Die Erwartungen im Donbas vor dem Normandie-Gipfel in Paris
Die Erwartungen an das Normandie-Gipfeltreffen sind gemischt. Einige Ukrainer wittern Gefahr, von Putin und den Europäern um ihre Sicherheit gebracht zu werden. Wie aber sehen es die Bewohner im Donbas? Von Sébastien Gobert
„Keiner hätte damit gerechnet, dass es eine ordentlich befestigte Straße geben würde, aber jetzt ist sie da. Bereits seit zwei Monaten fährt alle fünf Minuten ein Bus vom Kontrollposten zur Brücke. Und wir haben eine neue Brücke, über die wir gehen können. Wer weiß, was als nächstes kommt?“ Oleksandr Rodnoj ist ein junger Ukrainer, der täglich den Kontrollpunkt Stanyzja Luhanska passiert, um die auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet gekauften Lebensmittel im Gebiet der von Russland unterstützten „Volksrepublik Lugansk“ (LNR) zu verkaufen. Vor kurzem hat er etwas beobachtet, was er für unmöglich hielt: einen militärischen Rückzug beider Seiten rund um den Kontrollpunkt und den Neubau der Brücke über den Fluss Siwerskyj Donez, die 2015 zerstört wurde. „Die Leute sagen, dass hier vielleicht schon bald Frieden herrscht“, fährt er fort. „Das weiß ich nicht, aber Selenskyj hat definitiv neue Möglichkeiten eröffnet.“
Die kürzlich erfolgten Militärrückzüge in Stanyzja Luhanska, Solote und Petrowske könnten tatsächlich zu Fortschritten bei politischen Aspekten der Friedensverhandlungen führen. Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin treffen sich dafür am 9. Dezember in Paris. Das wäre der erste Gipfel im sogenannten Normandie-Format seit Oktober 2016 unter Leitung von Angela Merkel und Emmanuel Macron. An offizieller Stelle ist man bemüht, die Hoffnungen auf eine sofortige Lösung des Konflikts zu bremsen. Bei den zuletzt stattfindenden Abzügen handelt es sich um isolierte Aktionen in einer Vielzahl sich fortsetzender Auseinandersetzungen und komplexer Probleme. Da sich aber alle Parteien auf das Treffen in Paris geeinigt haben, wird auch ein konkretes Ergebnis erwartet, egal wie bescheiden es letztlich ausfallen wird. Was erwarten die Bürger und Soldaten vor Ort von diesem Treffen? Hier ist ein Lagebericht für die „Kontaktlinie“ (offizielle Bezeichnung der OSZE für die Frontlinie) vor dem 9. Dezember.
Zunächst muss man berücksichtigen, dass der militärische Rückzug in Stanyzja Luhanska, Solote und Petrowske nur in sehr kleinen Bereichen der 400 Kilometer langen Kontaktlinie stattfand. Tödliche Beschüsse sind noch an der Tagesordnung. In den letzten zehn Tagen sind mindestens drei ukrainische Solden ums Leben gekommen. Der tragische Tod der Medienikone „Baba Mascha“, die durch einen Brand in ihrem Haus in Optyne ums Leben kam, erinnert daran, dass Zivilisten die ersten Opfer des Konflikts sind. Die große Verbreitung von Landminen stellt noch für Jahrzehnte eine Gefährdung für die Bevölkerung dar.
In dieser Hinsicht ist Stanyzja Luhanska ein beeindruckendes Beispiel für die aktuellen Anstrengungen, Spannungen abzubauen. Sowohl die neu gebaute Brücke als auch die regelmäßige Busverbindung haben die täglichen Überquerungen deutlich verbessert. Die LNR-Flaggen auf der einen und ukrainische Flaggen auf der anderen Seite markieren klar, wer das Gebiet kontrolliert. Dennoch befindet sich in Sichtweite der Kontrollpunkte kein Militär, sondern nur vier unbewaffnete Verbindungsoffiziere. Offiziellen Statistiken zufolge passieren jeden Tag über 13.500 Zivilisten den einzigen Übergang im Oblast Luhansk (der nächste Übergang befindet sich in Majorsk, rund 200 km westlich). Die Tatsache, dass so viele Zivilisten jeden Tag die Grenze überqueren, zeigt, dass „es keinen ethnischen Hass gibt, wie er in den Balkankriegen zu beobachten war“, hebt der ehemalige stellvertretende Leiter der OSZE-Beobachtermission, Alexander Hug, wiederholt hervor. Dadurch ist ein konstruktiver politischer Dialog wohl möglich, sofern sowohl Kyiv als auch Moskau die richtigen Rahmenbedingungen dafür schaffen. Geopolitische Hindernisse haben dazu geführt, dass viele Ukrainer den Konflikt als Sackgasse betrachten. Gemäß einer Umfrage des Razumkov-Zentrums vom Oktober bevorzugen 39 % ein Einfrieren des Konflikts.
Sollte der Gipfel in Paris zu einem Friedensabkommen irgendeiner Art führen, muss es von der lokalen Bevölkerung getragen werden, um umgesetzt werden zu können. Einige Fragen an Passanten am Kontrollpunkt Stanyzja Luhanska zeigen, wie schwierig das sein könnte. Sobald die Zivilisten ihre Verzweiflung und Erschöpfung nach fast sechs Jahren Auseinandersetzung geäußert haben, gehen die Meinungen zur politischen Lage auseinander. Eine Frau spricht sich für eine klare Trennung zwischen Luhansk und Kyiv aus, weil „wir Russisch sprechen und in der LNR im Gegensatz zur Ukraine keine Nationalisten dulden“. Eine andere hofft auf eine komplette Reintegration in die Ukraine: „Wir wollen nicht in ihrer LNR leben.“ Ein weiterer Passant wünscht sich einen „autonomen Status innerhalb der Ukraine. Wir haben das Recht errungen, anders zu leben.“ Dies widerspricht den Ergebnissen der Razumkov-Umfrage, der zufolge sich 56 % der Befragten für die Reintegration der LNR und der DNR in die Ukraine „mit demselben Status wie vor dem Kriegsausbruch“ ausgesprochen haben. Dass die am Kontrollpunkt Stanyzja Befragten erstaunlicherweise immer von „wir“ sprachen, wenn sie eine politische Äußerung abgaben, macht das Erreichen eines Konsenses noch schwieriger. Wie lässt sich dieses „Wir“ definieren?
Das müssen die Verhandlungsführer und westlichen Diplomaten berücksichtigen, wenn sie nicht den Fehler von Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault wiederholen wollen. Sie waren 2016 und 2017 als deutscher bzw. französischer Außenminister häufiger nach Kyiv gereist. Jedes Mal forderten sie von den ukrainischen Behörden, lokale Wahlen abzuhalten, ohne dabei sicherzustellen, dass von Moskau, Luhansk und Donezk grundlegende Fragen vorab geklärt werden. Das heißt die Sicherheit der Wahlkämpfer und Wähler, die Schaffung einer vielfältigen Medienlandschaft und die Wiederherstellung der ukrainisch-russischen Grenze unter Kontrolle Kyivs. Auch weil ihre Forderungen nicht den Realitäten des Konflikts entsprachen, erreichten deutsche und französische Unterhändler keine langfristige Waffenruhe.
Bisher ist das wohl der größte Erfolg von Wolodymyr Selenskyj. In Stanyzja Luhanska, Solote und Petrowske ist der Waffenstillstand stabil. Am 26. November waren die ukrainischen Soldaten damit beschäftigt, neue Gräben einen Kilometer unterhalb der zuvor aufgegebenen Position auszuheben. „Wir befolgen Befehle“ war die Hauptaussage der Soldaten, wobei keiner die Skepsis gegenüber den Abzugsaktivitäten verbergen konnte. Der Grund für das offene Missfallen war, dass sie trotz der niedrigen Temperaturen aus dem Nichts neue Stellungen aufbauen mussten. Ein solches Durcheinander bei den Streitkräften steht in Zusammenhang mit dem offenen Widerspruch einiger Kriegsveteranen und nationalistischer Aktivisten gegen den Entspannungsprozess. Sie haben geschworen, die regulären Stellungen bei einem Angriff der Separatisten zu übernehmen. Damit wird eines der Risiken im Friedensprozess für Wolodymyr Selenskyj deutlich: Die Büchse der Pandora zu öffnen, würde öffentliche Kritik hervorrufen und zu politischer Instabilität in der Ukraine führen.
Das zeigt auch, wie stark das Misstrauen ukrainischer Kämpfer gegenüber den von Russland unterstützten Kräften ist. „Wenn wir uns zurückziehen, schleichen sie sich ein und schüchtern die Zivilisten ein“, hebt der Soldat Oleksandr hervor. Er ist an der Frontstellung in Awdijiwka , weniger als 70 Meter von der feindlichen Stellung entfernt, stationiert. Hier hat der Krieg nie aufgehört und es kommt jede Nacht zu Schusswechseln, jedes Mal wegen „Provokationen der anderen Seite“, wie Oleksandr betont. Unabhängig davon steht fest, dass das von Russland unterstützte Luhansk und die Behörden in Donezk Wolodymyr Selenskyj in keinster Weise bei seinen Bemühungen unterstützen, Spannungen abzubauen. Sie haben wiederholt erklärt, dass sie keine Integration in die Ukraine wollen. Die Vertreterversammlung der DNR hat ein Gesetz zu den „Staatsgrenzen“ erlassen, das alle Verwaltungsgrenzen des Oblast Donezk umfasst. Obwohl sowohl die LNR als auch die DNR nur dank der Unterstützung Russlands seit 2014 existieren, können sie nun für sich sprechen, ähnlich wie die nicht anerkannte Regierung von Transnistrien. Das muss in irgendeiner Form bei den Verhandlungen berücksichtig werden.
Das bevorstehende Treffen in Paris findet mit vielen Ungewissheiten statt. In gewisser Hinsicht könnte man argumentieren, dass der Status quo der letzten fünf Jahre für Kyiv und Moskau politisch bequem war, trotz der weiteren Todesopfer. Man sollte Wolodymyr Selenskyj wohl anrechnen, dass er versucht, den Status quo zu ändern, unabhängig von den Ergebnissen, die er erzielt. Egal, ob er ein politisches Abkommen erreicht oder nicht, für ihn bleibt es wichtig, sich auch weiterhin für die Verbesserung der humanitären Situation für die Einwohner des Donbas einzusetzen. Wie der Wiederaufbau der Brücke in Stanyzja Luhanska zeigt, ist der beste Weg, die Herzen und Köpfe der lokalen Bevölkerung zu gewinnen, mehr zu wagen als eine politische Positionierung.
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