EU-Beitritt der Ukraine: Wie steht es um die nötigen Reformen?
Die Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine zeigt, dass die Ukraine zur europäischen Familie gehört. Jetzt muss die ukrainische Seite eine Reihe von Reformen umsetzen. Den Stand der Reformen und die Forderungen an die EU analysiert Marianna Fakhurdinowa.
Die Verleihung des EU-Kandidatenstatus an die Ukraine im Juni 2022 war nicht nur eine bedeutende Geste der Unterstützung für das ukrainische Volk, sondern auch ein großer Erfolg von Regierung, Parlament, Sachverständigen und einer Zivilgesellschaft, die zu fast 80 Prozent die Mitgliedschaft der Ukraine in der EU befürwortet.
Die Ukraine ist fest entschlossen, den Weg der europäischen Integration weiter zu beschreiten. Doch wie erfolgreich erfüllt sie ihre Verpflichtungen?
Erforderliche Reformen
Nachdem die Ukraine den Kandidatenstatus erhalten hatte, verpflichtete sie sich, sieben von der Europäischen Kommission empfohlene Reformen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, Medien und nationale Minderheiten durchzuführen. Die Umsetzung dieser Empfehlungen ist eine wichtige Voraussetzung für den Übergang zur nächsten Phase der europäischen Integration: die Aufnahme von Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft, in deren Verlauf die Ukraine ihre Rechtsvorschriften in 35 verschiedenen Bereichen denen der EU angleichen muss.
Das Prinzip der Konditionalität
Das Prinzip der Konditionalität, das erfolgreiche Reformen als Gegenleistung für Verhandlungen voraussetzt, ist für die ukrainischen Behörden ein wichtiges Druckmittel für die Akzeptanz wichtiger Reformen. Es wurde bereits früher erfolgreich angewandt, um beispielsweise einen visafreien Grenzverkehr zwischen der Ukraine und der EU zu ermöglichen oder Mittel des IWF bereitzustellen.
Das ukrainische New Europe Center hat zusammen mit anderen politischen Think-Tanks begonnen, die Umsetzung der sieben von der Europäischen Kommission empfohlenen Reformen unabhängig zu überwachen. Nach dem Erhalt des Kandidatenstatus haben ukrainische NGOs bereits zwei Überprüfungen durchgeführt.
Monitoring des Reformprozesses
Um einen genaueren Überblick über den Stand der Reformen in der Ukraine zu erhalten, bewertete das New Europe Center den Fortschritt der Umsetzung auf einer Zehn-Punkte-Skala, die auf den Einschätzungen verschiedener Sachverständiger für die einzelnen Bereiche beruht. Das Ergebnis: Trotz des Krieges und aller damit verbundenen Schwierigkeiten sind Geschwindigkeit und Stand der Reformen angemessen.
Im November 2022 betrug die Gesamtbewertung der Experten 4,7 von 10 möglichen Punkten –nach fünf Monaten Kandidatur. Gleichzeitig wurden in allen Bereichen Fortschritte bei der Umsetzung festgestellt.
EU erkennt Fortschritte bei der Umsetzung der Reformen an
Im Dezember 2022 hat das ukrainische Parlament drei wichtige Gesetze zur europäischen Integration verabschiedet, und die EU hat die Fortschritte der Ukraine bei der Umsetzung der Reformen öffentlich anerkannt.
- Das Gesetz über nationale Minderheiten gewährleistet deren Rechte auf gesetzlicher Ebene.
- Das Mediengesetz sieht eine Harmonisierung der ukrainischen Rechtsvorschriften mit der EU-Richtlinie zu audiovisuellen Medien vor.
Die Verabschiedung dieser beiden Gesetze war das Kernstück der beiden EU-Empfehlungen und wurde von Experten von der EU und aus der Ukraine begrüßt. Für die vollständige Umsetzung muss die Ukraine noch mehrere zusätzliche Rechtsakte erlassen, z. B. ein Gesetz über Fernsehwerbung.
Reform des ukrainischen Verfassungsgerichts noch nicht zufriedenstellend
Das dritte Gesetz – das Gesetz über die Reform des ukrainischen Verfassungsgerichts – ebenfalls im Dezember vom Parlament verabschiedet und vom Präsidenten unterschrieben – wurde von der EU weniger positiv bewertet. Es sieht die Einführung eines Wettbewerbsverfahrens für die Ernennung von Richtern für das Verfassungsgericht vor, um Korruption zu verhindern. In der Anfangsphase wurde der Gesetzentwurf begrüßt. Der in der neuesten Fassung des Gesetzes vorgesehene Mechanismus zur Ernennung von Richtern ist jedoch nicht optimal. Nach Ansicht von Experten und der Venedig-Kommission, die die EU unterstützt, sollte ein siebtes Mitglied in die beratende Expertengruppe aufgenommen werden, die die Kandidaten für das Verfassungsgericht prüft. Derzeit gibt es sechs Mitglieder (drei unabhängige internationale Experten und drei Vertreter der Behörden).
Weichenstellung für das zukünftige Justizwesen in der Ukraine
Neben dem Gesetz über die Reform des ukrainischen Verfassungsgerichts, hat sich die Ukraine auch verpflichtet, neue Mitglieder für den Hohen Justizrat und die Hohe Qualifikationskommission für Richter zu ernennen. Die Reform dieser beiden wichtigsten Organe der ukrainischen Justiz wird darüber entscheiden, wie das ukrainische Justizwesen in den nächsten Jahrzehnten aussehen wird: Der Hohe Justizrat und die Hohe Qualifikationskommission für Richter müssen mindestens 3.000 neue Richter einstellen und die Qualifikation der aktuellen bewerten. Trotz des Krieges bewegt sich die Ukraine auf dieses Ziel zu: Sieben von 21 Stellen im Hohen Justizrat wurden besetzt, und das Auswahlverfahren für die Stellen in der Hohen Qualifikationskommission für Richter geht weiter. Die Kandidaten werden Anfang 2023 bewertet.
Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung
Im Bereich der Korruptionsbekämpfung war die Ernennung von Oleksandr Klymenko zum Leiter der Spezialisierten Antikorruptions-Staatsanwaltschaft eine äußerst positive Nachricht. Die Experten stellen fest, dass die Ukraine seither die Durchführung wirksamer Ermittlungen bei Korruptionsfällen auf höchster Ebene erheblich verbessert hat, insbesondere wurden gegen eine Reihe von Spitzenbeamten Verdachtsanzeigen erstattet. Im nächsten Schritt wird der Posten des NABU-Direktors (Nationales Antikorruptionsbüro der Ukraine) besetzt, das entsprechende Auswahlverfahren wird derzeit vorbereitet: 74 Bewerber wurden zum Auswahlverfahren zugelassen.
Im Dezember hat die Ukraine bereits eine Reihe von Rechtsakten zur Bekämpfung von Geldwäsche verabschiedet, und die Behörden haben die Reform des Strafverfolgungswesens vorangetrieben. Nach Aussagen der Regierung kann die Ukraine die Umsetzung der meisten Reformen Anfang 2023 abschließen.
Zwar ist die ukrainische Expertengemeinschaft bei der zeitlichen Einschätzung der Reformvorhaben vorsichtig, die ehrgeizigen internen Fristen demonstrieren jedoch die Entschlossenheit der ukrainischen Seite und sollen die EU dazu bringen, sich mit der Ukraine im gleichen Tempo zu bewegen.
EU sollte die Ukraine bei der Umsetzung der Reformen unterstützen
Die EU sollte die Ukraine nun nicht nur bewerten, sondern auch bei der Umsetzung der Reformen unterstützen. Doch schon in den ersten Monaten der Kandidatenschaft wurde klar, dass die EU es nach der bahnbrechenden Entscheidung, der Ukraine den Kandidatenstatus zu verleihen, nun nicht mehr eilig hat, den Ambitionen der Ukraine zu folgen.
Insbesondere die Entscheidung der Europäischen Kommission, erst im Herbst 2023 einen Bericht über die Umsetzung der sieben Reformen vorzulegen, war eine unangenehme Überraschung für Kyjiw – wohingegen sich die ukrainische Seite eine ehrgeizige interne Frist bis spätestens Ende 2022 gesetzt hat. Die Argumentation Brüssels war: Mit dem Wintereinbruch hat die finanzielle Unterstützung der Ukraine, die Unterstützung der Energieinfrastruktur und die humanitäre Hilfe für die Bevölkerung oberste Priorität. Unterdessen betonte Kyjiw, dass die europäische Integration trotz dringender Bedürfnisse weiterhin auf der Tagesordnung der bilateralen Beziehungen stehen sollte.
„Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“
Das „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ trifft also auch hier zu, da die Ukraine eine größere Bereitschaft zur Integration zeigte als die EU zur Erweiterung. Die Verzögerung bei der Umsetzung der Reformen in der Ukraine ist teilweise auch auf die EU zurückzuführen. So wartete die Ukraine beispielsweise auf die Beschlüsse der europäischen Seite zu dem Gesetz über nationale Minderheiten und Mediengesetz sehr lange – auf die Entscheidung der Venedig-Kommission zum Anti-Oligarchiegesetz wartet sie immer noch.
Europäische Kommission will Stand der Reformen bald bewerten
Die Ukraine begrüßte die Bereitschaft der Europäischen Kommission, im Frühjahr 2023 eine erste Bewertung der Umsetzung der Reformen nach Verleihung des Kandidatenstatus durchzuführen – was auch Präsident Selenskyj in seiner Rede auf dem EU-Gipfel im Dezember 2022 forderte. Dieser Schritt zeigt, dass die EU bereit ist, sich dem Tempo der Ukraine anzunähern.
Das andere Ziel Kyjiws ist die baldige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen – wobei es sich im Wesentlichen um eine Angleichung der ukrainischen Rechtsvorschriften an das EU-Recht handelt. Ob die EU dem zustimmt, ist jedoch noch unklar. Die Aufnahme von Verhandlungen ist eine politische Entscheidung, die nicht nur von den Fortschritten der Ukraine, sondern auch von der Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten abhängt. In der EU wurden indes Stimmen laut, die fordern, vor der Aufnahme neuer Mitglieder eine interne Reform durchzuführen, um die derzeit für eine Entscheidung nötige Einstimmigkeit durch einen Mehrheitsbeschluss zu ersetzen.
„Lasst uns gleichzeitig reformieren!“
Nach Ansicht der ukrainischen Seite ist dieser Ansatz kontraproduktiv – sie schlägt stattdessen vor: Lasst uns gleichzeitig reformieren! Die Ukraine ist sich der Herausforderungen bewusst und ist bereit für einen in mehrere Etappen unterteilten Beitrittsprozess:
- Eröffnung von Verhandlungspositionen
- Beitritt zum Binnenmarkt und zu den vier Freiheiten
- Mitgliedschaft
Die schrittweise Umsetzung der für alle EU-Mitgliedsstaaten verbindlichen Rechte und Pflichten in der Ukraine muss die EU keineswegs daran hindern, parallel dazu interne Reformen durchzuführen. Äußerst positiv ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag des EU-Rates an die Europäische Kommission, einen Stufenplan auszuarbeiten, um der Ukraine den Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu erleichtern.
Eine demokratische, stabile und prosperierende Ukraine ist auch im Interesse der EU
Der Erfolg der europäischen Integration der Ukraine hängt also nicht nur von den Fortschritten der Ukraine ab – Voraussetzung ist auch die Bereitschaft der EU, flexible und schnelle, zugleich auch faire und leistungsbezogene Entscheidungen über die weiteren Schritte auf dem Weg zur Mitgliedschaft zu treffen.
Die Ukraine hofft auf die Unterstützung und Entschlossenheit der EU – denn eine demokratische, stabile und prosperierende Ukraine ist auch im Interesse der EU.
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