„Staaten sollten Einfuhrbeschränkungen für Objekte von der Krim verhängen“
Seit der Annexion der Krim instrumentalisiert Russland das kulturelle und historische Erbe der Schwarzmeer-Halbinsel. Die Ukraine hat dies zuletzt während der von Präsident Wolodymyr Selenskyj im August 2021 initiierten „Krim-Plattform“ thematisiert. Die ukrainische Völkerrechtsexpertin Kateryna Busol ordnet die aktuelle Situation im Interview mit Karoline Gil ein.
Karoline Gil: Was beobachten Sie in Bezug auf das Kulturerbe seit der Annexion der Krim im Jahr 2014?
Kateryna Busol: Laut des Vertreters des ukrainischen Präsidenten auf der Krim (mit Sitz in Cherson, Anm. d Redaktion) hat sich Russland auf der besetzten Halbinsel in großem Umfang Kulturgut der Ukraine angeeignet, darunter 4.095 staatlich geschützte Kulturerbestätten von nationaler und lokaler Bedeutung. Allein das ist schon ein Verstoß gegen das Völkerrecht, für Russland aber jedoch nur ein Hebel einer umfassenderen und langfristigen Strategie, seine historische, kulturelle und religiöse Dominanz auf der Krim auszubauen.
Beispiele sind die kontroverse Renovierung des Bachtschyssarai-Palastes, rechtswidrige archäologische Ausgrabungen, die Zerstörung einstiger muslimischer und krimtatarischer Stätten, die illegale Ausfuhr von ukrainischen Kunstwerken nach Russland – etwa für Ausstellungen – sowie die Instrumentalisierung der Russisch-Orthodoxen Kirche als politisches und ideologisches Instrument des Kremls.
Gil: Einst wurde das Khanat Krim vom Palast in Bachtschyssaraj regiert. Die Anlage aus dem 16. Jahrhundert zählt zu den wichtigsten Kulturerbestätten der indigenen Bevölkerung, den Krimtataren. Geschichte, Herkunft und der Bezug auf die Krimtataren werden nach der Annexion allmählich durch Neugestaltungen, Bauvorhaben oder Renovierungen ausradiert. Warum ist die Neuinterpretation des kulturellen Erbes auf der Krim für Russland so wichtig?
Busol: Desinformation und die Verzerrung historischer Narrative stehen im Mittelpunkt der russischen Politik auf der Krim und sind entscheidende Elemente einer „neoimperialen“ Strategie im In- und Ausland. Russland nutzt sie als hybrides Instrument neben anderen Mitteln, um seine Dominanz über die ukrainische Halbinsel zu festigen. Was im Februar 2014 mit militärischen Mitteln begonnen wurde, soll nun auf diese Weise „immateriell“ abgeschlossen werden.
Russland instrumentalisiert die Krim, um ihre zentrale Rolle im orthodoxen Christentum hervorzuheben. Präsident Wladimir Putin hat etwa die antike taurische Stadt Chersones und ihre Chora, ukrainisches UNESCO-Weltkulturerbe, zu einem „russischen Mekka“ und „Fundament der russischen Staatlichkeit“ erklärt. Darüber hinaus wurde ein Priester, der keine entsprechende Erfahrung hatte, mit der Leitung des Museums beauftragt. Obwohl dieser später zurücktrat, setzt sich dort die „Christianisierung“ dieser säkularen, ukrainischen Welterbestätte und die wachsende Präsenz der russisch-orthodoxen Kirche fort. Die Besatzungsbehörden veranstalten auf dem Gelände „orthodox-patriotische“ Feste und planen, ein Museum des Christentums zu errichten. Die Vision des russischen Staatsoberhauptes ist die Vertreibung der ukrainisch orthodoxen Kirche von der Halbinsel, die Beschlagnahmung ihres Eigentums sowie die Beseitigung der Bedeutung des krimtatarischen Erbes auf der Krim.
Gil: Welche internationalen Gesetze verletzt Russland damit?
Busol: Zunächst muss noch einmal betont werden, dass die Krim völkerrechtlich besetzt ist. Die internationale Gemeinschaft, darunter die Vereinten Nationen und der Europarat sowie der Internationale Strafgerichtshof haben das anerkannt.
Die unrechtmäßige und mutwillige Zerstörung und Beschlagnahmung jeglicher Art von Eigentum während einer Besetzung ist verboten. Sofern nicht durch militärische Notwendigkeit gerechtfertigt, stellen solche Handlungen einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Genfer Konventionen von 1949 dar – die wichtigsten völkerrechtlichen Instrumente zur Regelung bewaffneter Konflikte.
Die dem IV. Haager Übereinkommen von 1907 beigefügte Verordnung über die Achtung der Gesetze des Krieges an Land setzt öffentliche religiöse, künstlerische und akademische Einrichtungen dem Privateigentum gleich. Jegliche Beschlagnahmung oder Beschädigung solcher Einrichtungen ist verboten und muss strafrechtlich verfolgt werden.
In der UNESCO-Welterbekonvention von 1972 wird die Schutzpflicht immer wieder betont. Die Bestimmungen über die Achtung, die unerlaubte Ausfuhr und Rückgabe von Kulturgut sind ferner im humanitären Völkergewohnheitsrecht enthalten, das für alle Staaten verbindlich ist.
Daher verstößt Russlands Aneignung des ukrainischen Kulturerbes auf der Krim, geschweige denn einseitige Entscheidungen über seine Übertragung oder Renovierung, gegen das Völkerrecht. Die russischen Besatzungsbehörden unternehmen keine ernsthaften Versuche, die Ukraine in diesen Angelegenheiten zu konsultieren.
Gil: Ist es überhaupt realistisch, dass Russlands Umgang mit dem Kulturerbe mit der Ukraine abgestimmt wird?
Busol: Die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 1954, der sowohl die Ukraine als auch Russland beigetreten sind, fordert von einer „Besatzungsmacht“, „die zuständigen nationalen Behörden des besetzten Landes soweit wie möglich bei der Sicherung und Erhaltung seines Kulturguts“ zu konsultieren. Nur wenn die nationalen Behörden in Notsituationen nicht sofort handeln können, kann eine Besatzungsmacht tätig werden – jedoch sollte auch unter solchen Umständen eine maximale Beratung mit den nationalen Behörden und die Berücksichtigung ihrer Position gewährleistet sein. Es gibt eine Vielzahl anderer oben genannter Verträge und Regelwerke, die jede Aneignung, unrechtmäßige Übertragung und andere missbräuchliche Behandlung von Erbe in besetzten Gebieten verbieten und eine Besatzungsmacht verpflichten, solche Fälle sorgfältig zu untersuchen und zu verfolgen.
Gesetze sind also da. Die Bereitschaft Russlands, sich daran zu halten, ist ein weiteres Thema.
Mitte 2020 hat Russland seine Verfassung geändert, um seine Überlegenheit gegenüber dem Völkerrecht und Entscheidungen internationaler Gremien weiter auszudrücken. (Laut der Änderung sind Entscheidungen „zwischenstaatlicher Gremien“ wie Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes nicht vollstreckbar, Anm. d Redaktion). Das mangelnde Engagement und die mangelnde Einhaltung des Völkerrechts durch Russland mag entmutigend sein, aber es ist kaum überraschend. Es ist wichtig, dass alle Verstöße gründlich und unparteiisch dokumentiert werden. Solche Beweise werden Strafverfahren vor nationalen, regionalen und internationalen Gerichten auslösen, die bestehenden oder künftigen Sanktionsregelungen stärken und andere politische Reaktionen nach sich ziehen, unter anderem in den Bereichen Wissenschaft, Museumskooperation und Kunsthandel.
Gil: Welchen Handlungsspielraum hat die Ukraine in dem Fall und was kann tatsächlich getan werden?
Busol: Die Besetzung der Krim durch Russland und die Intervention im Donbas haben die Wahrnehmung der Ukraine in Bezug auf ihr historisches und kulturelles Erbe verändert. Die Ukraine hat entsprechende interne Ermittlungen und Strafverfolgungen eingeleitet; sie muss die längst überfällige Reform ihres innerstaatlichen Strafrechts umsetzen, um über ein detaillierteres Instrumentarium gegen solche Verstöße zu verfügen.
So wichtig sie auch sein mögen. Die getroffenen Schritte werden manchmal zu spät und inkohärent getroffen. Oft behindern fehlende Regelwerke, fehlende digitalisierte Register oder die ordnungsgemäße Kennzeichnung von Kulturerbestätten. Probleme, die bereits 2014 bestanden haben.
Eine solche Inkohärenz rechtfertigt aber in keiner Weise das Vorgehen der Besatzungsbehörden auf der Krim. Diesem Defizit sollte aber begegnet werden, um die Rechtsstaatsstrategie und den Rahmen für den Denkmalschutz der Ukraine sowohl für Kriegs- als auch für Friedenszeiten zu verbessern. Die Ukraine lernt diese Lektion allmählich. Das zeigt sich in ihrer nationalen Sicherheitsstrategie, in der Deokkupations- und Reintegrations-Strategie auf der Krim und der sich entwickelnden Maßnahmen im Bereich der Transitional Justice.
Gil: Was sollte auf internationaler Ebene passieren?
Busol: Obwohl die Ukraine im In- und Ausland gegen solche Verstöße vorgegangen ist, konzentrierte sich ihr Ansatz bisher weitgehend auf Eigentumsdelikte, die sich auf ukrainisches und krimtatarisches Erbe beziehen. Die Ukraine sollte argumentativ artikulieren, wie Russlands instrumentalisierter Missbrauch seines kulturellen Erbes Verfolgungsmerkmale trägt, Islamophobie auslöst, Frauen und Kinder der Krimtataren überproportional schikaniert und Teil der größeren neoimperialen Absicht Russlands ist, seine ehemaligen Territorien zurückzugewinnen, was nicht nur die Souveränität der Ukraine verletzt sondern auch die multilaterale regelbasierte Ordnung.
Die Ukraine sollte dem Internationalen Strafgerichtshof, dem Internationalen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte solche Argumente vorlegen, die durch belastbare Beweise gestützt werden, und zwar unter Berücksichtigung der Zuständigkeitsanforderungen der einzelnen Gerichte.
Die Ukraine sollte ihre Strafgesetzgebung weiter verbessern, um die innerstaatlichen Verfahren bei Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einschließlich solcher im Zusammenhang mit Kulturgut, zu verstärken. Eine gezieltere Ausbildung für inländische Ermittler, Staatsanwälte und Richter ist erforderlich. Sowohl Staatsexperten als auch Menschenrechtsaktivisten sollten von einer qualitativen Beratung zu den besten Möglichkeiten zur Dokumentation von Verletzungen des Kulturerbes Gebrauch machen.
Gil: Hat sich auch der gesetzliche Rahmen in Russland bezüglich des Kulturerbes auf der Krim geändert?
Busol: Die Ukraine sollte auch auf internationalen Plattformen wie der UN-Vollversammlung, dem UN-Sicherheitsrat, der UNESCO und dem Europarat die russischen Verstöße entschlossener adressieren. Ein neuer Schwerpunkt sollte auf Manipulationen mit Kulturgut gelegt werden, die mit der russischen Staatsanwaltschaft und größeren regionalen und internationalen Sicherheitsbedrohungen in Verbindung gebracht werden. Eine stärker argumentbasiserte Öffentlichkeitsarbeit sollte an Organisationen wie dem International Council of Museums (ICOM), dem Internationalen Rat für Denkmalpflege (ICOMOS), Blue Shield sowie an Museen, Forschungseinrichtungen, Hochschulen und große Kunsthandelszentren gerichtet werden. Sie sollten damit unterstützt werden, sich nicht mit russischen Institutionen oder Projekten zusammenzutun, die unrechtmäßig von der besetzten Krim überführte Artefakte beinhalten oder dazu verwendet werden, verzerrte Darstellungen über die Halbinsel zu präsentieren oder ihre Besetzung zu bestätigen.
Andere Staaten sollten erwägen, eine verstärkte Einfuhrkontrolle oder sogar Einfuhrbeschränkungen für Objekte einzuführen, die von der besetzten Krim stammen könnten. Solche Präzedenzfälle gab es bereits mit speziellen US-Importbestimmungen, um den Transfer irakischer Artefakte nach der Invasion im Irak zu verhindern. Wie bereits erwähnt, sollten auch die Verfahren zur universellen Gerichtsbarkeit in anderen Staaten im Zusammenhang mit dem Russland-Ukraine-Konflikt darauf abzielen, mögliche Verbrechen im Zusammenhang mit dem Kulturerbe zu berücksichtigen. Auch andere Staaten sollten ihre Forschungs‑, Wissenschafts‑, Museums- und Kunsthandelsinstitutionen mit klaren Botschaften zu den rechtlichen und Reputationsfolgen stärker ansprechen. Schließlich sollten Staaten und internationale Organisationen Verletzungen und Bedrohungen des Erbes bei der Gestaltung ihrer Sanktionsregime berücksichtigen.
Dr. Kateryna Busol studierte Internationales Recht an der Nationalen Taras-Schewtschenko Universität Kiew und der Universität Cambridge und arbeitet als Anwältin mit Schwerpunkt internationale Menschenrechte, Humanitäres Völkerrecht und Strafrecht. Als Rechtsberaterin war sie bei Global Rights Compliance (GRC) tätig und berät ukrainische staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure bei der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof. Busol ist Vizepräsidentin der Cambridge Society of Ukraine und war Fellow am Kennan Institute in Washington D.C. und Visiting Professional am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
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