Ausgang der ukrainischen Lokalwahlen: Eine Wahlschlappe für Selenskyj?
Die ukrainischen Lokalwahlen enden mit einem Sieg der Lokaleliten. Die Präsidentenpartei Sluha Narodu/ Diener des Volkes und andere nationale Parteien erleiden Rückschläge. Damit wird die ukrainische Politik fragmentierter. Eine erste Analyse von Mattia Nelles & Julia Eichhofer.
Gewinner der ukrainischen Lokalwahlen vom 25. Oktober sind durch die Bank weg amtierende Bürgermeister und die Lokaleliten. Wegen des geänderten Wahlrechts und der Pandemie verläuft die Stimmenauszählung langsamer: in vielen Städten liegen nur Exit-Polls vor, deren Ergebnisse grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen sind. Dennoch deuten sich bereits zwei Tage nach der Wahl klare Tendenzen an. Seit 2015 konnten die Lokaleliten in vielen Orten ihre Ämter und Beliebtheit behaupten. Die Wechselstimmung, die 2019 noch das Land fest im Griff hatte und Selenskyj haushohe Siege bescherte, scheint gänzlich verflogen.
Mit fortschreitender Dezentralisierungsreform und Zugewinn von Geldern und Befugnissen waren die Lokalwahlen die wohl wichtigsten Wahlen seit Langem. Über 50 Parlamentsabgeordnete kandidierten auf lokalen Listen, selbst der Gesundheitsminister Maksym Stepanow trat in Odesa an. Dennoch lag die Wahlbeteiligung laut der Zentralen Wahlkommission auf einem historischen Tief – bei lediglich 36,88 Prozent. Das sind fast 10 Prozent weniger als bei den letzten Lokalwahlen 2015, der letzte Tiefstwert. Nicht nur die Pandemie, sondern auch die zunehmende Ernüchterung der Bevölkerung gegenüber der nationalen Politik haben zu diesem Rückgang geführt.
Triumph der Lokaleliten
In den zehn größten Städten setzten sich amtierende Bürgermeister zum Teil bereits in der ersten Wahlrunde gegen ihre Herausforderer durch. In Charkiw, Saporischschja, Mariupol und Winnyzja gewannen die Amtsinhaber sogar in der ersten Runde. Der umstrittene Charkiwer Bürgermeister Gennadij Kernes gewann mit über 60 Prozent in der ersten Runde, obwohl er sich seit Wochen in Behandlung in der Berliner Charité befindet.
In fast allen Stichwahlen gehen die Bürgermeister als Favoriten in die zweite Wahlrunde, die in zwei bis vier Wochen stattfinden wird.
In Kyjiw etwa muss Witalij Klitschko höchstwahrscheinlich gegen Oleg Popow (Opposition Plattform für das Leben), einen ehemaligen Minister unter Janukowytsch, in die zweite Runde. Es gilt als nahezu sicher, dass sich Klitschko gegen Popow, der die Regionalverwaltung Kyjiws während des Maidans führte, durchsetzt. Obwohl ein Bürgermeister mit Janukowytsch Vergangenheit in Kyjiw schlicht nicht mehrheitsfähig ist, kann sein möglicher Einzug in die Stichwahl als ein Weckruf für die pro-europäischen Parteien gesehen werden.
Überraschend schlecht mit lediglich 34 Prozent schloss Hennadij Truchanow in Odesa ab. Der mächtige und mehrfach wegen Korruption angeklagte Bürgermeister lag in einigen Umfragen vor den Wahlen bei über 50 Prozent. In der Stichwahl trifft der favorisierte Truchanow auf Mykola Skoryk einen Kandidaten der pro-russischen Partei Für das Leben.
Sluha Narodu enttäuscht
In den 10 größten Städten der Ukraine schaffte es nur in Krywyj Rih, der Heimatstadt des Präsidenten, ein Sluha Narodu Kandidat in die Stichwahl. Auch in der Kleinstadt Uschhorod in Sakarpattja/Transkarpatien kommt ein Sluha Kandidat in die zweite Runde. Doch in den meisten Stadträten enttäuschte Sluha Narodu. In den 10 größten Städten schafft es die Partei mit Ausnahme von Lwiw zwar in alle Stadträte. Aber in die sechs wichtigsten Stadträte (Kyjiw, Odesa, Dnipro, Charkiw, Mykolajiw und Winnyzja) kommt sie mit Ergebnissen zwischen 10 und 20 Prozent höchstwahrscheinlich nur als dritte, in Mariupol mit knapp 5 Prozent lediglich als viertstärkste Kraft in die Gemeinderäte.
Nach Aussagen des Sluha Narodu Parteivorsitzenden Alexander Kornijenko bei einem Pressebriefing nach der Wahl wurde Sluha bei fast 50 Prozent der ausgezählten Stimmen die stärkste Kraft in den Oblast Parlamenten mit ca. 20 Prozent. Die Stimmen für Rajonräte (ca. 17 Prozent) und Hromada Räte (ca. 15 Prozent) fallen wiederum bescheiden aus. Die Ergebnisse von Sluha gleichen in etwa denen vom Block Petro Poroshenko aus dem Jahr 2015. Ein Jahr nach den Parlamentswahlen, bei denen unbekannte Kandidaten von Sluha Narodu ein großes Vertrauen genossen und die Partei 43,16% der Stimmen erlangte, reicht heute alleine das Label der Präsidentenpartei offensichtlich nicht mehr aus.
Populistische Maßnahmen wirken kaum noch
Das schlechte Abschneiden der Präsidentenpartei Sluha Narodu bei den Bürgermeisterwahlen war grundsätzlich zu erwarten. Die Partei hatte es seit ihrem Wahltriumph bei den Parlamentswahlen im August 2019 versäumt, umfassende Lokalstrukturen aufzubauen. Sluha Narodu vermochte es nicht, beliebte Kandidaten aus den Regionen für sich zu gewinnen bzw. neue aufzubauen. Gleichzeitig verweigerte die Partei frühzeitig mit Ausnahme von Dnipro und Krywyj Rih eine Kooperation mit den Lokaleliten.
Die Partei des Präsidenten konnte selbst von den stabilen Beliebtheit des Präsidenten selbst, die nach wie vor bei 30 Prozent liegt, nicht profitieren. Das obwohl Selenskyj mehrfach medienwirksam im Wahlkampf die Regionen bereiste, effektvoll neue Straßen und Infrastrukturprojekte eröffnete und Milliarden Hrywnja aus dem Corona-Fonds für Straßenbau im Rahmen seines “großen Bauprogramms” investierte. Selbst seine hoch umstrittene Wählerbefragung, die zahlreiche Beobachter in Kyjiw als ein populistisches Manöver verurteilten, konnte seine Anhänger nicht mobilisieren. Bis zum Wahltag war unklar, wer die Kosten für die aufwendige “Volksbefragung” übernahm, welches Institut die “Umfrage” überhaupt durchführte und wie die Stimmen schließlich ausgezählt wurden.
Fragmentierung der Politik
Die politische Landschaft der Ukraine wird nach den Wahlergebnissen zunehmend kleinteiliger und vielschichtiger. Die vielen in den Stadträten vertretenen Fraktionen verhindern einerseits eine Monopolisierung der Macht auf lokaler Ebene und gleichzeitig wirken sie einer Machtkonzentration in Kyjiw entgegen.
Alle im Parlament vertretenen Parteien gehen im Wesentlichen geschwächt aus den Lokalwahlen hervor. Selbst Julia Tymoschenkos Vaterlandspartei, die als einzige aller Parteien über jahrelange Strukturen in den Regionen verfügt, musste im Vergleich zu 2015 herbe Verluste hinnehmen. Auch Poroschenkos Partei, die mit 30 Prozent besonders gut im Stadtrat von Lwiw abschnitt, erlitt landesweit Verluste auf Stadtratsebene und konnte kein einziges Bürgermeisteramt erringen. Pro-russische Kräfte, wie die Oppositionspartei für das Leben und die neue Partei des umstrittenen pro-russischen Bloggers Sharij bleiben stärker im Süden und Osten des Landes.
All das deutet auf einen allgemeinen Politikverdruss der Ukrainer auf ihre nationalen Parteien hin, der sich in Umfragen seit der Euphorie des letzten Jahres immer wieder zeigte. In vielen Stadträten müssen die herrschenden Lokaleliten mit den neuen Machtverhältnissen umgehen.
Die Schwächung der bestehenden nationalen Parteien auf lokaler Ebene eröffnet die Möglichkeit für neue, derzeit noch lokale Parteien.
So könnte beispielsweise die Partei Proposition, auch als Bürgermeister-Partei bekannt, in den kommenden Jahren die wachsende Politikverdrossenheit nutzen und als nationale Partei aufsteigen.
Seit Beginn der Corona Pandemie stand die Zentralregierung mit einigen Bürgermeistern im Konflikt um die Corona-Maßnahmen. Bei steigenden Fallzahlen und drohenden Lockdowns droht diese Spannung wieder zu wachsen. Die notwendige Koalitionsbildung in den Stadträten könnte diese Spannungen entweder verstärken oder vermindern, je nachdem ob Sluha Narodu in Koalitionen einbezogen wird.
In den Wochen nach den Wahlen wird sich zudem zeigen, wie sich Sluha Narodu mit seiner fragilen Parlamentsmehrheit zur Dezentralisierungsreform verhält. Die laufende Reform, die der lokalen Ebene deutlich mehr Befugnisse und Finanzströme ermöglicht, muss noch dieses Jahr finalisiert werden. Dabei stehen Änderungen der Verfassung an. Es wird spannend zu beobachten sein, ob und wie Sluha Narodu geneigt sein wird, den herrschenden Lokaleliten Befugnisse zu sichern, oder ob die Zentralregierung sogar versucht Teile der erfolgreichen Reform zurückzudrehen. Letzteres würde zu einem Konflikt mit der EU und Deutschland führen, die die Reform maßgeblich unterstützen.
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