Der Kompromisskandidat Anatolij Hryzenko
Anatolij Hryzenko liegt in vielen Umfragen auf dem fünften Platz. Wofür steht der ehemalige Verteidigungsminister, hinter dem sich einige der Maidan-Aktivisten geschart haben? Von Steffen Halling
Anatolij Stepanowytsch Hryzenko wurde 1957 in Bahatschiwka, im zentralukrainischen Oblast Tscherkassy geboren. Nach dem Besuch einer Militärschule studierte er an der angesehenen Militärischen Luftfahrtakademie in Kyjiw, wo er einen Abschluss als militärischer Elektroingenieur erlangte. Es folgten der Militärdienst und mehre Stationen im ingenieurswissenschaftlichen Sektor der Luftwaffe. Zwischen 1992 und 1994 leitete er das Analysezentrum des Generalstabs der ukrainischen Streitkräfte. In dieser Zeit hielt er sich auch in den USA auf, wo er die Akademie der Luftstreitkräfte der Vereinigten Staaten besuchte. Später leitete er den analytischen Dienst des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine. Nach dem Tod seines damaligen Chefs Oleksandr Razumkow baute Hryzenko zusammen mit mehreren Kollegen das Ukrainische Zentrum für Ökonomische und Politische Studien auf, das heute als Razumkow-Zentrum bekannt ist. Hryzenko leitete den Think Tank, der auch zu den renommiertesten Meinungsforschungsinstituten des Landes zählt, von 1999 bis 2005.
Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2004 schloss sich Hryzenko dem Wahlkampfstab von Wiktor Juschtschenko an. Nach der Orangen Revolution, als sich die Ukraine um eine Annäherung an EU und NATO bemühte, wurde er von Juschtschenko zum Verteidigungsminister ernannt, verlor diesen Posten allerdings 2007 wieder in Folge eines Regierungswechsels. Im selben Jahr kandidierte er erfolgreich auf der Liste von Juschtschenkos Parteienbündnis Nascha Ukrajina (Unsere Ukraine) um ein Abgeordnetenmandat in der Werchowna Rada. Im Parlament leitete er den Ausschuss für Nationale Sicherheit und Verteidigung. 2008 gründete Hryzenko die Organisation Hromadjanska Posyzija (Bürgerliche Position), die er 2010 als Partei registrieren ließ. Im selben Jahr kandidierte Hryzenko für das Amt des Präsidenten der Ukraine, erhielt jedoch nur 1,2 Prozent der Stimmen. Mit etwas mehr als 5 Prozent der Stimmen scheiterte er auch 2014 als Präsidentschaftskandidat. Zuvor war er bei der Parlamentswahl 2012 erneut ins Parlament eingezogen, dieses Mal an dritter Stelle der Wahlliste von Julija Tymoschenkos Vaterlands-Partei. Anfang 2014 verließ er Tymoschenkos Fraktion und reichte seinen Rücktritt als Abgeordneter ein. Seiner Partei, die an der vorgezogenen Parlamentswahl 2014 zusammen mit der Partei Demokratische Allianz teilnahm, nützte dies jedoch nichts. Sie scheiterte an der Fünf-Prozent-Hürde.
Trotz dieser Wahlniederlagen galt Hryzenko, der mit Julija Mostowa, der Chefredakteurin der renommierten ukrainischen Wochenzeitung »Dzerkalo Tyschnja«, verheiratet ist, zuletzt noch als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat. Lange Zeit lag er in Umfragen an zweiter Stelle hinter Tymoschenko und hatte Chancen, sie bei einer direkten Stichwahl zu bezwingen – obwohl seine rhetorischen Fähigkeiten im Vergleich zu der redegewandten Populistin nicht unbedingt zu seiner Stärke zählen. Das Image, das ihm anhaftet, ist vor allem das eines nicht-käuflichen Politikers, der anders als die meisten Vertreter der ukrainischen Elite kein luxuriöses Leben führe und der als erfahrener Militär vor allem den außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen der Ukraine begegnen könne. Mit steigender Popularität ist jedoch auch Kritik an ihm gewachsen, die sich aus seiner Zeit als Verteidigungsminister speist: So hatte die Generalsstaatsanwaltschaft bereits 2014 Untersuchungen bezüglich illegaler Waffengeschäfte gegen hochrangige Beamte des Verteidigungsministeriums eingeleitet. 2016 behauptete die Sprecherin des Generalstaatsanwalts Jurij Luzenko, dass das größte illegale Waffengeschäft in jene Zeit falle, in der Hryzenko das Ministerium leitete. 2018, als sich Hryzenko noch große Hoffnungen auf das Präsidentenamt machen konnte, wurde eine parlamentarische Untersuchungskommission eingerichtet, um Korruptionsfälle in den ukrainischen Streitkräften zwischen 2004 und 2014 zu untersuchen. Hryzenko betrachtet dies als Diskreditierungsversuch gegen ihn.
Hryzenkos Umfragewerte sind zuletzt zurückgefallen: Je nach Umfrage würden zwischen 6–9 Prozent der Wähler, die sich bereits entschieden haben, für Hryzenko stimmen. Neben den kursierenden Korruptionsfällen aus der Vergangenheit wird das vor allem auch damit erklärt, dass er von keinem Oligarchen gefördert werde und dementsprechend über weitaus weniger Wahlkampressourcen und Fernsehpräsenz als viele seiner Kontrahenten verfüge. Dennoch soll Hryzenko ein gutes Verhältnis zum Oligarchen Wiktor Pintschuk pflegen. Seine Tochter arbeitet in dessen Stiftung und sowohl Hryzenko als auch seine Ehefrau sind in der Vergangenheit bei Veranstaltungen des Milliardärs aufgetreten. Hryzenko und seine Partei Hromadjanska Posyzija, seit 2016 Mitglied in der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), erfuhren zuletzt Unterstützung von prominenten Vertretern der interfraktionellen Gruppe der sogenannten »Eurooptimisten« (Mustafa Najem, Serhij Leschtschenko, Switlana Zalischtschuk) und anderer kleinerer Graswurzelparteien. Ihr Ziel wird es vor allem sein, in Zukunft eine möglichst starke Parlamentsfraktion zu stellen. Die Bildung einer bürgerlichen Allianz mit der Partei Samopomitsch des Bürgermeisters von Lwiw und Präsidentschaftsanwärters Andrij Sadowyj ist bisher jedoch nicht zustande gekommen.
Update: Anfang März kündigte Sadowyj an, seine Kandidatur zu Gunsten von Hryzenko zurückzuziehen und diesen zu unterstützen.
Der Artikel ist als Teil einer Kooperation mit den Ukraine-Analysen (Nr. 213) entstanden, wo er parallel veröffentlicht wurde.
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