Was wir von Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­nern lernen können: Aus­dauer, Resi­li­enz und Durchhaltefähigkeit

© Maidan Pro­teste 2014 in Donezk, cosi­moatt­a­na­sio – Redline /​/​ Shut­ter­stock

Die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft hat nach den Maidan-Pro­tes­ten enormen Auf­trieb bekom­men. Die Anne­xion der Krim und der Krieg in der Ost­ukraine ver­stärk­ten die welt­weite Auf­merk­sam­keit auf die Ukraine zusätz­lich. Inner­halb kür­zes­ter Zeit wurde die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft auch dank inter­na­tio­na­ler För­de­rung zu einer der aktivs­ten und dyna­mischs­ten im post­so­wje­ti­schen Raum. Die Corona-Pan­de­mie hat diesen Aufwind nun gestoppt, die Folgen der wirt­schaft­li­chen Rezes­sion werden auch für Vereine, Stif­tun­gen und Orga­ni­sa­tio­nen dra­ma­tisch sein. Über die Aus­wir­kun­gen der Pan­de­mie, die Kri­sen­fä­hig­keit der ukrai­ni­schen Gesell­schaft und über die Hilfe Deutsch­lands und der Euro­päi­schen Union sprach Karo­line Gil mit Dr. Susann Worschech, wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin an der Europa-Uni­ver­si­tät Viadrina.

Wie hat die NGO-Land­schaft auf den Aus­bruch der Corona-Krise reagiert? Hat sich ihre Rolle verändert?

Grund­sätz­lich gelten, wie in den meisten anderen Ländern welt­weit, auch in der Ukraine strenge Kon­takt­sper­ren, und alle Akti­vi­tä­ten des öffent­li­chen Lebens sind stark ein­ge­schränkt. Dies gilt ebenso für zivil­ge­sell­schaft­li­che Akti­vi­tä­ten. Treffen, gemein­sa­mes Erar­bei­ten von Posi­tio­nen etc. sind aus­schließ­lich kon­takt­los abzu­hal­ten, was für NGOs, die in grö­ße­ren Städten ange­sie­delt sind, ver­gleichs­weise pro­blem­los sein dürfte. Diese arbei­ten meist ohnehin schon stark digi­ta­li­siert; die dichte Ver­net­zung unter­ein­an­der hilft, Kon­takte und Aus­tausch aufrechtzuerhalten.

Schwie­ri­ger wird es für soziale Orga­ni­sa­tio­nen, Wohl­fahrts-NGOs und klei­nere, lokale Initia­ti­ven. Durch die Kon­takt­sper­ren haben sie kaum eine Mög­lich­keit, ihre gemein­same Arbeit auf­recht zu erhal­ten. Auch Kul­tur­or­ga­ni­sa­tio­nen, Gale­rien, Künstler*innen sind mit großen Pro­ble­men und nicht zuletzt mit wirt­schaft­li­chen Pro­ble­men kon­fron­tiert. Ähnlich wie in Deutsch­land stellt sich die Frage, wie Kunst und Kultur in einer Gesell­schaft erhal­ten bleiben können, während das Publi­kum auf­grund der Kon­takt­sper­ren wochen­lang aus­fällt und damit auch die gesell­schaft­li­che Reso­nanz abnimmt oder zumin­dest stark im Wandel ist.

Die Kri­tik­funk­tion der Zivil­ge­sell­schaft – ihre Fähig­keit, durch öffent­li­chen Protest und den Fragen nach Ver­ant­wort­lich­kei­ten als Kor­rek­tiv der poli­ti­schen Macht zu agieren – ist eben­falls stark ein­ge­schränkt, da das wich­tigste Druck­mit­tel zivil­ge­sell­schaft­li­cher Kritik, nämlich die öffent­li­che Aus­ein­an­der­set­zung, derzeit kaum her­stell­bar ist.

Was ist beson­ders cha­rak­te­ris­tisch für die Zivil­ge­sell­schaft in der Ukraine? Welche Funk­tion nimmt sie ein?

Die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft gilt als eine der aktivs­ten, am stärks­ten dyna­mi­schen Zivil­ge­sell­schaf­ten im post­so­wje­ti­schen Raum. Sie blickt auf eine lange Geschichte des zivilen Akti­vis­mus zurück, denn schon zu Sowjet­zei­ten gab es in der Ukraine eine starke Dissident*innen-Szene, ver­gleichs­weise hohen zivilen Unge­hor­sam und auch Pro­teste – man denke an die Streiks der Berg­ar­bei­ter im Donbass Ende der 1980er Jahre. Über­pro­por­tio­nal viele poli­ti­sche Häft­linge in der SU stamm­ten aus der Ukrai­ni­schen SSR. In der Fähig­keit zum Protest zeigt sich eine beson­dere Stärke der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft – was aber zugleich auch ihre größte Schwä­che offen­bart, denn der starken Protest-Zivil­ge­sell­schaft steht eine schwa­che Betei­li­gungs-Zivil­ge­sell­schaft gegen­über. Den vielen Initia­ti­ven, NGOs und sons­ti­gen Ver­ei­ni­gun­gen ist es bisher kaum gelun­gen, sich wirk­lich nach­hal­tig und sys­te­ma­tisch in poli­ti­sche Ent­schei­dungs­struk­tu­ren ein­zu­brin­gen. Den Cha­rak­ter der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft kann man mit der Formel „Strong pro­tests, weak move­ments“ beschrei­ben: Aus allen bis­he­ri­gen, unglaub­lich aus­dau­ern­den, mutigen und breiten Pro­test­wel­len ist keine nach­hal­tige Bewe­gung ent­stan­den, grün­dete sich keine starke, demo­kra­ti­sche Partei, so wie das in Polen nach 1989 der Fall war. Die Stärke der Straße hat sich nicht ins Poli­ti­sche über­setzt. Der poli­ti­sche Raum war und ist von der Zivil­ge­sell­schaft abgeschirmt.

Was hat sich konkret nach dem Maidan geändert?

Die Euro­mai­dan-Pro­teste werden in der Ukraine als „Revo­lu­tion der Würde“ bezeich­net – nicht ohne Grund. Das lange Durch­hal­ten der Pro­tes­tie­ren­den ange­sichts der vom Staat ein­ge­setz­ten Gewalt, der Bru­ta­li­tät der Polizei und (para-)militärischer Kräfte, die unglaub­li­che Selbst­or­ga­ni­sa­tion und Ver­sor­gung der Pro­test­la­ger, die Zusam­men­ar­beit vieler und schließ­lich der Erfolg, die ver­hasste Staats­macht in die Knie gezwun­gen zu haben, gaben der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft ein enormes Selbst­be­wusst­sein. Unzäh­lige zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen – von hoch pro­fes­sio­nel­len und mit inter­na­tio­na­len Part­nern arbei­ten­den NGOs bis hin zu lokalen Initia­ti­ven und spon­ta­nen Grup­pie­run­gen – betei­lig­ten sich an der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung, Logis­tik, Lebens­mit­tel­be­schaf­fung und natür­lich der Wei­ter­füh­rung des Pro­tests. Daraus sind starke zivil­ge­sell­schaft­li­che Netz­werke, neue Orga­ni­sa­tio­nen und ein neues Bewusst­sein der Zivil­ge­sell­schaft als trei­bende Kraft der Moder­ni­sie­rung und Euro­päi­sie­rung der Ukraine entstanden.

Zugleich haben sich viele Initia­ti­ven und lokale Gruppen gebil­det, welche die deso­late Armee und Frei­wil­li­gen-Korps, die im Osten der Ukraine in Kämpfe gegen die von Russ­land unter­stütz­ten Para­mi­li­tärs ein­ge­setzt waren, mit medi­zi­ni­schem Mate­rial, Schutz­klei­dung, Lebens­mit­teln und Aus­rüs­tung sowie Spen­den­gel­dern unter­stüt­zen. Auch in diesen Gruppen ent­wi­ckelte sich ein in dieser Stärke bislang unbe­kann­tes Muster der Selbst­or­ga­ni­sa­tion und Ver­ant­wor­tungs­über­nahme. Die meisten dieser Initia­ti­ven lösten sich im Jahr 2016 wieder auf, als der ukrai­ni­sche Staat die Ver­tei­di­gungs­auf­ga­ben nach und nach wieder selbst über­neh­men konnte. Über die Nach­hal­tig­keit dieser Gruppen gibt es bislang nur Hypo­the­sen, die von lokalem Empower­ment bis hin zur Mili­ta­ri­sie­rung und gestie­ge­nem Patrio­tis­mus reichen. Ver­läss­li­che Studien hierzu wären drin­gend nötig.

Ein dritter Aspekt der Ver­än­de­rung betrifft die kul­tur­ori­en­tierte Zivil­ge­sell­schaft in der Ukraine. Zahl­rei­che Künstler*innen, Kurator*innengruppen, Initia­ti­ven und Orga­ni­sa­tio­nen aus dem Bereich Kunst und Kultur waren in den Maidan-Pro­tes­ten aktiv und haben sich hier oder durch den Krieg im Donbass und die Anne­xion der Krim wei­ter­hin poli­ti­siert. Seither sind Kunst und Kultur poli­ti­scher, offener und kri­ti­scher gewor­den. Die freie Kunst­szene hat im Gegen­satz zum offi­zi­el­len, staat­li­chen Kul­tur­sek­tor als Bedeu­tung gewon­nen und gilt als pro­gres­si­ver Schritt­ma­cher der Gesell­schaft. Ins­be­son­dere Kunst und Kultur aus und in der Ost­ukraine erlang­ten stär­kere Auf­merk­sam­keit als je zuvor. Künstler*innen, die aus Donezk, Luhansk und von der Krim fliehen mussten, bauten im ukrai­nisch ver­wal­te­ten Teil des Donbas oder auch in den grö­ße­ren Städten des Landes Kul­tur­zen­tren, Gale­rien und Pro­jekte auf, welche die Auf­merk­sam­keit auf den kul­tu­rel­len Reich­tum, aber auch auf kul­tu­relle Brüche der Ost­ukraine lenken. Zudem ist das The­men­spek­trum in der Kunst breiter gewor­den; auch sen­si­blere Themen wie die Rechte Homo­se­xu­el­ler, die Auf­ar­bei­tung der Sowjet­ver­gan­gen­heit, die kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit Patrio­tis­mus werden ver­stärkt angesprochen.

Gibt es beson­ders erfolg­rei­che Initia­ti­ven oder Best-Prac­ti­ces aus der Ukraine, von denen andere lernen können?

Was sich grund­sätz­lich von der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft lernen lässt, ist sicher­lich deren Aus­dauer und spek­ta­ku­läre Durch­hal­te­fä­hig­keit in kri­ti­schen Situa­tio­nen. Wo sonst im post­so­wje­ti­schen oder auch post­so­zia­lis­ti­schen Raum haben Men­schen derart mutig, ernst­haft und soli­da­risch für Demo­kra­tie, Selbst­be­stim­mung und Euro­päi­sie­rung gekämpft?

In der Not­si­tua­tion im Winter und Früh­jahr 2014 haben sich viele Bürger*innen spontan zusam­men­ge­schlos­sen, um den fast hand­lungs­un­fä­hi­gen Staat zu erset­zen und z.B. Bin­nen­flücht­linge zu ver­sor­gen, Spenden zu sammeln oder Stadt­ent­wick­lun­gen zu beein­flus­sen. Dies war eine gewal­tige, gemein­same Anstren­gung, die von viel Opti­mis­mus und Ver­ant­wor­tung, aller­dings auch von Patrio­tis­mus und Natio­na­lis­mus getra­gen war. Daher eignet sich dieses kol­lek­tive Handeln der Zivil­ge­sell­schaft sicher­lich nicht unein­ge­schränkt als Blau­pause, zumal das zivil­ge­sell­schaft­li­che Handeln auch viel zu selten oder an den fal­schen Stellen in poli­ti­sches Handeln über­ging – es ent­wi­ckelte sich keine poli­ti­sche Kraft der Bür­ge­rin­nen und Bürger, welche die Par­la­mente und Ver­wal­tun­gen neu aus­ge­rich­tet hätte. Dennoch ist das Enga­ge­ment der ein­zel­nen Bürger*innen und der Wunsch, etwas zur Ver­än­de­rung bei­zu­tra­gen, in der Breite beachtlich.

Darüber hinaus ist mein Ein­druck, dass die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft beson­ders dann erfolg­rei­che Initia­ti­ven durch­führt, wenn sie von den west­li­chen Part­nern – und eben ihren Geld­ge­bern – etwas mehr in Ruhe gelas­sen wird. Nicht in dem Sinne, dass es keine Finan­zie­rung mehr gibt, sondern wenn ihnen jen­seits von Pro­jekt­zie­len mehr Frei­hei­ten gelas­sen werden, sich selbst zu orga­ni­sie­ren. Dann ent­ste­hen Ver­net­zungs­platt­for­men wie das Reani­ma­tion Package of Reforms, das füh­rende NGOs, Think Tanks und Expert*innen im Land vereint und mit geball­ter Exper­tise Reform­vor­schläge aus­ar­bei­tet. Dass diese im poli­ti­schen System der Ukraine zu selten auch in der breiten Öffent­lich­keit gehört werden, steht auf einem anderen Blatt.

Und es zeigt sich, dass es gerade im weniger poli­tisch, sondern kul­tu­rell ori­en­tier­ten Bereich der Zivil­ge­sell­schaft sehr viele Ideen und den Drang, Neues zu schaf­fen, gibt. Die eins­tige Indus­trie­stadt Mariu­pol bei­spiels­weise ist zu einem inter­es­san­ten Stand­ort für Kunst und Lite­ra­tur gewor­den. Die Bereit­schaft, sich an gemein­wohl­ori­en­tier­ten Akti­vi­tä­ten zu betei­li­gen, ist messbar gestie­gen. Es lässt sich hier auch eine Hin­wen­dung zum Lokalen beob­ach­ten, was positiv ist, da Men­schen dann schnell in zivil­ge­sell­schaft­li­ches Handeln ein­ge­bun­den werden können. Über die Dis­kus­sion, wo und wie im öffent­li­chen Raum Hoch­beete ange­legt oder Kunst­ak­tio­nen statt­fin­den sollen, ent­steht eine Zivil­ge­sell­schaft, in der Men­schen gemein­same Pro­bleme und Fragen zu ver­han­deln und lösen lernen – im Sinne der Tocqueville’schen Schule der Demokratie.

Kann man davon aus­ge­hen, dass die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft auf­grund der jüngs­ten Geschichte resi­li­en­ter, psy­chisch wider­stands­fä­hi­ger ist als im Westen?

Um die Resi­li­enz der Zivil­ge­sell­schaft zu ana­ly­sie­ren, sind zwei Schritte nötig. Der erste bezieht sich auf das Gegen­stück zur Resi­li­enz, nämlich die Frage nach der spe­zi­fi­schen Vul­nerabi­li­tät, also der Ver­letz­lich­keit. Wo ist die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft also beson­ders gefähr­det? Sie ist – allen neu gegrün­de­ten und selbst orga­ni­sier­ten Initia­ti­ven zum Trotz – über­wie­gend eine pro­fes­sio­na­li­sierte Zivil­ge­sell­schaft, die aus for­ma­len Orga­ni­sa­tio­nen besteht, in denen Expert*innen und Projektmanager*innen als Ange­stellte arbei­ten. Daraus ergibt sich ein per­ma­nen­ter Bedarf an aus­rei­chen­den finan­zi­el­len Mitteln – für Gehäl­ter, Büro­mie­ten, etc. Diese Mittel wurden und werden meis­tens von aus­län­di­schen För­de­rern bereit­ge­stellt, sind jedoch fast immer pro­jekt­ge­bun­den. Es exis­tiert keine ukrai­ni­sche För­der­in­fra­struk­tur für NGOs. Inso­fern ist die Abhän­gig­keit von exter­ner Finan­zie­rung und damit auch von extern gesetz­ten Pro­jekt­prä­fe­ren­zen der Punkt größter Vulnerabilität.

Resi­li­enz bezieht sich im sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Sinne auf drei Fähig­kei­ten auf Krisen zu reagie­ren unter Bei­be­hal­tung zen­tra­ler bzw. rele­van­ter Funk­tio­nen. Erstens besteht Resi­li­enz in der Fähig­keit, unmit­tel­bar mit Schocks und dis­rup­ti­ven Ereig­nis­sen so umgehen zu können, dass die Kern­funk­tio­nen nicht beein­träch­tigt werden. Zwei­tens gilt es, sich vor­aus­schau­end auf das poten­zi­elle Ein­tre­ten von Krisen und dis­rup­ti­ven Ereig­nisse ein­zu­stel­len und Struk­tu­ren ent­spre­chend anzu­pas­sen, sodass die Krise die jewei­lige gesell­schaft­li­che Einheit nicht wirk­lich beein­träch­ti­gen kann. Drit­tens geht es um das Trans­for­ma­ti­ons­po­ten­zial von gesell­schaft­li­chen Ein­hei­ten, welches auf bis­he­rige Kri­sen­er­fah­run­gen aufbaut und in einem lang­fris­ti­gen sozia­len Wandel nicht nur den Erhalt, sondern auch die Ver­bes­se­rung sozia­ler Gege­ben­hei­ten zu errei­chen versucht.

Die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft hat in bis­he­ri­gen Krisen eine erheb­li­che Resi­li­enz der ersten Kate­go­rie – des kurz­fris­ti­gen Umgangs mit Krisen – gezeigt, indem weder eine lang­an­hal­tende Repres­sion noch die aktive Bedro­hung der Pro­teste zivil­ge­sell­schaft­li­chen Akti­vis­mus ver­min­dert hat. Auch in der zweiten Per­spek­tive, der Anpas­sung und Anti­zi­pa­tion, ist die ukrai­ni­sche Gesell­schaft ver­gleichs­weise erfolg­reich, da einer­seits stabile und weit­rei­chende Netz­werke die Akteure und Orga­ni­sa­tio­nen mit­ein­an­der ver­bin­den, und ande­rer­seits die bestehen­den För­der­mo­delle gut genutzt werden. Zugleich ist genau dies der schwächste Punkt, denn falls das Modell exter­ner För­de­rung aus­fal­len sollte, ist die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft an dieser Stelle gerade nicht resi­li­ent, sondern gefährdet.

Die NGO-Land­schaft wurde in den ver­gan­ge­nen Jahren stark vom inter­na­tio­na­len Aus­tausch und auch von der Finan­zie­rung aus dem Ausland geprägt. Was, wenn beide Fak­to­ren so schnell nicht mehr zu reak­ti­vie­ren sind?

Es stellt sich zunächst die Frage, was dra­ma­ti­scher wäre – der Wegfall des inter­na­tio­na­len Aus­tau­sches oder der Finan­zie­rung. Der Wegfall der exter­nen Finan­zie­rung würde zahl­rei­che Orga­ni­sa­tio­nen unmit­tel­bar rui­nie­ren und hand­lungs­un­fä­hig machen, da sie auf die Pro­jekt­gel­der zwin­gend ange­wie­sen sind und keine trag­ba­ren Alter­na­ti­ven zur Ver­fü­gung stehen.

Der inter­na­tio­nale Aus­tausch ist prägend für die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft. Schon zu Zeiten der Orangen Revo­lu­tion wurden z.B. Hand­lungs­re­per­toires und Pro­test­stra­te­gien von Oppo­si­ti­ons­grup­pen aus Serbien über­nom­men. Übri­gens haben zum inter­na­tio­na­len Aus­tausch nicht nur offi­zi­elle Ent­wick­lungs- oder Aus­tausch­pro­gramme, sondern auch selbst gestal­tete Koope­ra­tio­nen wie Städ­te­part­ner­schaf­ten bei­getra­gen. Krea­ti­vi­tät und kol­lek­ti­ves Handeln ent­ste­hen immer auch in infor­mel­lem Aus­tausch – dieser fehlt jetzt; das geht aber nicht nur der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft so.

Welche Folgen werden die Corona-Pan­de­mie und die erwar­tete wirt­schaft­li­che Rezes­sion für die Zivil­ge­sell­schaft der Ukraine haben?

Schät­zun­gen zufolge wird die Hälfte der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung durch die Corona-Krise unter die Armuts­grenze rut­schen. Was das bedeu­tet für ein Land, dessen Gesell­schaft und auch Wirt­schaft noch immer von einem andau­ern­den Krieg geprägt sind, kann man sich kaum aus­ma­len. Die ukrai­ni­sche Wirt­schaft hat es nach Jahren der Rezes­sion – bedingt durch die Miss­wirt­schaft unter Janu­ko­wytsch die enormen Kosten des Krieges und der Anne­xion seit 2014 – gerade wieder geschafft, in den Wachs­tums­be­reich zu kommen. Dies Erfolge sind nun zunichte gemacht, und es gibt prak­tisch keine Reser­ven, um Über­gangs­lö­sun­gen zu finan­zie­ren und ent­ste­hende Härten abzufedern.

Für die Zivil­ge­sell­schaft ist dies ein großes Problem. Ehren­amt­li­ches Enga­ge­ment benö­tigt zeit­li­che Res­sour­cen, die gerin­ger werden, je stärker sich Men­schen auf ihre Erwerbs­ar­beit fokus­sie­ren müssen. Inso­fern ist vor allem ein Ein­bruch zivil­ge­sell­schaft­li­cher Akti­vi­tä­ten dort zu erwar­ten, wo gerade erst ehren­amt­li­che Arbei­ten zunah­men – in lokalen Initia­ti­ven und Bünd­nis­sen, in ehren­amt­li­cher sozia­ler Arbeit etc.

Inwie­fern sich die Struk­tu­ren auch in der pro­fes­sio­na­li­sier­ten Zivil­ge­sell­schaft ändern, hängt davon ab, ob sich externe För­de­rer aus Kos­ten­grün­den zurück­zie­hen oder aber ihre För­de­rung gleich­blei­bend auf­recht­erhal­ten können. Eine Aus­wir­kung auf den pro­fes­sio­nel­len NGO-Sektor könnte sein, dass die dort Beschäf­tig­ten sich ent­we­der (auch ange­sichts infla­ti­ons­be­dingt höherer Preise) besser bezahlte Tätig­kei­ten suchen oder gleich auf aus­län­di­sche Arbeits­märkte abwandern.

Wie kann die Euro­päi­sche Union und wie kann Deutsch­land die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft unter­stüt­zen, und warum sollten sie das tun?

Die Ukraine ist eines der am stärks­ten pro-euro­päi­schen Länder in Europa – und diese Haltung ist zu einem sehr großen Teil der poli­ti­sier­ten, aktiven, kri­ti­schen Zivil­ge­sell­schaft zu ver­dan­ken. Inso­fern liegt es im urei­ge­nen Inter­esse der EU und damit auch Deutsch­lands, diese klare Euro­pa­ori­en­tie­rung zu unter­stüt­zen und somit die Glaub­wür­dig­keit der pro-euro­päi­schen poli­ti­schen und zivil­ge­sell­schaft­li­chen Kräfte zu stärken.

Konkret bedeu­tet das,

  • die För­de­rung der Zivil­ge­sell­schaft quan­ti­ta­tiv unbe­dingt auf­recht zu erhalten
  • die För­de­rung in qua­li­ta­ti­ver Hin­sicht zu ver­bes­sern, indem zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen mehr Eigen­ver­ant­wor­tung zuge­stan­den wird und Mittel nicht nur strikt pro­jekt­ge­bun­den, sondern (zu einem Min­dest­an­teil) auch pau­schal zuge­wie­sen werden
  • die Ver­net­zung und den Aus­tausch sowohl auf natio­na­ler wie auch inter­na­tio­na­ler Ebene weiter zu fördern, indem in alle Koope­ra­ti­ons­pro­gramme eine starke Digi­ta­li­sie­rungs­kom­po­nente ein­ge­baut wird
  • die For­schung zur Ent­wick­lung der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft, ihrer Funk­tion und Rolle im ukrai­ni­schen Euro­päi­sie­rungs­pro­zess und auch in der aktu­el­len Krise, sowie zu ihrer trans­na­tio­na­len Ein­bet­tung ziel­ge­rich­tet zu fördern, unter anderem durch die Stär­kung der Ukraine-Studien in Deutschland
  • die ukrai­ni­schen Kom­mu­nen auch hin­sicht­lich ihrer Außen­be­zie­hun­gen und Städ­te­part­ner­schaf­ten so zu unter­stüt­zen, dass der Aus­tausch (auch digital) auf­recht­erhal­ten wird und trans­na­tio­nale Netz­werke inter­es­sier­ter Städte und Kom­mu­nen auf­ge­baut werden können.

 

Dr. Susann Worschech ist wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin im Mas­ter­stu­di­en­gang Euro­pean Studies an der Europa-Uni­ver­si­tät Via­drina. Ihr For­schungs­ge­biet ist die Poli­ti­sche Sozio­lo­gie Europas mit beson­de­rem Fokus auf Zivil­ge­sell­schaft und sozia­len Wandel in Mittel- und Ost­eu­ropa. Ihre Arbeit wurde mehr­fach aus­ge­zeich­net, zuletzt mit dem PostDoc-Preis des Landes Bran­den­burg 2019. In diesem Jahr ver­öf­fent­lichte sie einen Bericht beim Insti­tut für Aus­lands­be­zie­hun­gen (ifa) zur ukrai­ni­schen Zivilgesellschaft.

 

Textende

Portrait von Karoline Gil

Karo­line Gil ist stell­ver­tre­tende Lei­te­rin der Abtei­lung Dialoge und Lei­te­rin des Bereichs Inte­gra­tion und Medien am Insti­tut für Auslandsbeziehungen.

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