„Für uns ist dieser Krieg eine zivilisatorische Bruchstelle“
Am 24. August feiert die Ukraine den Unabhängigkeitstag. Eine Unabhängigkeit, für die das Land einen hohen Preis bezahlt. Warum es dennoch auch ein Tag der Hoffnung sein wird, schreibt Witalij Sytsch, Chefredakteur des ukrainischen Medienhauses „NV“ in seinem Kommentar.
In den letzten 30 Jahren glaubten viele Menschen innerhalb und außerhalb der Ukraine, dass deren Unabhängigkeit mit der Auflösung der Sowjetunion zum Nulltarif gewährt wurde. Viele Jahrhunderte lang hatten die Ukrainer für ihre Identität und Staatlichkeit gekämpft. 1991 verlief die Entstehung der unabhängigen Ukraine dann aber reibungslos und ohne menschliche Verluste.
Die meisten anderen Länder, auch die der ehemaligen Sowjetunion, mussten sich ihre staatliche Selbstbestimmung durch harte Kämpfe oder einen grausamen Krieg erkämpfen.
Der Preis der Unabhängigkeit ist hoch
Mittlerweile würde niemand mehr sagen, dass die Ukraine ihre Eigenstaatlichkeit zum Nulltarif erlangt hat. Das Land und alle seine Bürger durchleben jetzt seit 18 Monaten einen brutalen Krieg, den größten in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
Und der Preis ist hoch und ganz konkret spürbar. Obwohl Kyjiw die Zahl der Opfer nicht bekannt gibt, gehen westliche Diplomaten davon aus, dass die ukrainische Armee etwa 150.000 Tote und Verwundete zu beklagen hat. Es gibt Zehntausende zivile Opfer, Tendenz steigend. Und selbst diese Schätzungen könnten sich als zu gering erweisen, da die genauen Zahlen in den besetzten Gebieten nicht bekannt sind. Zu Mariupol beispielsweise, einer Hafenstadt, in der vor dem Krieg eine halbe Million Menschen lebten, haben internationale Organisationen keinen Zugang. Möglicherweise wurden dort mehr als 20.000 Einwohner durch russische Bombardierungen getötet.
„Für uns sind die Opferzahlen nicht nur Statistik“
Für uns Ukrainer sind das nicht nur Statistiken oder eine schockierende Geschichte im Fernsehen. In den ersten Kriegstagen fuhr ich mit meiner Familie vier Tage auf verstopften Autobahnen, fast ohne Essen und Schlaf, bis wir die Westgrenze erreichten. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir nicht einmal, ob wir jemals nach Kyjiw zurückkehren würden. Ich werde nie die Verzweiflung auf dem überfüllten Bahnhof von Lwiw vergessen, als Mütter ihre Kinder fast in die Waggons warfen und oft sogar das Gepäck auf dem Bahnsteig zurückließen. Alle versuchten, in das sichere Polen zu fliehen. Meine Frau, meine Mutter und meine achtjährigen Zwillinge, Peter und Anna, gingen nach Irland, wo sie erfahren mussten, was ein Leben als Flüchtling bedeutet.
Vor ein paar Wochen sind sie zurückgekehrt und gehen ab September wieder in Kyjiw zur Schule. Mir wurde mit bitterer Deutlichkeit klar, dass meine Kinder jetzt jedes Mal, wenn sie den Luftalarm hören, sofort loslaufen und Stunden in einem Keller, nur mit dem Nötigsten, verbringen müssen – in der Hoffnung, dass die russische Rakete abgefangen wird.
„Unsere Kinder kennen jetzt den Unterschied zwischen normalen und ballistischen Raketen“
Der Schuldirektor erzählte mir, dass er die Standards für die Evakuierung von Kindern geändert habe: Nachdem die Russen begonnen haben, Hyperschallraketen einzusetzen, müssen Kinder nun innerhalb von drei Minuten im Keller sein, nicht wie früher innerhalb von viereinhalb Minuten. Unsere Kinder kennen jetzt den Unterschied zwischen normalen und ballistischen Raketen. Das ist der Preis der Unabhängigkeit.
„Wir berichten nicht nur über den Krieg – wir müssen auch selbst daran teilnehmen“
Im Medienhaus NV, das ich leite, berichten wir nicht nur über den Krieg – wir müssen auch selbst daran teilnehmen. 15 Mitarbeitende, darunter drei Frauen, haben sich den ukrainischen Streitkräften angeschlossen. Einige von ihnen haben sich freiwillig gemeldet, andere wurden eingezogen, ein Art-Direktor zum Beispiel, ein IT-Reporter und auch drei Radiomoderatoren. Unser Finanzexperte führt jetzt an der Front eine Mörsereinheit in der Region Donezk an.
„Wenn wir aufhören zu kämpfen, werden wir als Staat verschwinden“
Diejenigen, die geblieben sind, haben gelernt, ohne Strom zu arbeiten, manchmal ohne Wasser und Heizung, unter ständiger Bedrohung durch russische Raketenangriffe und beim Geheul der Sirenen. Wir sind erschöpft, aber wir wissen alle, dass dies ein existenzieller Krieg ist – ein Kampf um unsere Selbstbestimmung. Wenn wir aufhören zu kämpfen, werden wir als Staat verschwinden.
„ … oder wir können einfach freie Menschen sein“
Für uns ist dieser Krieg auch eine zivilisatorische Bruchstelle. Wir könnten Teil der „Russischen Welt“ werden, Teil eines Landes mit einem politischen Einparteiensystem, einer Diktatur, Medienzensur und unglaublicher Propaganda, Teil eines Landes, in dem Oppositionsführer in Schauprozessen zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt werden.
Oder wir können einfach freie Menschen sein. Mit Rechten. In einer Demokratie. Und mit der Möglichkeit, schlechte Politiker zu entlassen und unsere eigene Sprache zu sprechen.
Für die russische Elite ist es schmerzlich, das zuzugeben, aber tatsächlich hat die „Russische Welt“ nichts zu bieten – außer einer Zeitmaschine in eine finstere Vergangenheit, in der menschliches Leben nichts gilt. In den 18 Monaten des Krieges wurden in der Ukraine den meisten Schätzungen zufolge mehr als 300.000 russische Soldaten getötet oder verletzt. Das scheint in Russland schockierenderweise niemanden zu interessieren.
„Der Unabhängigkeitstag ist auch ein Tag der Hoffnung“
Zugleich kämpft die Ukraine auch für die Mitgliedschaft in der NATO und in der EU. Bei der NATO geht es um Sicherheit und Überleben. Bei der EU geht es um Wohlstand.
In einigen Tagen werden wir den Unabhängigkeitstag feiern. Es wird kein beliebiger Feiertag sein. Es wird ein Tag des Stolzes sein und des Gedenkens an den Preis, den wir bezahlt haben. Aber es wird auch ein Tag der Hoffnung sein – Hoffnung auf ein besseres Leben für uns und unsere Kinder. Und darauf, dass unsere Kinder nie wieder das erleben müssen, was unser Land jetzt durchmacht.
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