenden nach Frauen- Männer- und Kinderbekleidung, Schuhen und Heimtextilien in Säcke, und beschriften diese. Dabei entdecken sie Blazer mit Leopardenmuster, eine Narrenkappe mit Glöckchen, silberne Glitzerhosen und ähnliches. Aktuell werden allerdings vor allem warme Jacken und Pullover, feste Schuhe und Gummistiefel gebraucht.
Eine ältere Frau bringt eine kleine Kiste vorbei. Als wir sie aufmachen kommen eine Handseife, eine Kinderseife, eine Kinderzahnbürste, Zahnpasta, Shampoo, ein kleiner Kamm und ein Waschlappen zum Vorschein – alles sorgfältig verpackt. Es sind keine teuren Produkte, aber die Auswahl und die Akkuratesse ihrer Anordnung sind so beeindruckend, dass wir die Kiste am liebsten an die Wand hängen würden.
Als wir vor der Tür einen Kaffee trinken, kommt Ilja. Auf die Frage, wie er geschlafen hat, antwortet er: „Super.“ Ich hake nochmal nach: „Ernsthaft?“ – „Ernsthaft. Und der Film ist vorbei.“
Wir beladen die Autos. Kostja steht auf dem Dach des Geländewagens und stapelt Decken. Zhenja und Julia kommen gerade mit den Einkäufen an. Entlang des Hauses sind 30 Kisten aufgestellt. In jede Kiste muss je eine Packung Reis, eine Packung Buchweizen, zwei Packungen Haferflocken, zwei Büchsen Sardinen, zwei große Gläser Büchsenfleisch, Zucker, Tee, Seife, Zahnpasta, Spülmittel und Toilettenpapier. Die müssen dann wieder in den Transporter, zusammen mit Wasser, Spaten, Säcken mit Kleidung, Decken, Bettzeug, Töpfen, Geschirr und Besteck. Eine Gruppe entlädt den Transporter, eine andere schleppt Wasserkanister, eine dritte packt die Kisten. Der Betrieb erinnert an Ameisen. Wir besprechen, wer welches Dorf anfährt.
Woronowe
Das Feuer hat eine Grenze gezogen, die die verbrannten Häuser von den verschonten trennt. Aus dem verbrannten Teil kommt eine Frau auf uns zu. Wir registrieren ihren Namen und ihre Adresse und fragen, was sie braucht. Kleidung hat sie von ihren Nachbarn bekommen, aber Lebensmittel nimmt sie gern. Über die Vitamine und die Augentropfen freut sie sich auch. Wir besichtigen ihr stark beschädigtes Haus. Ein Teil ist bewohnbar. Dort schläft sie jetzt zusammen mit ihrem Bruder. Sein Haus ist komplett niedergebrannt.
Sie zeigt uns ihren Garten, wo nur noch vereinzelt verdorrtes Gestrüpp steht. Bis vor ein paar Tagen wuchsen hier noch Tomatenpflanzen, Kürbisse und Paprika. Sie hält sich strikt an die Wege, die für uns nicht mehr sichtbar sind, und tritt nicht auf die Beete, von denen nur noch Asche übrig geblieben ist.
Ein paar Häuser weiter räumt ein älteres Paar Schutt weg. Von ihrem Haus sind nur halbhohe, angesengte Mauern übrig geblieben. Kein einziger geschlossener Raum, kein Stück Dach. Letzten Monat, erzählt die Frau, hat ihr Mann ein neues Gebiss bekommen. Es war sehr teuer. Sie haben dafür ihre gesamten Ersparnisse ausgegeben. Als sie in der Nacht evakuiert wurden, ist das Gebiss im Glas geblieben. Jetzt ist es verbrannt, das teure Gebiss. Und sie haben kein Geld für ein neues, geschweige denn dafür, ihr Haus wieder aufzubauen.
Das nächste Haus ist halbwegs bewohnbar geblieben. In zwei Zimmern sind die Wände geplatzt, alle Fenster sind geschmolzen und überall ist ein Teil der Decke herunter gekommen, aber man kann darin übernachten. Der Hund hat überlebt. Die Hühner nicht.
Vor dem Haus hat sich eine Menschentraube gebildet. Eine Frau weint heftig. Ihr Haus ist stehen geblieben. Sie weint um die Häuser ihrer Nachbarn. Mit einem etwas jüngeren Mann gehe ich zu seinem Grundstück. Er lebt ganz allein, erzählt er mir. Seine Eltern sind gestorben. Er hat keine weiteren Verwandten. Er will das Haus wieder aufbauen, genauso, wie es war. „Ich werde das ganz alleine machen“, sagt er. „Wer wird mir schon helfen? Ich habe ja niemanden.“
In der Nacht ist er davon aufgewacht, dass der Zaun gebrannt hat. Er ist sofort in das gegenüber liegende Haus gerannt. Dort wohnten die beiden ältesten Nachbarn der Straße, die beide nicht mehr gut gehen. Er hat beide aus dem brennenden Haus gerettet.
Modisches Urteil
Es dämmert und die Straßen leeren sich. Abends gehen die Leute in ihre Übergangsquartiere – in Schulen, zu Verwandten oder Nachbarn. Es gibt noch keine Elektrizität. Am Ende einer Straße sehen wir aber noch Funken sprühen.
Neben einer Tonne, in der ein Mann Metallteile zusammenschweißt, treffen wir Anwohner*innen, die Schutt wegräumen. Von den umliegenden Häusern stehen zwei noch zum Teil, der Rest ist vollständig niedergebrannt. Wir stellen uns vor, und sie rufen die Nachbarn aus den zwei halb abgebrannten Häusern.
Auf die Frage, was sie braucht, sagt Natalia, dass sei sehr schwer zu beantworten, wenn man gar nichts mehr hat. Wir packen aus, was wir mithaben. Swjeta und Natalia suchen sich aus den Geschirrkisten Töpfe, Pfannen, Teller und Besteck aus. Maksim schmeißt Säcke mit Kleidung aus dem Wagen. Wir richten zwischen den Flügeltüren des Transporters eine improvisierte Anprobe ein, hängen eine Taschenlampe an der oberen Ecke der Tür auf und begutachten gemeinsam jedes Stück. Das meiste ist zu klein. Immerhin finden wir für Swjeta zwei Pullover und eine Weste und für Natalia einen warmen Mantel, ein Hose für ihren Mann und Hosen und Pullis für die Kinder. Beim Aussuchen und Anprobieren kommt ein Eifer auf, der uns alle entspannt.
- „Das ist hier wie bei dieser Fernsehshow, wie heißt die nochmal?“
- „Modisches Urteil.“
- „Genau, wie bei Modisches Urteil!“
- „Diese Hose ist zu groß für meinen Mann, aber die passt Vasili.“
Ich rufe zur Schweißtonne rüber: „Hier ist eine Hose für Vasili. Wer von Euch ist Vasili?“ Vasili kommt herüber, die anderen Männer schließen sich an. Die Hose ist zu kurz, aber jeder von ihnen findet eine Jacke und eine Mütze, zwei sogar Handschuhe. Danach lehnen sie ab, weiter zu suchen. Es soll auch noch etwas für andere bleiben. Wir erklären, dass unser Büro bis zur Decke voll ist mit Sachen. Mit einigem Zureden nehmen sie noch zwei warme Westen und Decken mit.
Als wir fertig sind, mache ich mich auf die Suche nach einer Toilette. Drei Grundstücke weiter ist erstaunlicherweise das Plumpsklo nicht abgebrannt. Jetzt benutzt es die gesamte Straße. Natalia bringt mich hin. Unser Weg schlängelt sich durch Hügel aus Schutt und Scherben. Auf dem Weg erzählt sie mir, dass ihre zwei Hunde verbrannt sind. Im Licht des Schweißgeräts sehe ich, dass ihr Tränen übers Gesicht laufen.
Muratowo
Am nächsten Tag sind wir im Dorf Muratowo. Wir sind nicht die einzigen, die unterwegs sind. Verschiedene Freiwillige bringen Kleider und Essen in die Dörfer. Die meisten sind im Zentrum des Dorfs unterwegs. Wir konzentrieren wir uns auf die abgelegenen Höfe, wo kaum Hilfe ankommt. Auf der Suche nach diesen Häusern werden die Wege immer unwegsamer.
Vor einem eisernen Tor steht ein Auto. Dahinter ist nichts mehr zu sehen. Das Haus ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Ein älteres Ehepaar hat hier gewohnt. Ihre Dokumente sind verbrannt, wie auch alles andere. Sie wollten ihr Haus nicht verlassen, aber ihre Kinder sind gekommen und haben sie überzeugt, zum Übernachten in die Stadt zu ihrem Sohn zu fahren. Nur deshalb haben wir noch das Auto, sagt der Mann. Nahrungsmittel wollen sie nicht. Es gibt keinen Ort, wo sie die aufbewahren könnten. Sie erzählen, dass sie drei Vorratskammern hatten, die alle randvoll waren. Gemeinsam besichtigen wir einen Haufen verkohlter Kürbisse.
Sie sagen, dass ganz am Ende der Straße noch Häuser stehen. Beim Anfahren versinken unsere Vorderreifen zur Hälfte im Sand. Nachdem wir Ziegelsteine unter den Reifen eingegraben haben kommen wir los. Nach einem Kilometer kurviger Sandpiste sehen wir drei Häuser. Sie stehen alleine auf einer weiten Fläche, die von Kiefern und Birken gesäumt ist. Man sieht, dass es hier einmal sehr schön war.
Wir steigen aus. In der Luft hängt ein Geruch von verbrannten Tieren. Durch den Wind ist die Luft voller Asche. Das erste Haus ist komplett abgebrannt, vor dem zweiten steht ein Auto. Wir rufen und klopfen. Ein Mann bittet uns herein. Seine Frau ist im Krankenhaus in Luhansk. Er braucht nichts, sagt er. Vitamine nimmt er nicht, eine Taschenlampe hat er. Als wir ihm Lebensmittel anbieten, lacht er, und führt uns über einen Schuttberg zu einer halb abgebrannten Vorratskammer. Dort steht ein Meer von Eingemachtem, Gläser in jeder Form und Größe. „Ihr könnt alles mitnehmen. Was soll ich jetzt damit? Hier geht es nur kaputt.“ Wir nehmen ein Glas Honig und ein Glas eingemachte Kirschen mit.
Er erzählt, dass erst nur das Gras am Waldrand gebrannt hat. Ein Feuerwehrfahrzeug sei vorbeigekommen. Auf die Bitte, das Gras zu löschen, hätten sie ihn gefragt, ob er eine Pumpe zum Anschließen der Schläuche habe. Die hatte er natürlich nicht. Da seien sie weitergefahren, aber mit dem Versprechen, wiederzukommen. Zwei Stunden habe er gewartet. Als alles in Flammen stand, habe er seine Angelruten in den Kofferraum geworfen und sei durch die Flammen gefahren. Es war kein großes Feuer, sagt er. Das hätte ohne Probleme gelöscht werden können. Dann würde das hier alles noch stehen. Den Winter werden wir woanders verbringen müssen, sagt er, aber er könne sich nicht mehr vorstellen, in der Stadt zu wohnen. Im Umkreis dieses Hauses sind 12 Seen, erzählt er. Er kann hier jeden Tag an einem anderen See angeln.
Bullerbü
Wir gehen zum letzten Haus. Es ist schwer beschädigt. Erst kommt ein Mann aus dem Tor und stellt sich davor, seine Frau bleibt im Tor stehen. Es sieht aus, als ob sie ihr Reich verteidigen wollen, von dem kaum etwas übrig geblieben ist. Wir fragen, ob sie Wasser haben. Ihr Brunnen funktioniert noch, aber sie brauchen Lebensmittel und Arbeitshandschuhe. Während wir uns unterhalten, fällt mir auf, dass die Frau wie erstarrt ist. Ich stelle mich zu ihr, und frage sie, wie sie sich fühlt.
„Gar nicht“, antwortet sie. Ich frage sie, ob sie mit mir ein paar Übungen machen wolle, um ihr Nervensystem zu stärken. Sie nickt. Wir orientieren uns in den Trümmern. Sie deutet auf verkohlte Pflöcke, zerbrochene Ziegel und Metallteile und erzählt mir, was das einmal war. Aber das Schlimmste sei, dass die Nachbarn jetzt weg seien. Jeden Tag habe sie mit Irina und Natalia Tee getrunken, reihum auf den Bänken vor dem Haus, bei schlechtem Wetter in der Küche. Alle Feiertage haben sie gemeinsam verbracht, wie eine große Familie. Was sie erzählt, klingt wie die drei Höfe von Bullerbü. Der Gegensatz zu den verkohlten Überresten, die wir davon sehen, könnte kaum größer sein.
Nach etwa 20 Minuten Somatic Experiencing am Gartentor beginnt sie zu weinen, dann zu lachen. Dann sagt sie verwundert, dass sie ihren Kopf wieder bewegen kann. Ich will ihr noch Vitamine dalassen. Sie habe ganz dreckige Hände, sagt sie. Ich zeige ihr meine, mit denen ich kurz zuvor die Vorderreifen unseres Busses ausgegraben habe. Sie lacht, nimmt die Vitamine und verspricht, die Hotline anzurufen, falls es ihr in den nächsten Tagen nicht besser gehen sollte.
Wir gehen zurück zum Auto. Vom Waldrand weht Rauch rüber, unsere Augen brennen, die Schleimhäute sind geschwollen, alles fühlt sich staubig an. Es riecht immer noch nach verbrannten Tieren und uns alle erfasst die Traurigkeit, die über diesen drei Höfen liegt.
Katarina
Wir fahren zurück ins Zentrum von Muratowo und suchen die anderen zwei Teams, die unterwegs sind. Auf einer großen Freifläche sitzen eine Frau und ihr erwachsener Sohn auf einer Bank, vor dem, was einmal ihr Haus war. Sie sehen aus wie eingefroren. Das fällt umso mehr auf, als alle drum herum in Bewegung sind, mit Spaten und Schubkarren, Schutt wegräumend oder Gegenstände suchend, die noch zu gebrauchen sind. So sitzen sie schon seit drei Tagen, seitdem ihr Haus abgebrannt ist, sagen die Nachbarn. Wenn es dunkel wird, gehen sie in die Schule, wo sie übernachten. Am nächsten Tag sitzen sie wieder genauso da. Wir gehen hin und sprechen mit ihnen. Wenn wir hier nicht säßen, würden wir keine humanitäre Hilfe bekommen, sagen sie. Das ist zweifellos richtig, denn die Hilfe wird in erster Linie an die verteilt, die bei ihren verbrannten Häusern vorgefunden werden. Aus den Trümmern ihres Hauses ragen die Skelette ihrer Bettgestelle hervor.
Das andere Team hat sich im Dorf erkundigt, ob es jemanden gibt, dem oder der es offensichtlich psychisch schlecht geht. Alle angesprochenen hätten die gleiche Person genannt: Katarina, die Lehrerin der Dorfschule. Die könne seit dem Brand nicht mehr sprechen.
Als das Feuer am Abend das Dorf erreicht hatte, war Katarinas Haus eines der ersten, was abbrannte. Die Feuerwehrleute kamen zu spät um sie herauszuholen. Ihr Name wurde auf der Liste der Todesopfer aufgenommen. Zwei Uhr in der Nacht, als das Haus abgebrannt und das Feuer unter Kontrolle war, fand ihr Sohn sie in einem gemauerten Schuppen. Lebendig.
Tanja hat schon kurz mit ihr gesprochen, und sie möchte unsere Hilfe gerne in Anspruch nehmen. Ihr Grundstück sieht von außen aus wie eine kleine Festung, mit Mauern und einem soliden Zaun. Das Eisentor ist mit bunten Blumen bemalt. Als wir ihren völlig verwüsteten Hof betreten stockt mir erstmal der Atem. Wir gehen unter einem Baldachin verkohlter Weinreben hindurch. Zwischen Schutthaufen ein Kamin mit Ornamenten, eine halbe Porzellantasse, Blumentöpfe. Ein Herd weist darauf hin, wo einmal die Küche war. Alles zeugt davon, dass Haus und Garten mit Liebe gestaltet und sorgfältig gepflegt worden waren. Unter einem Haufen Steine kommen zwei Katzenbabys hervor, beide gerade so groß wie meine Hand. Ihr Fell ist leicht angesengt, aber sonst scheinen sie in Ordnung zu sein. Die Mutter der beiden ist verbrannt, genau wie ihre Geschwister, die Ziegen und die Hühner. Überlebt haben nur der Hund und diese beiden Kätzchen. Wie ihnen das gelungen ist, weiß Katarina nicht. Sie nimmt eines der beiden auf den Arm und lässt es nicht mehr los. Es sieht aus, als wenn sie sich an ihm fest hält.
Tanja, Maksim, Katarina und ich setzen uns auf die kleine Mauer, die die Blumenbeete begrenzt. Andere Sitzgelegenheiten gibt es nicht mehr. Zwei Stunden machen wir Somatic Experiencing. Erst auf dem Mäuerchen und dann vor der Eisentür, auf die sie immer wieder zu sprechen kommt. Im Laufe der Sitzung wechselt sie von schlimmem Stottern zum Verstummen und wieder zu fast flüssigem Sprechen – je nachdem ob wir uns in der Nähe des Schreckens bewegen, oder weit weg davon, in allem, was sie dem Gegenteil zuordnet. Mit der Zeit werden die Perioden, in denen sie sprechen kann, immer länger.
Am Ende verabschiedet Katarina uns herzlich. Sie ist unendlich müde, und auch wir sind völlig fertig. Alles an uns ist dreckig und voller Asche. Hände und Lippen sind von der trockenen Luft aufgesprungen. Auf dem Weg zum Auto schwankt der Boden unter meinen Füssen.
Am nächsten Morgen brennen die Augen immer noch. Rusana sagt, ihr Hals fühle sich an als hätte sie die ganze Nacht geraucht. Tanja beginnt, die Spenden nach Hüten zu durchsuchen. Denn das hat sich Katarina gewünscht, als wir sie gefragt haben, was sie vermisst. Sie habe so einen schönen kirschroten Hut gehabt, passend zu ihrem Mantel. Überhaupt habe sie viele schöne Kleider gehabt. Tanja findet einen wirklich eleganten Mantel, zwei Hüte und immerhin eine kirschrote Handtasche.
Zusammen mit einer weiteren Ladung humanitärer Hilfe rücken wir wieder aus. Außer Vitaminen und Augentropfen haben wir heute auch Lippenfettstifte und Handcreme im Gepäck – langsam lernen wir, was man in einem Waldbrandgebiet braucht.
Erstmal bringen wir Klamotten zu der Frau und ihrem Sohn, die auf der Bank vor den Trümmern ihres Hauses sitzen. Sie wünschen sich noch einen Eimer und eine Schere. Wir notieren das fürs nächste Mal. Dann besuchen wir Katarina. Sie freut sich wahnsinnig über unsere Mitbringsel. Und sie spricht. Ohne Stottern. Völlig normal. Das wiederum freut uns wahnsinnig. Wir arbeiten wiederum eine Stunde mir ihr. Keine Spur mehr vom Stottern.
Nach einem weiteren Arbeitstag in Muratowo fahren wir nach Triochizbenka, einem Dorf direkt an der Frontlinie. Dort haben nur vier Häuser gebrannt, und niemand ist zu Schaden gekommen. Wir haben uns bei Lila und Wowa zum Abendessen angemeldet. Lila leitet das Ambulatorium von Triochizbenka – die einzige Anlaufstelle für medizinische Hilfe weit und breit. Zu Lila und Wowa zu fahren ist immer wie nach Hause kommen: Schuhe aus, Hände waschen und dann gibt es erstmal große Mengen an Essen und die neuesten Geschichten. Heute erzählt Lila, dass sie gehört hat, die Lehrerin von Muratowo könne nicht mehr sprechen. Scheinbar mühelos hat diese Geschichte die 40 km nach Triochizbenka zurückgelegt. Das ist nicht mehr aktuell, sagt Tanja lakonisch. Jetzt spricht sie wieder.
Spendenaufruf von Libereco e.V.
Die Probleme, welche die Brände hinterlassen haben, sind auch heute noch hochaktuell. Viele Menschen haben absolut alles verloren – nicht nur allen materiellen Besitz, sondern auch die Essenz dessen, was wir Heimat nennen. Nicht nur Gegenstände des täglichen Gebrauchs, sondern auch alle Dinge, mit denen sie sich identifiziert haben: Familienfotos, Schmuck, Kuscheltiere, Erinnerungsstücke.
Es fehlt an Werkzeugen und Materialien, um Ordnung zu schaffen und Häuser wieder aufzubauen. Menschen, die in beschädigten Häusern leben, sind sich unsicher, wie sie über den Winter kommen. Manche brauchen noch neue Fenster oder Öfen, Heizmaterial, Werkzeuge oder Baumaterial.
Libereco Partnership for Human Rights sammelt Geld, um den Opfern der Waldbrände zu helfen, über den Winter zu kommen. Jede Hilfe gelangt direkt in die Dörfer, die am meisten gelitten haben. Unsere Unterstützung orientiert sich an den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen und versorgt die Menschen mit dem, was gerade dringend gebraucht wird. Helfen Sie uns dabei!
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