Die vier häufigsten Mythen über die ukrainische Sprache
Ein Ausschnitt des dreisprachigen Straßenwörterbuches in Frankfurt (Oder).
Welche Fehlinformationen und imperialistischen Narrative über die ukrainische Sprache kursieren in Deutschland? Die Sprachwissenschaftlerinnen Nadiya Kiss, Dariia Orobchuk, Liudmyla Pidkuimukha und Lesya Skintey nehmen die vier häufigsten Mythen unter die Lupe.
Über die ukrainische Sprache ist in Deutschland wenig bekannt, es kursieren jedoch zahlreiche durch russische Propaganda und imperialistische Narrative geprägte Bilder und Fehlinformationen, deren toxischer Einfluss die deutschen Medien und öffentlichen Diskussionen erreicht hat. Die vier häufigsten Mythen über die ukrainische Sprache und Sprachenpolitik werden in diesem Beitrag genauer betrachtet.
Mythos 1: Diskriminierende Sprachenpolitik in der Ukraine?
In der russischen Propaganda wird behauptet, dass die ukrainische Regierung eine radikal nationalistische Politik verfolge, ausschließlich die Verwendung der ukrainischen Sprache fördere, sprachliche Minderheiten diskriminiere und insbesondere die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung verletze. Die Tätigkeit der ukrainischen Sprachinstitutionen wird in diesem Zusammenhang als „faschistisch“ bezeichnet.
Europäische Charta der Minderheiten- und Regionalsprachen
Die Ukraine schafft jedoch heutzutage Bedingungen für die freie Entwicklung und Erhaltung der Sprachen nationaler Minderheiten sowie indigener Völker. Bereits im Jahr 2003 ratifizierte die Ukraine die Europäische Charta der Minderheiten- oder Regionalsprachen. Die damalige prorussische Regierung nutzte diese Charta als Instrument zur Förderung des Russischen, was später vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt wurde. Die Russische Föderation, die die Sprachenpolitik der Ukraine gegenüber nationalen Minderheiten systematisch und laut kritisiert, hat die Charta trotz zahlreicher Ankündigungen nicht ratifiziert.
Selbstbestimmung der indigenen Völker auf der Krim
Im Jahr 2021 verabschiedete die Ukraine ein Gesetz zur Stärkung der Selbstbestimmung der auf dem Gebiet der besetzten Halbinsel Krim lebenden indigenen Völker – Krimtataren, Karäer und Krimtschaken – und im Jahr 2022 eine Strategie für die Entwicklung der krimtatarischen Sprache. Darüber hinaus wurde der Gesetzentwurf „Über die nationalen Minderheiten (Gemeinschaften) der Ukraine“ auf dem Webportal des Parlaments veröffentlicht und von Journalist:innen, Sprach- und Bildungsexpert:innen sowie Vertreter:innen nationaler Minderheiten aktiv diskutiert und konstruktiv kritisiert. Am 13. Dezember 2022 wurde dieses Gesetz vom Parlament verabschiedet. So entstehen die neuen ukrainischen Sprachgesetze in einem breiten gesellschaftlichen Dialog.
Die Sprachenpolitik der Ukraine ist in der Verfassung von 1996 festgehalten. Wie in anderen europäischen Staaten auch, gilt in der Ukraine neben dem Schutz sprachlicher Minderheiten das Leitbild der Einsprachigkeit. Die Politik der offiziellen Einsprachigkeit der Ukraine reguliert das Gesetz „Über die Gewährleistung des Funktionierens der ukrainischen Sprache als Staatssprache“ von 2019, das die Verwendung des Ukrainischen in der Verwaltung, im Bildungsbereich, in den Medien und im Dienstleistungssektor vorsieht. Laut dem Gesetz haben Bürger:innen in diesen Bereichen das Recht auf Informationen und Dienstleistungen auf Ukrainisch. Mit Sprachenfragen befassen sich neu geschaffene Institutionen: die Nationale Kommission für Standards der Amtssprache und ein Ombudsmann für den Schutz der Staatssprache. Ähnliche Einrichtungen gibt es in einer Reihe von europäischen Ländern, zum Beispiel die Sprachinspektion in Estland, das staatliche Sprachenzentrum in Lettland, die Französische Akademie, die Niederländische Sprachenunion und andere.
2016/17 traten in der Ukraine Gesetze über Sprachquoten in Rundfunk und Fernsehen in Kraft. Demnach müssen mindestens 25 Prozent der im Radio gespielten Lieder und mindestens 75 Prozent der Beiträge in landesweit ausstrahlenden Fernsehsendern auf Ukrainisch sein. Sprachquoten in Rundfunk und Fernsehen existieren jedoch nicht nur in der Ukraine. Auch andere Länder, wie zum Beispiel Frankreich, setzen auf Sprachquoten.
Mythos 2: Ist die ukrainische Sprache ein russischer Dialekt?
Ukrainisch ist kein Dialekt des Russischen. Der Mythos vom russischen Dialekt – im Russischen Reich und in der Sowjetunion aktiv gefördert – wurde von der Wissenschaft längst widerlegt. Das Ukrainische stammt direkt aus dem Urslawischen, wie man zum Beispiel in „A historical phonology of the Ukrainian language“ des berühmten Slawisten Jurij Scheweljow aus dem Jahr 1979 oder beim renommierten Linguisten Kostjantyn Tyschtschenko nachlesen kann. In Bezug auf den Wortschatz ist die ukrainische Sprache dem Belarussischen am nächsten (84 Prozent gemeinsamer Wortschatz); danach folgen Polnisch (70 Prozent) und Slowakisch (68 Prozent) – und erst an vierter Stelle Russisch (62 Prozent), wie Tyschtschenko 2010 ausführte.
Erzwungene Assimilierung des Ukrainischen
Durch Verbote und gezielte Eingriffe ins Sprachsystem der ukrainischen Sprache von den Dreißiger- bis Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurde die Sprache manipuliert und assimiliert. Zum Beispiel wurden von der russischen Sprache weit entfernte ukrainische Wörter aus lexikografischen Werken und Texten entfernt und ähnliche Wörter an die russischen angepasst: Das ukrainische „реченець“ (Frist) wurde durch „строк“ (russisch „cрок“) ersetzt, ukrainisch „лялька“ (Puppe) durch „кукла“ (russisch „кукла“) und ukrainisch „перемовини“ (Verhandlungen) durch „переговори“ (russisch „переговоры“). Das Wort „краватка“ (Krawatte) wurde als Polonismus identifiziert und gestrichen. Sogar ein Buchstabe – der Buchstabe „Ґ“, den es im Russischen nicht gibt – wurde aus dem ukrainischen Alphabet entfernt. Auf diese Art und Weise wurde die lexikalische Vielfalt der ukrainischen Sprache zerstört; das Ukrainische und das Russische wurden künstlich angeglichen. In diesem Zusammenhang bezeichnete Jurij Scheweljow ukrainisch-russische Wörterbücher, die in den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurden, als „russisch-russische“ Werke.
Mythos 3: Sprechen die meisten Ukrainer:innen Russisch?
Die Sowjetzeit trug auch zur Entstehung eines anderen weit verbreiteten Mythos bei, nämlich, dass im Süden und Osten der Ukraine schon immer Russisch gesprochen werde. Es wird als ein natürlicher Zustand präsentiert, dass der Prozentsatz der Russischmuttersprachler:innen in diesen Regionen heute hoch ist. Tatsächlich handelt es sich dabei um das Ergebnis einer umfassenden Russifizierung, die in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts begann, insbesondere in den Bereichen Bildung und Wissenschaft. Die Bolschewiki reduzierten die Zahl der ukrainischsprachigen Publikationen, das Ukrainische wurde schrittweise aus allen Lebensbereichen verdrängt, Ukrainischsprachigen wurde der Zugang zu höheren Positionen verwehrt.
Auch die These, die Mehrheit aller Ukrainer:innen spreche überwiegend Russisch, stellt eine Manipulation seitens Russlands dar. Die russische Führung versuchte, das verbrecherische Vorgehen in der Ukraine unter dem Deckmantel des „Schutzes der russischsprachigen Bevölkerung“ zu legitimieren. Seit 2014 ist eine stärkere Tendenz zur Verwendung der ukrainischen Sprache zu beobachten. Mit Beginn der umfassenden Invasion im Februar 2022 veränderte sich die Situation noch stärker zugunsten des Ukrainischen. So gaben laut einer von der soziologischen Forschungsgruppe „Rating“ im August dieses Jahres durchgeführten Umfrage 76 Prozent Ukrainisch und nur 19 Prozent Russisch als ihre Muttersprache an (in beide Gruppen sind Zweisprachige, die beide Sprachen verwenden, mit eingeschlossen). In den letzten sechs Monaten ist der Prozentsatz derjenigen, die regelmäßig Ukrainisch sprechen, auf 64 Prozent gestiegen. Die Zahl derjenigen, die zuhause häufiger Ukrainisch (als Russisch) sprechen, nimmt weiter zu. Insgesamt haben 41 Prozent der russischsprachigen und zweisprachigen Personen seit Beginn des Krieges begonnen, dauerhaft oder häufiger Ukrainisch zu sprechen.
Sprache als einigendes Symbol
Auch eine Geflüchtete in Deutschland, die ursprünglich aus einem Ort in der Region Luhansk stammt und zweisprachig ist, berichtet: „Dort war die Umgebung überwiegend russischsprachig, aber vor dem Krieg begann sich die Sprachsituation zu verbessern: Zum Beispiel hörte man Ukrainisch auch von Kassierer:innen in Supermärkten und von Jugendlichen auf der Straße. Alles wurde immer besser – und dann ging es los [der Krieg, Anmerkung der Redaktion]. Es ist, als hätte man uns einfach gekappt. [als Teil der Entwicklung hin zum Ukrainischen, Anmerkung der Redaktion]“ Eine deutliche Tendenz zum Sprachwechsel vom Russischen zum Ukrainischen zeigt sich auch im aktuellen medialen Diskurs. Die ukrainische Sprache wird von Ukrainer*innen zunehmend als Mittel der Abgrenzung von Russland und der „russischen Welt“, als Identitätsmerkmal, Waffe, einigendes Symbol, schützende Festung und als entscheidendes Element für die Existenz des ukrainischen Volkes und der ukrainischen Nation gesehen.
Mythos 4: Sprechen alle ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland Russisch?
Die oben dargestellten Entwicklungen legen nahe, dass die Mehrheit der Geflüchteten, die in Deutschland ankommen, ukrainischsprachig oder zweisprachig sind. Viele, die vor der Flucht überwiegend Russisch oder beide Sprachen gesprochen haben, befinden sich darüber hinaus in einem Transformationsprozess, der durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sprachgebrauch und den Einstellungen zur Sprache geprägt ist und häufig eine Abkehr von der russischen Sprache nach sich zieht.
Dieser Wandel findet bei einer Flucht im jeweiligen Aufnahmeland statt und ist in die dortigen sprachlichen Gegebenheiten eingebettet. Als Geflüchtete:r passt man sich für die bessere Verständigung an den Sprachgebrauch des Aufnahmelandes an und kommuniziert – je nach vorhandenen Kenntnissen – auf Englisch, Deutsch oder in einer anderen Sprache. In Deutschland sind russischsprachige Ressourcen wie Infoblätter, Flyer, Beratungsdienste oder Dolmetscher:innendienstleistungen aufgrund der beschriebenen historischen Entwicklungen weiter verbreitet als ukrainischsprachige. Diese Tatsache zwingt geflüchtete Personen in Zeiten des Angriffskrieges Russlands, Russisch zu verwenden, selbst wenn sie diese Sprache nie zuvor gesprochen haben. Eine Geflüchtete berichtet beispielsweise, dass ihr eine russischsprachige Dolmetscherin zur Verfügung gestellt wurde und sie sich bei der Beratung gezwungen sah, Russisch zu sprechen: „Ich habe ihr [der Dolmetscherin, Anmerkung der Redaktion] gesagt, dass es für mich schmerzhaft ist, Russisch zu sprechen, und habe mit der Beraterin überwiegend Englisch gesprochen.“ Hier wäre ein sensibler Umgang mit der Wahl der Sprache(n), zum Beispiel durch die Frage „In welcher Sprache wünschen Sie sich eine Beratung/Information?“, und die Schaffung eines entsprechenden Angebots wünschenswert, um mögliche Traumatisierungen zu vermeiden. Das betrifft im Übrigen nicht nur ukrainische Geflüchtete.
Wahrnehmung des Ukrainischen durch eine russische Brille
Die ukrainische Sprache wird in Deutschland häufig durch eine russische Brille wahrgenommen. Das spiegelt sich zum Beispiel in der Transkription von Ortsbezeichnungen, die nicht aus dem Ukrainischen, sondern aus dem Russischen übertragen werden, zum Beispiel „Charkow“ (russisch) statt „Charkiw“ (ukrainisch), Dnjepr (russisch) statt Dnipro (ukrainisch), Kiew (russisch) statt Kyjiw (ukrainisch).
Auch wenn der Anlass zur Entdeckung des Ukrainischen in Deutschland ein bitterer ist – die ukrainische Sprache ist seit diesem Jahr ein sichtbarer Teil der sprachlichen Vielfalt in Deutschland. Sie rückt zunehmend ins Interesse der Forschung, Bildungspolitik und Gesellschaft. Hier gibt es noch sehr viel übereinander zu entdecken.
Autorinnen
Dr. Nadiya Kiss ist Soziolinguistin und Slawistin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihr Forschungsschwerpunkte liegen auf Sprachpolitik und nationalen Minderheiten in der heutigen Ukraine.
Dr. Dariia Orobchuk ist Sprachwissenschaftlerin und Didaktikerin mit dem Schwerpunkt Deutsch als Fremdsprache an der Stiftung Universität Hildesheim.
Dr. Liudmyla Pidkuimukha ist Soziolinguistin und Postdoktorandin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu ihren Forschungsinteressen gehören Sprachpolitik und Sprachideologien in der Ukraine und Russland.
Dr. Lesya Skintey ist Sprachwissenschaftlerin/Germanistin und als Postdoc am Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mehrsprachigkeit, Sprachbildung und Deutsch als Fremd- und Zweitsprache.
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