Eine Inves­ti­tion für die inter­na­tio­nale Ordnung und demo­kra­ti­sche Werte

Foto: Imago Images

Der Westen muss in der Ukraine zeigen, dass mili­tä­ri­sche Gewalt nicht stärker ist als die auf Regeln basie­rende, inter­na­tio­nale Ordnung, schreibt Iryna Solenko für die Son­der­aus­gabe „Inter­na­tio­nale Politik“

Am 19. Februar 2022, nur wenige Tage vor dem Über­fall Russ­lands auf die Ukraine, sprach der ukrai­ni­sche Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj auf der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz. Er sagte: „Die Sicher­heits­ar­chi­tek­tur in Europa und in der Welt ist fast zer­stört. Es ist zu spät, über Repa­ra­tu­ren nach­zu­den­ken, es ist an der Zeit, ein neues System auf­zu­bauen.“ Selen­skyj verwies auf die Anne­xion der Krim und die Beset­zung von Teilen des Donbas im Jahr 2014, die nicht zu einer ent­schlos­se­nen Reak­tion der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft geführt hätten. Er erwähnte auch die Unfä­hig­keit der Ver­ein­ten Natio­nen zu handeln, wenn ein Mit­glied des Sicher­heits­rats gegen die Grund­sätze ver­stoße, die die Ver­ein­ten Natio­nen eigent­lich schüt­zen sollten.

Seit dem Ende des Kalten Krieges hatte Russ­land eng mit EU und NATO zusam­men­ge­ar­bei­tet und wurde als Teil der euro­päi­schen Sicher­heits­ar­chi­tek­tur gesehen. Frieden in Europa schien nur zusam­men mit Moskau denkbar. Aus dieser Warte hat die Inva­sion vom Februar 2022 die Reste dieser Vision oder eher: Illu­sion einiger west­li­cher Gesell­schaf­ten zerstört.

Fast ver­häng­nis­vol­ler als die rus­si­sche Aggres­sion ist aus meiner Sicht als Ukrai­ne­rin die Unfä­hig­keit der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft und des Westens, ange­mes­sen darauf zu reagie­ren. Seit dem Ein­marsch in Geor­gien scheint sich der Westen damit abge­fun­den zu haben, dass mili­tä­ri­sche Gewalt stärker ist als die auf Regeln basie­rende inter­na­tio­nale Ordnung. Das nahm Russ­land als Ein­la­dung, neue „rote Linien“ zu testen, die Krim zu annek­tie­ren und Teile des Donbas zu beset­zen. Auch hier war die Reak­tion zu schwach. Viele west­li­che Poli­ti­ker schlu­gen sogar vor, die Ukraine solle die Krim abschrei­ben, und seither wurden immer wieder Karten ver­öf­fent­licht, auf denen die Krim zu Russ­land gehört.

Hinzu kommt, dass sowohl in Geor­gien 2008 als auch in der Ukraine 2014 die west­li­chen Partner bei ihren Ver­su­chen, eine fried­li­che Lösung her­bei­zu­füh­ren, auf der Seite der Starken standen – obgleich die Starken im Unrecht waren–, indem sie die Schwa­chen zu Zuge­ständ­nis­sen dräng­ten. Alle schie­nen sich mit der Rea­li­tät abge­fun­den zu haben, in der Macht Recht ist. Die Inva­sion von 2022 wurde durch eine solche Auf­fas­sung begünstigt.

Heute macht Russ­lands Armee in der Ukraine ganze Städte dem Erd­bo­den gleich; Zehn­tau­sende Zivi­lis­ten wurden getötet, ver­ge­wal­tigt, gefol­tert, depor­tiert; die See­han­dels­wege wurden blo­ckiert, was zu einer welt­wei­ten Nah­rungs­mit­tel­krise führen dürfte. Der Westen hilft Kyjiw zwar mit Waffen, mit Sank­tio­nen gegen Moskau, mit huma­ni­tä­rer und poli­ti­scher Unter­stüt­zung. Doch das reicht nicht aus, um Wla­di­mir Putin zu stoppen und weitere Ver­luste zu verhindern.

Russ­lands Aggres­sion und seine grau­sa­men Kriegs­ver­bre­chen hätten ein letzter Weckruf für die inter­na­tio­nale Gemein­schaft sein müssen, dass die inter­na­tio­nale Ordnung, die auf der Achtung der Sou­ve­rä­ni­tät und ter­ri­to­ria­len Inte­gri­tät von Staaten und der fried­li­chen Bei­le­gung von Kon­flik­ten beruht, nicht funk­tio­niert. Mehr noch: Die inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen, die zur Wahrung dieser Grund­sätze geschaf­fen wurden, schie­nen hilflos. Selbst die huma­ni­tä­ren Orga­ni­sa­tio­nen waren auf­grund man­geln­der Sicher­heit nicht in der Lage, bei der Eva­ku­ie­rung der Zivil­be­völ­ke­rung aus Mariu­pol zu helfen.

Für die unmit­tel­bare Zukunft ist es wichtig, Russ­land zu zwingen, sich aus der Ukraine zurück­zu­zie­hen. Es gilt, einen neuen Prä­ze­denz­fall zu schaf­fen, bei dem der Westen alle zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mittel ein­setzt, um seine Werte und Grund­sätze zu schüt­zen. Indem er der Ukraine hilft, den Krieg zu gewin­nen – das Kri­te­rium wäre die Her­stel­lung ihrer Sou­ve­rä­ni­tät inner­halb der inter­na­tio­nal aner­kann­ten Grenzen –, schützt der Westen im wei­te­ren Sinne das künf­tige System, das das Ver­hal­ten der Staaten bestim­men sollte.

Denn Russ­land hat sei­ner­seits einen gefähr­li­chen Prä­ze­denz­fall geschaf­fen. Erstens: Die Regeln, denen man zuge­stimmt hat, können ver­letzt werden, Ver­ein­ba­run­gen bedeu­ten nichts. Zwei­tens kann sich mili­tä­ri­sche Gewalt durch­set­zen, und die Regeln können die Schwä­che­ren nicht schüt­zen. Jetzt ist es am Westen, den Prä­ze­denz­fall zu schaf­fen, dass ein solches Ver­hal­ten nicht tole­riert werden kann und, noch wich­ti­ger, gestoppt werden muss. Die Schaf­fung eines solchen Prä­ze­denz­falls wird auch eine Inves­ti­tion in die welt­weite Ver­brei­tung der Demo­kra­tie sein. Seit einigen Jahren zeigen inter­na­tio­nale Indizes (BTI, Freedom in the World), dass die Zahl der Auto­kra­tien im Ver­gleich zu den Demo­kra­tien wächst. Wenn dieser Trend umge­kehrt werden soll, ist es ent­schei­dend, dass die Ukraine den Krieg gewinnt.

Län­ger­fris­tig muss ein wirk­sa­mer Durch­set­zungs­me­cha­nis­mus, der auf Regeln basie­ren­den Ordnung ent­wi­ckelt werden, zumin­dest für die Länder, die diesen Ansatz teilen. Aus diesem Grund hat die Ukraine in der Anfangs­phase des Krieges über inter­na­tio­nale Sicher­heits­ga­ran­tien gespro­chen. Nun scheint man zur Ein­sicht gelangt zu sein, dass die Ukraine sich nur auf sich selbst ver­las­sen und für ihre Sicher­heit sorgen kann, wenn sie aus­rei­chend bewaff­net ist und über ein wirk­sa­mes Luft­ab­wehr­sys­tem verfügt.

Darüber hinaus wäre eine Erwei­te­rung von EU und NATO unter Ein­schluss der Ukraine (sofern die Bedin­gun­gen erfüllt sind), eine wich­tige Inves­ti­tion in Europas Sicher­heit. Bislang scheint es diesen Bünd­nis­sen gelun­gen zu sein, den Frieden inner­halb ihrer Grenzen zu fördern und Aggres­sio­nen von außen weit­ge­hend abzu­weh­ren. Die Erwei­te­rung ihres Zustän­dig­keits­be­reichs auf die Ukraine, den West­bal­kan, Moldau und Geor­gien würde den Kon­ti­nent siche­rer machen. Damit Russ­land dazu­ge­hö­ren kann, muss es sich innen­po­li­tisch ver­än­dern, was in abseh­ba­rer Zeit nicht zu erwar­ten ist. Bis dahin muss es wirksam abge­schreckt werden.

Dieser Artikel erschien zunächst in der Son­der­aus­gabe des Maga­zins „Inter­na­tio­nale Politik“ (Ausgabe 05/​​2022).

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Portrait von Iryna Solonenko

Dr. Iryna Solo­nenko ist Pro­gramm­di­rek­to­rin der Ukraine-Pro­jekte beim Zentrum Libe­rale Moderne.

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