Eva­ku­ie­run­gen und huma­ni­täre Hilfe: die Arbeit der ukrai­ni­schen Hilfs­or­ga­ni­sa­tion „Plitsch-o-plitsch“

Foto: Sta­nis­lav Kinka

Die ukrai­ni­sche Hilfs­or­ga­ni­sa­tion „Plitsch-o-plitsch“ hat seit Beginn der rus­si­schen Groß­of­fen­sive fast 9.000 Men­schen aus besetz­ten oder front­na­hen Gebie­ten eva­ku­iert. Der Gründer Oleg Mykhai­lyk im Inter­view über gefähr­li­che Eva­ku­ie­run­gen und schwin­dende finan­zi­elle Ressourcen.

Der Akti­vist Oleg Mykhai­lyk ist Gründer und Vor­sit­zen­der der in Odesa ansäs­si­gen Orga­ni­sa­tion Plitsch-o-plitsch („Schul­ter an Schul­ter“), die Men­schen aus front­na­hen Gebie­ten eva­ku­iert und vor Ort huma­ni­täre Hilfe leistet. Am 22. Sep­tem­ber 2018 wurde Mykhai­lyk, der damals Mit­glied der pro­eu­ro­päi­schen libe­ra­len Partei Syla Ljudej war, bei einem Mord­an­schlag ange­schos­sen und über­lebte schwer ver­letzt. Er enga­gierte sich zu dieser Zeit gegen ille­gale Bau­vor­ha­ben und Kor­rup­tion in Odesa.

YL: Russ­land greift nach seinem Aus­stieg aus dem Getrei­de­ab­kom­men am 17. Juli gezielt zivile Infra­struk­tur in Odesa an. Ihre Orga­ni­sa­tion Plitsch-o-plitsch leistet wich­tige Hilfe für die Men­schen, die durch die rus­si­schen Rake­ten­an­griffe von grund­le­gen­der Ver­sor­gung abge­schnit­ten sind. Können Sie mir mehr zur Geschichte von Plitsch-o-plitsch erzählen?

OM: Wir haben Plitsch-o-plitsch 2018 gegrün­det. Die Orga­ni­sa­tion unter­stützte zunächst Initia­ti­ven wie den Aufbau einer „Schule für lokale Selbst­ver­wal­tung“ in Odesa. 2018 ver­üb­ten Kri­mi­nelle einen Anschlags­ver­such auf mich und ich kam zur Behand­lung nach Deutsch­land, wo ich Marie­luise Beck und andere Men­schen ken­nen­lernte, von denen ich breite Unter­stüt­zung erfuhr. Men­schen, die in der Ukraine gegen Kor­rup­tion kämpf­ten, wurden damals Ziel gewalt­tä­ti­ger Attacken.

Nach meiner Rück­kehr wollte ich mich dann dafür ein­set­zen, dass Men­schen, die wegen ihres gesell­schaft­li­chen Enga­ge­ments Anschlags­op­fer wurden, Gerech­tig­keit erfah­ren. Nach den Wahlen 2020 gab es Ver­än­de­run­gen, dieser Terror hatte ein Ende.

Als die umfas­sende rus­si­sche Inva­sion im Februar 2022 begann, küm­mer­ten wir uns erst um unsere Fami­lien und brach­ten sie in Sicher­heit – denn wir wussten von den Todes­lis­ten der Russen, auf denen Namen von Leuten standen, die zivil­ge­sell­schaft­lich aktiv sind. Ab der zweiten Woche des Krieges war Plitsch-o-plitsch dann mit der Leis­tung unmit­tel­ba­rer huma­ni­tä­rer Hilfe beschäf­tigt. Wir brach­ten Wasser und Nah­rungs­mit­tel nach Myko­la­jiw und koor­di­nier­ten die Auf­nahme von Geflüch­te­ten, die damals nach Odesa kamen.

Dank unserer deut­schen Partner von der NGO The Merch Repu­blic und Helpbus e.V., die uns Fahr­zeuge zur Ver­fü­gung stell­ten, konnten wir zügig ein Trans­port­netz auf­bauen und Men­schen aus besetz­ten Gebie­ten eva­ku­ie­ren, vor allem aus den Oblas­ten Cherson und Sapo­rischschja. Wir orga­ni­sier­ten auch den Trans­port von auf eine spe­zi­elle ärzt­li­che Behand­lung ange­wie­se­nen Men­schen nach Deutsch­land und in andere euro­päi­sche Länder.

YL: Wie genau haben Sie diese Men­schen evakuiert?

OL: Über die Front­li­nie. Die ersten paar Monate war es ein Spiel auf Leben und Tod. Wir hatten – im posi­ti­ven Sinne des Wortes – ver­rückte Fahrer, die sich darauf ein­lie­ßen – und glück­li­cher­weise nur einen ein­zi­gen tra­gi­schen Fall, bei dem ein Fahrer von einem Scharf­schüt­zen ange­schos­sen wurde und auf eine Mine fuhr. Er über­lebte, aber eine Pas­sa­gie­rin kam ums Leben. Um bei­spiels­weise aus dem zum dama­li­gen Zeit­punkt besetz­ten Cherson in das gerade einmal 70 Kilo­me­ter ent­fernte Myko­la­jiw zu kommen, über teils ver­minte Felder, musste man bis zu 300 Kilo­me­ter zurück­le­gen. Die Fahrer waren Frei­wil­lige, machten das ohne Bezah­lung, sie wollten einfach Men­schen­le­ben retten. Im Mai letzten Jahres wurde dann ein Kor­ri­dor aus den besetz­ten Gebie­ten ein­ge­rich­tet, der über das Dorf Wasy­l­iwka in der Oblast Sapo­rischschja verlief – das letzte besetzte Dorf vor der Front­li­nie. Irgend­wie funk­tio­nierte die Eva­ku­ie­rung, denn wir brach­ten nur Frauen, Kinder und sehr alte Men­schen in Sicher­heit, die die rus­si­schen Besat­zer letzt­end­lich immer pas­sie­ren ließen.

Die Eva­ku­ie­run­gen aus den besetz­ten Gebie­ten waren kom­pli­ziert, gefähr­lich und konnten sehr lange dauern. Unsere Rekord­zeit war eine Woche, als wir 62 Men­schen aus dem besetz­ten Kachowka in einem über­füll­ten Bus eva­ku­ier­ten. Das war auch eines der letzten Male, denn die Russen schlos­sen den Kor­ri­dor und beschos­sen den Sam­mel­punkt für die Eva­ku­ie­rung mit einer Rakete, damit niemand mehr auf die Idee kam, irgend­wo­hin zu fahren [Anm. d. Autorin: Der Anschlag ereig­nete sich am 30. Sep­tem­ber 2022 in der Oblast Sapo­rischschja, min­des­tens 30 Zivilist:innen kamen dabei ums Leben.]. Seitdem ist die erste große Welle unserer Eva­ku­ie­run­gen vorbei.

Später, nach der Befrei­ung Cher­sons im Novem­ber 2022, eva­ku­ier­ten wir Men­schen aus Gebie­ten, die zwar unter ukrai­ni­scher Kon­trolle waren, aber ständig unter rus­si­schem Beschuss standen – das war die zweite Welle. Nach dem 6. Juni, als die Russen den Kachowka-Stau­damm gesprengt hatten, folgte dann die dritte Welle, die bis jetzt andau­ert: Wir haben seitdem unge­fähr 1.300 Men­schen aus den Über­schwem­mungs­ge­bie­ten evakuiert.

Ins­ge­samt konnten wir seit Beginn der Groß­in­va­sion an die 9.000 Men­schen eva­ku­ie­ren. Wir rechnen noch mit einer vierten Welle, wenn die ukrai­ni­schen Streit­kräfte das linke Fluss­ufer des Dnipro weiter befreien werden und die aktuell besetz­ten Gebie­ten zu Front­ge­bie­ten werden.

YL: Wer sind die Frei­wil­li­gen von Plitsch-o-plitsch?

Am Anfang der Groß­in­va­sion hatten wir mehr als 120 Frei­wil­lige. Jetzt sind es viel weniger, den Men­schen fehlt die Lebens­grund­lage und ein Ein­kom­men, von dem sie ihre unbe­zahlte frei­wil­lige Tätig­keit finan­zie­ren können. Viele sind auch aus­ge­brannt. Gerade sind wir etwa zu zehnt, davon bilden fünf Per­so­nen den harten Kern. Es enga­gie­ren sich bei uns vor allem aus Cherson umge­sie­delte Men­schen, die dort alles ver­lo­ren haben.

YL: Was macht das mit den Frei­wil­li­gen, ständig unter solchen extre­men Bedin­gun­gen zu arbeiten?

OM: Viele brennen aus. Jeden Tag arbei­ten ohne einen freien Tag, ohne Urlaub – das ver­langt eine große psy­chi­sche Sta­bi­li­tät. Ande­rer­seits: Wenn man Men­schen hilft und keine Zeit dafür hat, schlimme Nach­rich­ten zu lesen oder sich Sorgen um die Zukunft zu machen, ist das auch eine Art psy­cho­lo­gi­sche und emo­tio­nale Stütze, die einem dabei helfen kann, mit der ganzen Situa­tion klarzukommen.

YL: Welche Pro­jekte führen Sie abge­se­hen von den Eva­ku­ie­run­gen noch durch?

OM: Das zweite große Projekt war ein Auf­nah­me­zen­trum für Geflüch­tete in einem Hotel in Odesa, in dem etwa 100 Men­schen gleich­zei­tig Schutz und Unter­kunft finden konnten. Wir betrie­ben dieses Projekt sieben Monate lang, am 15. Mai schlos­sen wir es, als die Anzahl der Geflüch­te­ten abnahm. Mehr als 1.000 Men­schen konnten wir so helfen.

Unser drittes Groß­pro­jekt wird ein huma­ni­tä­res Zentrum in Odesa sein, mit einem Umsonst­la­den, einem Café und ärzt­li­cher Ver­sor­gung. Kürz­lich beschä­digte der Ein­schlag einer rus­si­schen Rakete in der Nähe unser Gebäude, aber ich hoffe, dass es ab dem 1. August los­ge­hen kann.

Wir unter­stüt­zen manch­mal auch unsere Partner, die sich der Rettung von Tieren widmen. Nach der Spren­gung des Stau­dam­mes brach­ten wir Käfige und Futter nach Cherson, und wenn Platz war, nahmen wir in unseren Bussen Tiere mit. Einmal haben wir aus einem besetz­ten Gebiet sogar eine ganze Tier­zucht­farm mit Sphinx-Katzen evakuiert.

YL: Wie finan­ziert sich Plitsch-o-plitsch?

OM: Die Res­sour­cen werden immer weniger. Hilfe von staat­li­cher ukrai­ni­scher Seite bekom­men wir keine, im Gegen­teil. Leider gibt es auch in der Polizei Struk­tu­ren, die uns die Arbeit erschwe­ren möchten. Es gibt Men­schen, die die Notlage aus­nut­zen und Geld ver­die­nen möchten, wir aber eva­ku­ie­ren Men­schen kostenlos.

Wir sind vor allem auf Koope­ra­tio­nen mit unseren inter­na­tio­na­len Part­nern, dar­un­ter The Merch Repu­blic aus Berlin, ange­wie­sen – sie finan­zie­ren Fahr­zeuge, Treib­stoff, Repa­ra­tu­ren und machen so die Eva­ku­ie­run­gen über­haupt erst möglich. Daneben haben wir noch zwei weitere stän­dige Partner: den mit dem Zentrum Libe­rale Moderne ver­bun­de­nen Verein Brücke der Hoff­nung und Human Front Aid aus der Schweiz. Durch die Koope­ra­tion mit Brücke der Hoff­nung konnten wir zu Beginn der Groß­in­va­sion bei­spiels­weise Matrat­zen für Geflüch­tete orga­ni­sie­ren und ein großes Kin­der­fest in Odesa mit Preisen und Geschen­ken für 150 geflüch­tete Kinder aus Mariu­pol, Luhansk, Donezk und Cherson ver­an­stal­ten. Kürz­lich trans­por­tier­ten wir zudem mit­hilfe der Brücke der Hoff­nung Feld­bet­ten nach Cherson, damit die Men­schen nach dem Damm­bruch über­haupt schla­fen können.

Mit Human Front Aid haben wir das Projekt „Direct Cash Help“ in die Wege gelei­tet: Men­schen, denen es finan­zi­ell schlecht geht, bekom­men umge­rech­net 50 bis 100 Euro aus­ge­zahlt. Das klingt nicht nach viel, aber für Men­schen, die kein Geld für die Miete oder not­wen­dige Medizin haben, macht das einen wirk­lich großen Unter­schied. Bislang konnten wir so um die 1.000 Fami­lien unterstützen.

Das ist eine effek­tive Hilfe, denn das Geld kommt direkt dort an, wo es gebraucht wird, ohne dass es irgendwo für Logis­tik und Trans­port­kos­ten auf­ge­braucht wird. Unsere kleine Orga­ni­sa­tion erle­digt die Arbeit, die eigent­lich inter­na­tio­nale Insti­tu­tio­nen wie das Rote Kreuz oder das Inter­na­tio­nal Rescue Com­mit­tee machen sollten.

Ins­ge­samt hat Plitsch-o-plitsch seit Beginn der rus­si­schen Groß­in­va­sion im Februar 2022 mit etwa 250.000 Euro Spen­den­gel­dern zehn­tau­sen­den Fami­lien, die am meisten unter dem rus­si­schen Angriffs­krieg zu leiden hatten, helfen können.

YL: Was wün­schen Sie sich von den Men­schen in Deutschland?

Ich werde für immer dankbar sein, dass meine Familie in Deutsch­land Schutz erhal­ten hat und Unter­stüt­zung in schlimms­ten Zeiten. Ich ver­stehe, dass für viele Men­schen in Deutsch­land der Krieg sehr weit weg ist, dass die Infla­tion hoch ist. Aber ich wünsche mir, dass die Bürger Deutsch­lands ver­ste­hen, dass wir Ukrai­ner nicht nur für sich selbst, sondern für grund­le­gende euro­päi­sche Werte und für die Sicher­heit Europas kämpfen.

Wenn die Ukraine den ver­rück­ten Dik­ta­tor Putin nicht auf­ge­hal­ten hätte, wer weiß, wie weit er noch gegan­gen wäre, und ich meine damit auch EU-Länder. Ich wünsche mir, dass die Men­schen das ver­ste­hen, und auch, dass wir drin­gend moderne Waffen brau­chen – kämpfen werden wir selbst. Und natür­lich hoffe ich auf eine Unter­stüt­zung beim Wie­der­auf­bau der Ukraine.

Ich träume auch von unserem Sieg. Und davon, dass nach dem Krieg ein moder­ner, freier, demo­kra­ti­scher ukrai­ni­scher Staat auf der Karte Europas zu finden sein wird, als voll­wer­ti­ges Mit­glied der EU und der NATO.

Portrait von Yelizaveta Landenberger

Yeli­za­veta Lan­den­ber­ger ist wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Berlin sowie freie Jour­na­lis­tin und Übersetzerin.

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