Ein deut­sches New York im Donbas

© UNDP UKRAINE

An der Front­li­nie im Donbas kämpft eine Klein­stadt ums Über­le­ben und für eine bessere Zukunft für ihre zwölf­tau­send Ein­woh­ner. Die Stadt­ver­wal­tung plant nun, den Ort umzu­be­nen­nen und ihm jenen Namen zurück­zu­ge­ben, den ihm deut­sche Men­no­ni­ten im 19. Jahr­hun­dert ver­lie­hen hatten: New York. Von Sébas­tian Gobert

Die Fassade ist in ele­gan­tem Bor­deaux gestri­chen. Im Inneren des Gebäu­des lenkt ein metal­li­scher Tor­bo­gen den Blick auf einen weit­läu­fi­gen Raum, der als moderne Kon­fe­renz­halle genutzt werden soll. Ein Sei­ten­raum ist für eine NGO vor­ge­se­hen und sogar ein Hotel­raum ist geplant: Eines der ältes­ten Gebäude in Now­ho­rodske wurde lie­be­voll reno­viert. „Das Haus, das die Familie Thies­sen 1910 errich­ten ließ, war in den letzten Jahr­zehn­ten ziem­lich ver­fal­len. Bald soll hier das einzige Kul­tur­zen­trum entlang der 400 Kilo­me­ter langen Front­li­nie ent­ste­hen“, erläu­tert Mykola Lenko, Bür­ger­meis­ter von Now­ho­rodske. „Das Haus wird auch zum ersten Hotel im ukrai­ni­schen New York“, sagt Lenko. Gegen alle Wider­stände will er die Stadt, die sich nur 40 Kilo­me­ter ent­fernt vom durch Russ­land okku­pier­ten Donezk befin­det, zu einem attrak­ti­ven Ziel für Tou­ris­ten machen.

© Niels Acker­mann /​ Lundi13

Das ukrai­ni­sche New York

Die Geschichte von New York reicht bis ins 18. Jahr­hun­dert zurück. Die rus­si­sche Zarin Katha­rina II. holte damals deut­sche Kolo­nis­ten ins Land, um die kurz zuvor erober­ten Gebiete östlich des Dnipro zu besie­deln. Der Land­strich war damals als Nowo Rossija – „Neu­ru­ss­land“ – bekannt. Men­no­ni­ti­sche Fami­lien, Mit­glie­der einer evan­ge­li­schen Frei­kir­che, grün­de­ten die Kolonie Chor­tyzja bei Sapo­rischschja, wo sich früher die Kosa­ken­sied­lung Sitsch befand. Die deut­schen Men­no­ni­ten ver­teil­ten sich bald in der Region. Das Grün­dung­da­tum von New York ist nicht genau bekannt. Erst­ma­lig Erwäh­nung findet der Ort bei einer Volks­zäh­lung im Jahr 1859 zur Zeit des Gou­ver­ne­ments Jekaterinoslaw.

Um den Namen „New York“ ranken sich zahl­rei­che Legen­den. Eine davon besagt, dass ein Bür­ger­meis­ter des Ortes mit einer Ame­ri­ka­ne­rin aus dem Big Apple ver­hei­ra­tet gewesen sei. Einer anderen zufolge soll ein aus den USA zuge­zo­ge­ner Unter­neh­mer den Ort nach der ame­ri­ka­ni­schen Metro­pole benannt haben.

Der His­to­ri­ker Wiktor Kowalow erklärt sich den Orts­na­men mit einem Fehler in der Trans­li­te­ra­tion, wodurch aus Neu Jork, einer Gemeinde im Land­kreis Stade, im Rus­si­schen „Нью-Йорк“ wurde. Dass sich die Grün­der­vä­ter der ukrai­ni­schen Gemeinde damit einen Scherz erlaubt haben, schließt er nicht aus. 

Unbe­strit­ten ist, dass es die deut­sche Kolonie bald zu einem gewis­sen wirt­schaft­li­chen Wohl­stand brachte. Bereits seit 1894 pro­du­zierte eine Fabrik Fliesen, Back­steine und Maschi­nen für die Land­wirt­schaft. Der Ort, der sich um die Fabrik herum ent­wi­ckelte, war damals mit den neu­es­ten Tech­no­lo­gien aus­ge­stat­tet: Vier Dampf­ma­schi­nen, Elek­tri­zi­tät, Tele­gra­phen und Stein­pflas­ter auf der Haupt­straße, der soge­nann­ten „Garten Strasse“. Eine zweite Fabrik eröff­nete 1917 und pro­du­zierte Phenol und Naph­tha­lin, das für die Mäntel der rus­si­schen Sol­da­ten im Ersten Welt­krieg benö­tigt wurde.

Eine Fliese mit dem Namen „New York“ © Niels Acker­mann /​ Lundi13

Von „New York“ zu „Neu­stadt“

New York über­lebte das 20. Jahr­hun­dert nicht. Im Zuge der beiden Welt­kriege wurden die deut­schen Ein­woh­ner aus­ge­wie­sen, ver­haf­tet, erschos­sen oder nach Zen­tral­asien depor­tiert. Der Ort selbst verlor seine regio­nale Bedeu­tung. Geschul­det war dies der Ent­wick­lung der Berg­bau­in­dus­trie in Dsersch­insk (heute Torezk), Hor­liwka und Donezk, letz­tere heute in der rus­sisch-kon­trol­lier­ten, so genann­ten Volks­re­pu­blik Donezk gelegen. 1951 wurde New York durch Beschluss der Wer­chowna Rada der Ukrai­ni­schen SSR in Now­ho­rodske – „Neu­stadt“ – umbe­nannt. Der Name „New York“ jedoch hielt sich noch eine ganze Weile in den Köpfen der Leute. His­to­ri­ker Wiktor Kowalow erzählt von einem Brief an einen Ein­woh­ner im ukrai­ni­schen New York, der das Inter­esse des KGB weckte. „Sie dachten, jemand wollte Kontakt mit Amerika auf­neh­men“, berich­tet er.

Dem his­to­ri­schen Namen misst der Bür­ger­meis­ter Mykola Lenko gerade deshalb so viel Bedeu­tung bei, weil die Geschichte von Now­ho­rodske viel weniger glück­lich verlief. Nach einer Zeit rela­ti­ven Wohl­stands in der Sowjet­union erlebte die Stadt einen ähn­li­chen Nie­der­gang wie viele andere Orte in der Region. Die Maschi­nen­fa­brik machte 2006 dicht und das Phe­nol­werk wurde dem umstrit­te­nen Olig­ar­chen Rinat Ach­me­tow zur Aus­beu­tung durch seinen Konzern Met­in­vest über­las­sen. 2014 war Now­ho­rodske einige Wochen lang von durch Russ­land unter­stützte Sepa­ra­tis­ten besetzt, bevor sich die Front­li­nie weiter nach Osten ver­schob. Seitdem dros­selte die Phe­nol­fa­brik ihre Pro­duk­tion und beschäf­tigt immer weniger Men­schen. Im Sommer 2019 musste die Stadt wegen unbe­zahl­ter Rech­nun­gen 70 Tage ohne Wasser aus­kom­men. Während der Corona-Krise hat die Gemeinde eine dop­pelte Last zu tragen. „Die Preise steigen und es mangelt an ver­schie­de­nen Lebens­mit­teln“, berich­tet die Stu­den­tin Karina War­fo­lo­me­jewa. „Wir bekom­men keine Hilfe.“ Die junge Frau zeigt Videos von nächt­li­chen Gefech­ten, zu denen es in der letzten Zeit wieder ver­mehrt gekom­men ist.

„Das Leben hier ist sehr schwer“, gesteht Vize­bür­ger­meis­te­rin Tetiana Krasko ein. „Darum wollen wir unsere Mit­bür­ger durch neue Pro­jekte moti­vie­ren.“ Die Gemeinde hat nicht nur das Thies­sen-Haus reno­viert, sondern auch die Sport­halle und das Gemein­de­zen­trum saniert sowie Solar-Panels an den Stra­ßen­la­ter­nen ange­bracht. Trotz­dem sieht sich die Gemeinde zuneh­mend mit Pro­ble­men kon­fron­tiert: Die Phe­nol­fa­brik zahlt seit 2017 keine Steuern mehr an den Ort, weil eine Steu­er­re­form dem Werk erlaubte, sich dem nahe gele­ge­nen Koh­le­werk in Awdi­jiwka anzu­schlie­ßen. So fiel das Budget der Gemeinde von 4,2 Mil­lio­nen Hrywna auf nur noch 1,3 Mil­lio­nen Hrywna.

Das Projekt, die Stadt in New York umzu­be­nen­nen, wurde 2016 angekurbelt. 

Aller­dings wird die Idee von der Regio­nal­ver­samm­lung blo­ckiert und vom Par­la­ment der Ukraine, der Wer­chowna Rada, igno­riert. Auch ein Prjanik, ein pfef­fer­ku­chen­ähn­li­ches Gebäck, das man dem Prä­si­den­ten Wolo­dymyr Selen­skyj Ende 2019 aus dem ukrai­ni­schen New York zukom­men ließ, konnte den Stein bisher nicht ins Rollen bringen.

Wir geben nicht auf“, betont Tetiana Krasko. „Viel­leicht ist es ein Prozess natür­li­cher Auslese: Die Schwa­chen ver­las­sen Now­ho­rodske und die Starken bleiben und mobi­li­sie­ren sich selbst“, sagt der junge Schau­spie­ler Kyryl Demi­a­now, dessen Thea­ter­gruppe schon 2018 in Kyjiw auftrat und sich jetzt auf eine neue Auf­füh­rung vor­be­rei­tet. „Auf diese Art erklä­ren wir den Leuten in Kyjiw den Krieg, der bereits ver­ges­sen wird und werben für unser New York.“ Die Eröff­nung des Kul­tur­zen­trums im Thies­sen-Haus soll der nächste Schritt der Wie­der­be­le­bung sein. New York ist offen­bar eine Stadt, in der Ideen niemals schlafen.

Anmer­kung der Redak­tion: Am 1. Juli 2021 stimmte das ukrai­ni­sche Par­la­ment einer Umbe­nen­nung der Sied­lung zu.

Textende

Portrait von Gobert

Sébas­tien Gobert ist Buch­au­tor und freier Jour­na­list in Kyjiw. Er schreibt vor allem für fran­zö­sisch­spra­chige Medien.

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